Behan: Richards Korkbein, Südthür. Staatstheater Meiningen

Es handelt sich hier um ein nachgelassenes Stückfragment, 1960 begonnen, 1972 im Rahmen der Dubliner Festspiele erstmals in einer vom Regisseur Alan Simpson bearbeiteten und ergänzten Fassung zur Aufführung gebracht. In den siebziger Jahren spielte es sich in Deutschland nach der Erstaufführung in Frankfurt am Main angeblich von allein. Es ist, wie es gedruckt vorliegt in der Übertragung, auf die auch das Meininger Theater, Regie Matthias Kniesbeck, zurückgreift, extrem unausgeglichen strukturiert. Einem sehr langen ersten folgt ein winziger zweiter Akt, ein dritter von gut fünfzehn Druckseiten führt zum zufälligen Finale. Die erste Schwierigkeit, die der Text aufwirft, besteht darin: Warum heißt das Stück, wie es heißt? Denn weder ein Richard noch sein Korkbein spielen eine Rolle im Stück, nur ganz kurz im langen ersten Akt in einer Erinnerung der „zweiten Nutte“.

Reichlich fünfzig Jahre nach der Entstehung des Textes kann man sich mit einiger Phantasie vorstellen, dass das im sehr katholischen Irland vielleicht tatsächlich eine gewisse Brisanz hatte, manche Flapsigkeit mag damals provoziert haben, mehr sogar womöglich alles, was man unter den sehr weiten Mantel des Begriffs Blasphemie ordnen könnte. Die deutsche Fassung von Astrid Windorf und Jürgen Fischer, in meiner Buchausgabe hieß Astrid auch noch Fischer, weckt in mir den schwer abweislichen Verdacht, als ob hier 68er Zeitgeist nachträglich gepropft wurde, denn diese öden Phrasen gegen Sozialdemokraten und Faschisten, es fehlen nur die Spießer, die da schon aus der Mode rutschten, weil das alltägliche Schimpfwort Faschist viel kräftiger schien als das eher spitzlippige Spießer, die locken heute nur noch Veteranen der Pflasterstrand-Avantgarde hinterm Ofen vor. Dieses Geschwafel, das in salbadernden K-Gruppen-Debatten den humorlosen Diskurs bestimmte, ist heute heutig gesprochen megaout.

Die Behauptung, dass in einem amerikanischen Film nackte Huren vor heidnischen Priestern tanzten (im dritten Akt) ist nicht einmal lächerlich, man denke sich nur die alljährlich zu Ostern aufgeführten Bibel-Filme der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre: was da Orgie sein sollte oder Tanz ums goldenen Kalb, waren durchweg Gipfelleistungen filmischer Verklemmung, die den Mainstream des US-Films bis heute dominiert. Was aber, um alles in der Welt, führt uns dieses komische Fragment denn nun vor? Nutten und falsche Blinde treffen auf einem Friedhof zusammen, auf dem sich Angehörige der Blauhemden versammeln wollen. Die Nutten haben sicherheitshalber ihre Matratzen bei sich, falls sich auf einem flachen Grabstein doch eine Verdienstmöglichkeit ergeben sollte. Einer der falschen Blinden wird permanent Held genannt, und jedesmal verstößt der deutsche Text gegen die Regeln der Grammatik, wenn der Held einmal nicht im Nominativ vorkommt. Vielleicht war das ja einst ein revolutionärer Angriff auf den spießigen Sprachvollzug mit Müll wie Dativ und Akkusativ.
  
Der Held jedenfalls stand im Spanienkrieg auf Seiten der Republik, die Blauhemden waren bei Franco. Wirklich vertiefen will der Autor das aber nicht, er will auch all die Plänkeleien zwischen Katholizismus und Protestantismus, zwischen Irland und England,  nicht wirklich vertiefen. Es rauscht im möglicherweise einst witzigen Dialog heute fast höhepunktlos an einem vorbei. Na gut, sagt man da, ganz hübsch, sagt man dort. Aber hätte man es nie gehört, wäre es weniger als kein Verlust. Es ist ein Art Milieustück. Es zeigt das Milieu, das schon dem jungen Brecht sehr imponierte, ohne dass er je das Bedürfnis hatte, dazu zu gehören. Und vor Brecht anderen. Es war einfach lange durchaus schick, Nutten auf die Bühne zu bringen, nachdem ewig und drei Tage eine klassische Dramaturgie forderte, große Konflikte möglichst an Könige, auf alle Fälle aber nicht an Schuhmacher oder Weißnäherinnen zu binden. Und jetzt Nutten auf dem Friedhof, Asche soll verstreut werden, wiewohl der reine Glaube die Feuerbestattung eher verbietet.

Der Held und der andere falsche Blinde, der Cronin heißt und schließlich von einem Revolverschuss des Kumpels versehentlich getroffen wird und stirbt, ergehen sich vor allem in Schlaumeiereien, Sprüchen. Cronin ist der zynische Intellektuelle, der sich dazu bekennt, von regulärer Arbeit Pickel zu bekommen (im übertragenen Sinne) und sich deshalb keinen echten Arbeitssuchenden nennt. Das Stück hätte eher aufhören, es hätte auch noch ein Weilchen weiter laufen können, eine spießige Sache wie einen dramatischen Bogen gibt es nicht. Vielleicht ist es doch sehr viel mehr verräterisch als alles andere in der Buchausgabe der Quarthefte des Klaus Wagenbach Verlags, dass das Nachwort immer sehr schnell über „Richards Korkbein“ hinweggeht. Dass die beiden anderen Stücke deutlich stärker sind, ist so offensichtlich, dass man jeder Regie, die ausgerechnet das schwächste der drei zur Aufführung auswählt, schon einmal Mut bescheinigen muss.

Nun zur Premiere in den Meininger Kammerspielen. Die erklärt alle meine Vorurteile für null und nichtig. Das spielt sich tatsächlich wie von allein. Die Darsteller finden sich in ihre Rollen und werden besser und besser. Selbst die, ich nenne keine Namen, denen meine vorsorgliche Skepsis galt, sie glänzten wenigstens phasenweise. Wobei die Phasen ganz schön oft und lange kamen. Von den brisanten Stellen sind, soweit ich es verfolgen konnte, lediglich zwei dem Strich zum Opfer gefallen, Sozialdemokraten kamen keine vor und die Attacke auf den Zusammenhang von Katholizismus und Kinderreichtum entfiel ebenfalls. Dafür strafte die gesamte runde Aufführung mit viel Szenenapplaus zwischendurch allen deutschen Shitstorm um Sexismus Lügen. Immer wenn es um Sex ging, je deutlicher, je mehr, dominierte vollkommen unüberhörbar weibliches Gelächter fast bis zum Kreischen. Bei Alkohol-Stellen lachten eher Männer, die allerdings insgesamt deutlich seltener lachten.

Ich sah dieser Tage per Zapping eine Band, die vor durchaus bürgerlichem Publikum spielte, echte Honoratiorinnen saßen in der ersten Reihe mit ziemlich leuchtenden Augen und die Band sang, während sich alle zum Sprechgesang bewegten wie verhaltensgestörte rumänische Tanzbären: Klamotten runter, wir wollen jetzt ficken. Nur ganz hart gesottene Lokalredakteure streichen dergleichen Vokabular noch aus Artikeln, im wirklichen Leben, also auch dem Bühnenleben, leben Abende davon. Und hier, in Meiningen, wird nicht nur straff ins Gemächte gegriffen, es geht durchweg in für Kammerspielverhältnisse geradezu irrwitzig opulenter Dekoration und grellen Kostümen (Monika Gora) zur Sache. Es darf darüber philosophiert werden, warum diese Art des Irischen uns berührt, seit Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“ gibt es diese Affinitäten als kombiniertes Insider- und Massenphänomen.

Vorn links auf der Bühne steht ein Klavier, es stehen auch Musikinstrumente dort und Musik und Gesang spielen nicht nur mit, sondern eine Hauptrolle. Was bei der Textlektüre mäßig wirkt, haben Jochen Kilian und Fiona Macleod (sie saß in großkariertem Hosenanzug am Piano und dirigierte den Rest) zu solchem musikalischen Glanz erweckt, dass es einfach nur Spaß machte. Den ganz offenbar auch alle, ausnahmslos alle Darsteller hatten und vermittelten. Was können die singen, was haben die für mimisch-stimmliches Handwerkszeug drauf. Für mich die Perle der Perlen: Anne Rieckhof singt: „Sie kämmt ihr Haar“. Überhaupt Anne Rieckhof. Man soll ja keine Missstimmung im Ensemble verursachen durch geschmäcklerische Einzelnennung, ich tue es eben deshalb. Die allein war den Abend wert. Hätte ich dem Ingo Brosch diesen Ingo Brosch zugetraut? Und dieser seltsame Held Hogan (Lukas Benjamin Engel), der mit Sprengladung und Sammelbüchse und unartikulierten Tönen über die Bühne irrlichterte, als käme er direkt aus der Muppet-Show und nicht aus dem spanischen Bürgerkrieg, auch der singt da: mein lieber Herr Gesangverein. Er steppt, er schleicht in orangen Pantoffeln und dann flirtet er noch mit Mrs. Mallarkey (Ulrike Walther).

Mara Amrita, die mich zuletzt schon in „Bezahlt wird nicht“ aus der Distanz gelockt hatte, brillierte als Deirdre mit einem Luftharfenspiel, dass das Publikum trampelte und quietschte, als hätte es zum zweihundertsten Mal am Abend Ficker gehört, buchstabiert als V-I-K-A-R. Vivian Frey erschien zunächst mit geschwärztem Gesicht, als wäre in Aufreger-Deutschland nie die Kuh Blackfacing durch sämtliche Dörfer getrieben worden. Der Bonnie Prinz Charlie, den er spielt, überdreht, mit rollenden Augen und blitzenden Blicken in den dunklen Zuschauerraum, wo eine ihm nahe Schönheit des Gatten Tun verfolgte, ironisiert eben dadurch, dass er so nach und nach immer weißer wird, bis nur eine schwarze Nase verbleibt. Feiner Einfall. Alle zusammen waren, Anna Gaden als Maria Concepta und Katharina Micada als Mrs. Cronin nun endlich auch genannt, eine Band. Sie traktierten wacker ihre Instrumente, sie sangen solo und choral und am Ende, als das Publikum schon heiße Handflächen vom Klatschen hatte, gab es etwas wie zwei Zugaben. Ich hätte mir nicht verziehen, wenn ich auch nur einmal gehustet hätte in diesen reichlich zwei Stunden mit einer Pause.
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