Hanns Cibulka: Dornburger Blätter

Hanns Cibulka steht bei mir ganz oben. Nicht, weil ich ihn so besonders hoch schätze, auch nur höher als diverse andere seines Metiers. Es ist ganz profan sein Jahrgang 1920, der ihn in meiner Bibliotheks-Ordnung nach Geburtsjahrgängen der Autoren innerhalb ihrer jeweiligen Literatur an diesen Platz bringt. Ein Blick auf einige Namen freilich macht klar, dass er in seiner Nachbarschaft nicht der unauffälligste ist: Walter Basan, Erwin Bekier, Paul Herbert Freyer, Albert Hurny, Ruth Kraft, Hanna-Heide Kraze, Hasso Mager, Günter Prodöhl, Jo Schulz, Walter Stranka, Heinz Vieweg, Rudolf Weiß, Wolf Weitbrecht, Wolfgang Zeiske, um nur einige zu nennen. Für mich verbindet sich mit fast jedem dieser Namen ein meist frühes Lesererlebnis, Hanna-Heide Kraze sah ich einst in Hohen Neuendorf unter der Gartendusche, von Erwin Bekier stammt mein frühestes Autogramm in dem Buch „Die Insel der sieben Schiffe“, es trägt das Datum 2. Juni 1970.

Zu Cibulka kam ich später. Sehr viel später. Genau genommen erst am 27. Oktober 1989. Da gab der „Klub der Intelligenz Ilmenau“ in seine Räumen in der „Alten Försterei“ der Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft für eine Lesung Obdach. Hanns Cibulka, entnehme ich dem gedruckten Veranstaltungsplan für Oktober 1989, „liest aus seinem neuen Prosaband „Nachtwache. Tagebuch aus dem Kriege Sizilien 1943“. Professor Heinrich Arnold begrüßte damals die Gäste, an weitere Details kann ich mich nicht mehr erinnern. Und trug in meinem Exemplar der „Nachtwache“ wie in der Gedichtsammlung „Losgesprochen“, für die Gerhard Wolf ein hochdiplomatisches Nachwort verfasst hatte als Herausgeber, je ein Cibulka-Autogramm nach Hause, mit Datum beide, eines „mit guten Wünschen“. Bei Durchsicht meiner Archivbestände an Buchbesprechungen fällt mir auf, dass keinem der Rezensenten 1989 aufgefallen ist, dass es von Cibulka schon ein anderes „Sizilianisches Tagebuch“ gab, 1960 veröffentlicht als erstes in der Reihe seiner Tagebücher.

Die Idee, dem vierten, Titel: „Dornburger Blätter“, 1972 in der Reihe Kleine Edition des Mitteldeutschen Verlages erschienen, ein paar Zeilen zu widmen, vielleicht auch ein paar Zeilen mehr, weil der zehnte Todestag von Cibulka am 20. Juni dazu einen willkommenen Anlass liefert, war rasch gefasst, ihre Ausführung aber führte ebenso rasch auf unübersehbares Gelände. Am Ende schien es kaum vermeidbar, einen Exkurs über Literaturkritik in der DDR beizufügen, weil sonst einfach nichts sich dem heutigen Verstande zwanglos erschließt. Der Griff zur großen, bis zum Hinscheiden der DDR maßgebenden „Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik“, Redaktionsschluss der zweiten Auflage 25. April 1977, fördert Überraschendes zutage. Die gesamte Prosa-Produktion Cibulkas, nach dem „Sizilianischen Tagebuch“ (1960) immerhin „Umbrische Tage“ (1963), „Sanddornzeit“ (1971), „Dornburger Blätter“ (1972) sowie „Liebeserklärung in K“ (1974) umfassend, alle fünf 1976 zusätzlich noch zu einem Band „Tagebücher“ vereint, wird in der umfänglichen Geschichte komplett ignoriert, vielleicht ist totgeschwiegen sogar das bessere Wort. Und selbst die Lyrik Cibulkas geht weitgehend unter.

Die „Dornburger Blätter“, so wie sie sind, hätten mir vielleicht einleitend einen feuilletonistischen Hinweis auf den doppelten Schutzumschlag eingegeben, der mein Exemplar einhüllt und dann wäre ich zügig zur Seite 64 übergegangen. Dort liest man: „Es war im Sommer 1961, als ich das Geburtshaus Wilhelm Heinses betrat. Es steht in Langewiesen, in der Nähe von Ilmenau. Über zwanzig Einwohner habe ich nach dem Geburtshaus gefragt, aber keiner konnte mir sagen, wo es steht. Ich klopfte schließlich beim Pfarrer des Dorfes an die Tür. Er führte mich in die Ratsstraße, Nummer 9. Eine kleine Tafel über der Eingangstür, schwarz, verrostet, erinnert noch an den Dichter.“ Ruft das nicht geradezu nach einem Appell an das patriotische Langewiesen, das auch 1961 kein Dorf war wie zu Heinses Zeiten, weil halt 1855 neben Gehren und Großbreitenbach auch Langewiesen das Stadtrecht erhielt? Dürfen Schriftsteller, Dichter gar, die gern den Zeigefinger heben, im Detail so schlampig sein? Die Frage ist selbstredend dumm und falsch gestellt. Natürlich dürfen sie schlampig sein und wenn sie es nicht dürften, wer hielte die Einhaltung des Verbotes unter Kontrolle und spräche Sanktionen aus?

Wichtig ist die Berufung auf Heinse freilich schon, wie auch das, was Cibulka ihm nachschreibt: „Kein anderer Schriftsteller, bis weit in das 20. Jahrhundert, hat die Landschaft mit einer solchen Intensität geschildert. Die ganze Leidenschaft seines Denkens ist auf die Natur, auf Kunst und Landschaft ausgerichtet. Seine Prosa ist ein Triumphgesang der deutschen Sprache.“ Dass solch ein Diktum immer Wahlverwandtschaft festhält, und zwar schon durchaus detailliert, muss allein aus pädagogischen Gründen nicht verschwiegen werden. Wie viele Autorenporträts von Autoren sind eigentlich Selbstporträts? Doch spielt, wen überrascht das beim Titel „Dornburger Blätter“, Heinse die weitaus kleinere Rolle im Büchlein als – Goethe. Cibulka hat, die Einzelheiten verschweigt er auffallend, ein Zimmer in einem der drei Dornburger Schlösser, von dem aus er ohne Mühen, auch ohne irgendeine Hilfe dafür in Anspruch nehmen zu müssen, Zugang zum Goethe-Zimmer. Dort kann er Atmosphäre schnuppern, Flair, Fluidum, den Geist der Zeit, vielleicht auch den Hausgeist. Mich hätte Näheres über das Zustandekommen der hochprivilegierten Situation interessiert.

Hanns Cibulka hat in den ersten drei seiner Tagebücher das scheinbar Selbstverständliche getan: er hat seine Notate zeitlich fixiert. Die „Dornburger Blätter“ verzichten erstmals auf jegliches Datum. Man kann den Notaten selbst entnehmen, dass es sich wohl um keinen zusammenhängenden Aufenthalt gehandelt hat, der wäre auch bei einem fest angestellten Bibliotheksdirektor, und genau das war Cibulka von 1952 bis 1985 in der Gothaer „Heinrich-Heine-Bibliothek“, nur schwer vorstellbar, denn selbst die dem Dichterfördern nicht von Hause aus abholde DDR erlaubte keine Urlaube von drei und vielleicht sogar mehr Monaten. Mir ist unerfindlich, warum der Autor sich bei solchen Fakten so bedeckt hält. Es gibt auch keinen einzigen Hinweis darauf, warum er überhaupt länger in den Schlössern weilt. Da liegt auf der Hand, das Büchlein selbst als das Ziel zu sehen. Das anhebt mit geradezu schwelgerischem Lob des Muschelkalk der Gegend. Und einer irritierenden Bekundung zum Reisen: „Ich habe kein Verlangen mehr weit weg zu sein, in den Rhodopen, am Plattensee oder auf der Krim.“ Schon diese Beschränkung ist seltsam staatsbrav.

Und die fast ständigen Bezüge auf italienische, speziell süditalienische, sizilianische Landschaft wollen sich diesem komischen Bekenntnis nicht beifügen. Immerhin ist es, verkürzt gesagt, das Italienische an der Dornburger Saale-Landschaft, das ihn zu einem anderen Bekenntnis bringt: „Nach all den Jahren fühle ich mich in Thüringen zum erstenmal geborgen.“ Und weiter: „Es ist einer der wenigen Orte, wo sich Vergangenheit und Gegenwart in einer großen, offenen Harmonie ergänzen ... wo die Lebenssicherheit des Menschen spürbar wird.“ Natürlich sind solche exponierten Behauptungen nicht statistisch zu bewerten, denn die absolute Mehrheit aller als Konkurrenz in Frage kommenden Orte hat Cibulka nie gesehen und kann folglich auch keinen Vergleich zu ihnen anstellen. Problematischer steht es in meinen Augen mit der Lebenssicherheit DES Menschen. Sätze in dieser Allgemeinheit sollten außerhalb der fixierten Disziplin der Anthropologie unterbleiben. An ihnen stößt sich nicht nur der Freund der marxistisch-leninistischen Klassentheorie. DER Mensch, DIE Menschheit formulieren einfach ein falsches Subjekt in jeden beliebigen nichtanthropologischen Satz, das Pathos, das als Substrat bleibt, war schon im deutschen Expressionismus eher nervend.

Die schwächste Seite an den „Dornburger Blättern“ sind für mich genau solche und ähnliche Sätze. Immer dann, wenn Hanns Cibulka den sicheren Boden seines anschauenden Schreibens verlässt in Richtung Hausmacher-Philosophie mit manchen heftigst die Plattitüde streifenden Sätzen, dann fragt es sich, warum ihm kein Lektor das ausgeredet hat. Die offene Form des Tagebuches, auch des fiktiven oder pseudofiktiven Tagebuchs, Cibulka hat mehrere Varianten durchgespielt in seinem Prosaschaffen, erlaubt natürlich Reflexion, erlaubt natürlich Essayistisches im Fließtext. Das Wie des Formulierens scheidet das Akzeptable bis Begrüßenswerte vom schwer Erträglichen. Erst spät hat ein DDR-Kritiker (Werner Creutziger, Neue Deutsche Literatur 11, 1988) den Begriff auf Cibulka bezogen, der den Kern des Phänomens in seinen Prosabüchern verblüffend genau trifft. Cibulka tendiert zum Erbauungsbüchlein, zum Traktat. Creutziger hat übrigens einen bis dahin ungehört lockeren Ton in die Cibulka-Kritik der DDR gebracht, der Preis freilich: sehr nahe ans Buch „Wegscheide“, um das es ging, ist er dabei leider nicht gekommen.

Warum wäre, wie oben angedeutet, ein Exkurs über Buchkritik in der DDR alles andere als überflüssig, wenn es um Cibulka geht? Es sei als Beispiel Bernd Leistner herausgegriffen, den ich ebenfalls 1989 persönlich schätzen lernte, er war am 7. Juli Gast im Klub der Intelligenz Ilmenau, seine freundlichen Widmungen an mich stehen in seinen Büchern „Unruhe um einen Klassiker. Zum Goethe-Bezug in der neueren DDR-Literatur“ und „Spielraum des Poetischen. Goethe. Schiller. Kleist. Heine“. Leistner hat 1978 Cibulkas Tagebüchern volle zwanzig Seiten gewidmet in Weimarer Beiträge, Heft 9. Von christlich-religiösen Zügen bei Cibulka ist auf diesen zwanzig Seiten nie die Rede, auch der Verlust der Heimat durch Vertriebenwerden ist kaum punktuell thematisiert. Sieben Monate später, wiederum Weimarer Beiträge, jetzt Heft 4 1979, geht es um den Gedichtband „Lebensbaum“ (1977, schnell waren die DDR-Medien eher nicht). Jetzt spielt das Christlich-Religiöse plötzlich fast die Hauptrolle. Ich muss nicht scheinheilig vermuten, dass Leistner in fünf Büchern Cibulkas etwas Tragendes übersah, das ihm dann plötzlich und unerwartet in die Augen stach. Genau das aber macht seine und alle anderen DDR-Kritiken fast vollkommen unabhängig von ihrer ausweislichen Qualität so problematisch.

Dank der Rezeptionsbedingungen für Kritik, abhängig vom Ort ihrer Veröffentlichung, vom Namen des Kritikers, der Kritikerin, konnte es eben sein, dass ein scharf kritisiertes schlechtes Buch, stand die Kritik in Neues Deutschland, rasende Nachfrage erlebte, während ein dort gelobtes gutes Buch wie Blei in den Regalen des sozialistischen Volksbuchhandels liegen blieb. Der auf Cibulka spezialisierte ND-Kritiker hieß übrigens Klaus-Dieter Schönewerk. Leistner nun nannte Einflüsse auf Cibulka, die zwanzig Jahre früher den Dichter wohl in allergrößte Schwierigkeiten gebracht hätten, Hans Carossa, Friedrich Georg Jünger seien stellvertretend angeführt, auch eine Berufung auf Ezra Pound, heute eher zum Ruhme Cibulkas dienend, war vor 1989 eine mindestens nicht unriskant offenbarte Wahlverwandtschaft. Hanns Cibulka war bei aller Zurückhaltung, bei aller Stille und Bescheidenheit durchaus mutig. Nur alles Spektakuläre ging ihm völlig ab. In „Dornburger Blätter“ warb er um Verständnis für Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“, 1972 war das keineswegs eine übliche Übung. Und die Ausführlichkeit, mit der er auf Johannes Bobrowski einging, war auch alles andere als die Realisierung eines höchstamtlichen Parteitagsbeschlusses.

Damit nachvollziehbar wird, was ich mit den allgemeinen Sätzen meine, dies Beispiel: „Wo auch immer das Geistige im Leben sichtbar werden will, verlangt es nach dem Gesicht des Menschen.“ Über solche Sätze darf man keine Sekunde nachdenken. Sie disqualifizieren ihren Verfasser. „Wie gut, daß es für das menschliche Gesicht noch immer keine Kleider gibt.“ Das nimmt man in sein privates Zitatenlexikon und merkt beim nächsten Lesen, es klingt um Längen besser als es ist. Wieder darf man nicht darüber nachdenken. „Solche Skizzen verzichten auf jeden überflüssigen Zweig, der eine Baumkrone immer nur buschiger, aber nicht durchsichtiger macht.“ Schrieb das tatsächlich ein Lyriker, dem verrutschte Bilder ein Greuel sein müssten? Oder: Welche notwendigen und nicht überflüssigen Zweige machen eine Baumkrone durchsichtig? Wenn kein Blatt am Baum ist, ist selbst die buschigste Krone durchsichtig. Hanns Cibulka will Bestimmtes aussagen und dann verlässt ihn bisweilen die Selbstkontrolle: „Der Autofahrer sieht die Landschaft immer nur als Kulisse, sie rollt vor seinen Augen ab wie ein Fernsehfilm, der Kilometerzeiger bestimmt das Tempo der Eindrücke.“ Was ziviliations- und/oder kulturkritisch sein soll und hinführen zum Lob des Wanderns, ist wiederum an Schrägheit des Bildes kaum zu übertreffen. Es scheint, als wäre Cibulka nie selbst Auto gefahren, aber dem Fernsehfilm deutlich feindlicher gesonnen als dem Kinofilm, der sich in Sachen Abrollen nun wahrlich kein Eigenleben gönnt.

Vielleicht ist es nicht zu böse, dergleichen Denkunschärfen zu nennen, denn genau sie sind es, die seinen weniger wohlmeinenden Kritikern die Argumente auf dem Tablett liefern. In seinen Gedichten entgeht Cibulka ihnen fast immer, in der Prosa aber sind sie ständige Bedrohung. Auf fast brutale Weise haben einst in der Debatte um „Swantow“ aus sehr unterschiedlichen und dann doch wieder gar nicht so unterschiedlichen Blickwinkeln der Philosophie-Professor Hermann Ley und der so genannte Bücherminister Klaus Höpcke das verdeutlicht. Noch immer bin ich bei den unvorhergesehenen Weiterungen der Ursprungsidee mit den „Dornburger Blättern“: Wann war ich zuletzt an meinem sehr umfangreichen Bestand der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, wann las ich zuletzt eine Zeile meines einstigen Wissenschaftsbereichsleiter Ley? Hanns Cibulka sei Dank. Die seltsamen Seitenhiebe Höpckes gegen Ley erweisen sich nach meiner Ley-Lektüre als weitgehend unsinnig, der 1911 geborene Ley war, was die Denkresultate des Swantow-Autors betraf, beruhigend nahe am Buch. Wobei er seine eigentliche Attacke gegen Inge von Wangenheim ritt und gegen Jurij Brezan, Cibulka nur noch der fast mit philosophischer Ironie bedachte Dritte im Unbunde.

Mittendrin aber und wohl genau so gewollt, lese ich halbe Sätze wie: „... wir wußten noch nicht, daß jeder Zwang den Menschen unschöpferisch macht.“ Solcher Sätze wegen las man in der DDR ganze Bücher, und auch hier würde mir der Text ohne das „den“ besser gefallen. Ich kenne mehr als einen Menschen, den beispielsweise der Zwang eines Liefertermins beflügelt statt unschöpferisch macht, immer geht es um das Vorschnelle an derartigen Allgemeinbehauptungen. „Der Staat sollte der Gesellschaft den Rahmen geben, nicht mehr, die Menschen geben das Bild.“ Was will ein solcher Satz wem sagen? „Jeder Künstler sollte den Mut aufbringen, von Zeit zu Zeit seine eigenen Arbeiten in Frage zu stellen.“ Wie oft ist dieser Satz seither zitiert worden, wenn es um Hanns Cibulka ging? Der Abschnitt zu Christa Wolf endet so: „Es gibt in unserem Leben, das sollte man nicht vergessen, wenn man heute über das Buch nachdenkt, auch eine Auferstehung durch Selbstbesinnung.“ Auch Zufälliges und Belangloses füllen das Buch, das aus Goethe-Bezügen allein sich kaum speisen konnte. Wir erfahren, wie wichtig für Cibulka das Goethesche Metamorphose-Denken wurde und wissen aus den anderen Tagebüchern, dass immer wieder neue ähnliche Erlebnisse hinzukamen.

Wenn einer Bibliothekar ist und das so lange und nie zum Freiberufler wurde, dann ist die Vermutung schwer abzuweisen, dass Buchereignisse irgendwann eher zeitiger als später Lebensereignisse ersetzen. Die über viele Jahren wiederkehrenden Bilder, Personen, Ereignisse in Hanns Cibulkas Büchern dokumentieren einerseits ein relativ begrenztes Reservoir an eigenen Erfahrungen, andererseits schaffen sie ein Potential an Intertextualität allein zwischen den Lyrik- und den Prosabänden, das Forscherdrang, Entdeckerfreuden reiche Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Für Leser in und Repräsentanten von Gotha ist manche unzweideutige Aussage dieser „Dornburger Blätter“ sicher schmerzhaft gewesen und könnte im Ansatz erklären, dass die Liebe der alten Residenzstadt zu ihrem Autor es bis zum Überschäumen nie schaffte. Doch noch 2000, als Hanns Cibulka mit dem Erwin-Strittmatter-Preis ausgezeichnet wurde, geschah es, dass die Laudatorin Ursula Heukenkamp, Fachfrau für Lyrik, die in ihrem Buch „Die Sprache der schönen Natur“ den Namen Cibulka noch nicht kannte, ausschließlich über seine Prosa redete, eigentlich nur über Wespen, etwas „Swantow“, etwas „Seedorn“. Von späteren Lobreden soll hier geschwiegen werden, weil die Lobredner bei sich selbst abschrieben.

Der oben beschriebenen schwächsten Seite der „Dornburger Blätter“ soll spätestens jetzt auch die stärkste folgen. Sie ist bisweilen sogar Eigenschaft der gleichen Textpassagen, was seltsamer klingt, als es ist. Hanns Cibulka regt mit nahezu jeder Seite seines Büchleins Denken an, auch die Erregung von Ärger ist ja das Gegenteil von produzierter Gleichgültigkeit. Bei den Erwägungen rund um den Heimat-Begriff beispielsweise fühlte ich mich an endlose Diskussionen meiner Studentenzeit erinnert, als eine Seminarleiterin sich auch von unseren heftigen Protesten und aus unserer Sicht hervorragenden Argumenten nicht davon abbringen ließ, eine historisch-genetische Entwicklung zu postulieren, die im Sowjetvolk die nächsthöhere Stufe gegenüber der Nation sah. Bei Cibulka liest sich das erstaunlich ähnlich: „Die zur Heimat gewordene Idee wird das Heimatgefühl der Vergangenheit ablösen, ja selbst der Vaterlandsgedanke wird sich mehr und mehr dem dynamischen Charakter der sozialistischen Weltidee unterordnen müssen.“ Sollte er das tatsächlich einmal geglaubt haben? „Bleibt mir das Werk eines Künstlers aber verschlossen, dann suche ich den Fehler zuerst bei mir.“ Im Umgang mit hermetischer Kunst freilich nützt solche Fehlersuche nichts. Das weiß auch Hanns Cibulka. Sein „Tag und Nacht hätten wir zu tun, um diese Erde in einen Garten zu verwandeln“ setzt voraus, dass eine Erde als Garten nicht nur schön, sondern auch gut wäre.

Die „Dornburger Blätter“ deuten unter der Überschrift „Leere Tage“ schon auf das nächste Buch: „Es zieht mich hinüber in die Gegend von Rudolstadt: Liebeserklärung in Kochberg.“ Ein wiederholbares Muster mit Option auf Variationen scheint gefunden. Goethe wartet da und Frau von Stein, ein Fundament ist da, auf dem sich mauern lässt. Ob Hanns Cibulka Zeit fand oder genug Neugier zurückbehielt aus Dornburg und Umgebung, um herauszufinden, was er auf dem Heimweg von einem Steinbruch erst beobachtet und dann sogar mit eigener Hand gefangen hatte, weiß ich nicht. Seiner Beschreibung nach handelte es sich um Oedipoda germanica, die Rotflügelige Ödlandschrecke, die auch ich schon die Ehre hatte, im Jonastal bei Arnstadt hüpfen zu sehen. Und gleich massenhaft in einiger Höhe in den Alpen. „Bisher kannte ich von den Heuschrecken nur den gemeinen Grashüpfer in seinem grünen Kleid.“ Der hüpft, wenn alles gut steht und der Wind günstig, bisweilen sogar durch ein Bibliotheksdirektorenzimmerfenster. In Gotha und anderswo.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround