Marie Luise Kaschnitz: Steht noch dahin

Soll man es einem fast zweiundneunzigjährigen Marcel Reich-Ranicki übel nehmen, wenn er auf eine Leserinnen-Anfrage nach Marie Luise Kaschnitz in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG sich selbst zitiert, ohne auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass man seine Antwort komplett und fast wortlautidentisch seit vielen Jahren nachlesen konnte in seinem berühmten Sammelband „Lauter Lobreden“, dem Pendant zu „Lauter Verrisse“? Was der große Uralte am 25. März 2012 drucken ließ, entstammt seinem Festvortrag anlässlich des zehnten Todestages von Marie Luise Kaschnitz am 10. Oktober 1984, gehalten im Kaisersaal des Frankfurter Römers und zuerst gedruckt in der F.A.Z. vom 20. Oktober 1984. Und in diesem Festvortrag wiederholte er sich ebenfalls teilweise wortlautidentisch, womit, positiv gedeutet, ja nicht weniger gesagt ist als: er hatte seinen frühen und in diesem Falle lobrednerischen Ansichten über die Kaschnitz nichts von Substanz hinzuzufügen.

Allenfalls verteilte er 1984 den einen oder anderen Seitenhieb auf Kollegen, namentlich vom Pult nicht genannt, in den Fußnoten das Sammelbandes dann aber doch, wenigstens von Fall zu Fall, identifiziert, betroffen beispielsweise Günther Blöcker, den 1966 die „Ferngespräche“ von Marie Luise Kaschnitz nicht annähernd so animierten wie Reich-Ranicki. Heute gilt unter dem schäbigen Abwehrbegriff „Kollegenschelte“ getarnt Kritik an Kritikern als NO GO AREA, glaubt man den Benimm-Regeln der Etablierten, die immer damit rechnen, dass ihr nächstes bei vollem Bezug des Feuilleton-Gehaltes publiziertes Buch wohlwollende und absatzfördernde  Besprechungen braucht, weshalb man sich deren Unwillen anständigerweise nicht zuzieht, denn selbst die Verlage der Kollegen, die bisweilen sogar die eigenen Verlage sind, zeigen sich, selbstredend nur intern, NOT AMUSED, wenn da irgendwo der Gleichklang der Lobreden oder Verrisse gestört wird. Wer also den Urton des Kritikers über die Autorin hören will, muss sehr weit zurück suchen.

Alternativ könnte man Schluss-Sätze sammeln. 2012: „Es ist sehr bedauerlich, dass die Werke dieser Autorin in der heutigen Zeit nicht mehr so geschätzt werden, wie sie es verdienten.“ 1984: „Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie weiterhin vernommen wird: die Stimme der Marie Luise Kaschnitz.“ 1971: „Ohne viel Feierlichkeit, ohne viel Aufhebens wahrt Marie Luise Kaschnitz die Würde der Dichtung, indem sie die Gegenwart mitten ins Herz trifft...“. 1966: „Einige dieser Geschichten werden uns überleben.“ Am 23. Mai 2013 veröffentlichte die ZEIT in ihrer oft rasch übersehenen Schlussseiten-Rubrik „Wiedergefunden“ die ziemlich seltsame Geschichte eines Exemplars der „Beschreibung eines Dorfes“. Eine Tochter, die nach dem Bergunfall ihres Vaters 1989 all seine Bücher in München verkaufte und verschenkte, erstand neben drei anderen für je 25 Cent auch genau das Exemplar ihres Vaters aus dem Jahr 1966 mit seiner handschriftlichen Signatur und Kommentaren und – las es sogar. „Ehrlich gestanden – ich glaub an keinen Zufall!“

Marie Luise Kaschnitz hätte ihr wohl beigepflichtet, es gibt viele Texte von ihr, die ihr Einverständnis mit dem „Rätselhaften“, wie sie es nannte, bekennen und dem Leser überlassen, ihr zuzustimmen oder nicht. Im Fall der Geschichte in der ZEIT war es wohl so, dass der Vater DEN Vater fragte, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, dieser unsäglichen Tochter, die alle Bücher des Vaters, auch seine liebsten, verkaufte und verschenkte, wenigstens den Ansatz eines schlechten Gewissens zu verursachen und DER Vater sagte: Sohn, ich verstehe Dich, auch wenn ich ungern indirekt Werbung für die EDITION SUHRKAMP mache, in der jenes Büchlein damals erschien. Ich werde ihre Wege in das Antiquariat in Prien am Chiemsee lenken und dort soll sie auf die „Beschreibung eines Dorfes“ stoßen, die die Beschreibung von Bollschweil im Badischen ist, das aber soll sie erfahren und sie soll glauben, dass ich meine Finger im Spiel hatte und deshalb an die ZEIT schreiben, die für dergleichen zuständig ist wie ich für die Ewigkeit, Amen.

1966 schrieb Marcel Reich-Ranicki, bezogen auf die in der Sammlung „Ferngespräche“ enthaltenen Arbeiten von Marie Luise Kaschnitz: „In der kurzen Geschichte, ließe sich mit einiger Übertreibung sagen, ist die Pause wichtiger als das Wort.“ Das gefiel ihm so, dass er es später wiederholte, nun sogar mit Nennung des Namens Anton Tschechow, was dann vielleicht doch haarscharf an der Kaschnitz vorbei geht, ihr dennoch nichts nehmend. Denn wenn es eine Schande wäre, nicht an Tschechow heranzureichen, dann wäre nahezu die gesamte gedruckte Literatur eine Schande und das würde die Jurys für die alljährlichen Buchpreise dann doch zu arg demotivieren, die sich tapfer der Aufgabe stellen, aus 172 Romanen erst eine Long List und dann eine Short List und dann das arme Schwein zu benennen, der danach auf sämtlichen farbigen Sofas sitzen muss, allenfalls erfreut durch die nun sprudelnden Einnahmen, die freilich zu 88 bis 90 Prozent nicht auf seinem Konto landen. Marie Luise Kaschnitz hat wohl 1955 den Georg-Büchner-Preis bekommen, Laudatio Kasimir Edschmid (wer war noch mal gleich dieser Büchner??), mit ihren wichtigen und immer wichtiger werdenden Pausen hätte sie es nicht einmal auf eine Endless-List geschafft.

Nach so viel Vorrede könnte die Hauptrede eigentlich unterbleiben, zumal sie einem Büchlein gelten soll am vierzigsten Todestag der Kaschnitz, das wahrlich nicht zu denen gehört, nach deren Lektüre man nach Atem ringend sich auf die Balkonbrüstung stützt, um Schwindel, Rührung und Begeisterung am kalten Metall, harten Beton oder rissigen Holz zu dämpfen, zu kühlen, zu regulieren. „Steht noch dahin“ heißt es, Reich-Ranicki hat darin 74 Prosa-Stücke gezählt, ich bestätige diese Zahl, und diese Texte verteilen sich in meiner Ausgabe auf 80 Druckseiten. Nur ganz wenige, lässt sich ohne Ansicht des Buches damit sagen, reichen über eine Druckseite hinaus, sie stehen hinten im Buch, ohne dass dafür ein Grund erkennbar wäre. Diese „Betrachtungen“ genannten Notate sind etwas voreilig der Tagebuch-Prosa der Autorin zugeordnet worden, was vom Buch selbst freilich nicht belegt wird, aus den später veröffentlichten tatsächlichen Tagebüchern möglicherweise beweisbar wäre, aber hier nicht versucht werden soll.

Wie geht man um mit solchen Büchern, in denen nicht gleich im ersten Satz nachgesalzt wird und auch später nur sehr wenig Butter bei die Fische kommt? Reich-Ranicki hat diese Miniaturen Gedichte genannt oder angedeutet, er könnte sie so nennen. Gedichtbände haben es an sich, Kritiker  in Not zu bringen, sie helfen sich durch Schwulst, Pseudotiefsinn oder Themenstatistik. Gedichte ähneln sich ja bestenfalls in ihrer Eigenschaft, Gedichte zu sein, selbst den verständlicheren haftet noch eine Prise Hermetismus an und nach dem Gesetz, dass Kommunikation die Nutzung eines den Kommunizierenden gemeinsamen Zeichenvorrates voraussetzt, hat Lyrik einen von Haus her schwachen Kommunikationswert. Prosagedichten ergeht es ziemlich ähnlich, vor allem dann, wenn die gelobte Pause zwischen den Worten Raum und Zeit lässt, den Lesergeist schweifen zu lassen. Denn ist der erst einmal unterwegs, gibt es keine Rückkehrgarantie. Langer Rede kurzer Sinn: ich habe das Büchlein trotz aller Kürze erst im dritten Anlauf anständig und ordentlich zu Ende gelesen.

Der erste Text, der allem den Titel gibt, endet:“ ... ob wir es fertig bringen, mit einer Hoffnung zu sterben, steht noch dahin, steht alles noch dahin.“ Der letzte Text ist „Amselsturm“ überschrieben und endet: „... wer sagt, daß in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt.“ In braveren Germanistik-Seminaren könnte man aus dem Bogen von vorn nach hinten eine Semester-Arbeit destillieren lassen. Hilfsaufgabe für unterwegs: Suchen Sie Passagen, mit denen sich belegen lässt, dass Marie Luise Kaschnitz mit einem Gewissensproblem rang! (das fördert die studentische Neugier auf andere Werke der Autorin im Zeit-Raum-Vergleich) Versuchen Sie zu verstehen, warum Marie Luise Kaschnitz nie eine Chance hatte, zur Feministinnen-Ikone zu werden! Schon hier wird klar, dass es wieder nur Hilfskonstruktionen werden, um eine Komplexität ins Handliche zu reduzieren. Das wäre Aufgabe des Kritikers, hat wiederum Marcel Reich-Ranicki ausgerechnet anlässlich von Marie Luise Kaschnitz behauptet. Und verraten, dass damit Fehlleistungen fast unvermeidlich bleiben. Ach, der Alte wusste, wovon er schrieb.

Der DDR-Lyriker Heinz Czechowski hat für seine Kaschnitz-Gedicht-Auswahl seinerzeit den etwas komischen Versuch unternommen, die Autorin vor der Bezeichnung „christliche Dichterin“ in Schutz zu nehmen. So verzogen waren selbst die Besseren damals, als ob es eine Schande wäre, christlich zu sein, als ob sich Christentum im Dichten unvermeidlich in evangelikale Traktatverslein ergießen müsste! Das Christentum solcher Dichterinnen und Dichter zeichnet sich wohl dadurch aus, Einvernahmen zu widerstehen, es bleibt aber doch erkennbar, erlesbar, in den zahlreichen Hörspielen gerade der Kaschnitz auch hörbar. Es sind richtige kleine Geschichten in dem Bändchen, in geringer Zahl freilich, es sind Provokationen darin, deren Lakonismus nicht zu übertreffen ist. Es sind Naivitäten darin, die anrühren, weil sie mit dem anderen in Kontrast stehen. Es ist hilfreich, jeden einzelnen Text sofort zweimal zu lesen und nicht zu verzweifeln, wenn sein Sinn dann noch immer nicht deutlicher werden will. Auch das ist die Pause zwischen den Worten, das Rätsel kein Scheinrätsel, die Autorin reicht weiter, sieh zu, Leser.

Mittendrin steht ein Text, der „Fluchtgepäck“ heißt. Es geht um Juden auf ihrem Weg durch die Goethestraße, die natürlich auch Bismarckstraße oder Ludendorffstraße hätte heißen können und vielleicht sogar tatsächlich Goethestraße hieß, denn gegen Goethe hatten die nichts. „Jemand ist damals auf den Gedanken gekommen, einem Stern, einer Sternin tragen zu helfen, mitzugehen auf den Bahnhof, vielleicht in den Zug. Natürlich hat man nichts dergleichen getan...“ Worte wie dieses „natürlich“ kennzeichnen einen Wesenskern der Persönlichkeit wie des Werkes von Marie Luise Kaschnitz. Die feige war und sich zu dieser Feigheit bekannt hat, weil es eine natürliche Feigheit war. Die mutig genug war, die Feigheit zu bekennen. Die an ihr gelitten hat, aber sich keine Traumatisierung daraus gestattete. Nicht nur die Verbrechen der Zeit lösten nach 1945 Beschämung aus, auch die Helden, die sich erhoben. Der Gerechte beschämt den Sünder, die Sünderin, die wegsah, die nichts tat. Vor Gott aber, lesen wir bei Jesus Sirach, und wir belassen es dabei. „Der Hunger, das Elend und die Ungerechtigkeit in der Welt lassen mich schlafen“ - endet „Tarantella“. „Steht noch dahin“, ob das eine Provokation war und bleibt.


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