Blättchen für Heinz Knobloch (4)

Was ich am 1. Juni 1972 gemacht habe, weiß ich ziemlich genau, denn am Abend dieses für mich wenig wunderbaren Tages schrieb ich einen Brief an meine Eltern. Und den kann ich heute sowohl im Original als auch innerhalb meines Buches „Kulturschock NVA“ (Ch. Links Verlag) nachlesen, er klingt ein wenig jammerig. Dass an diesem Tag im Westen die drei wichtigen RAF-Chargen Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe festgenommen wurden, entging mir natürlich, es hätte mich, glaube ich rückblickend, nicht mehr berührt als andere Schlagzeilen von dort. In Berlin-Pankow öffnete am 1. Juni 1972 Heinz Knobloch seinem angekündigten Besucher Joachim Walther die Tür, denn der war dabei, Interviews zu sammeln für sein späteres Buch „Meinetwegen Schmetterlinge“. Es war für mich das erste derartige Buch, das ich von vorn bis hinten zu Ende las. In meinem Register trägt es die Nummer 802, die 800 fiel an „Im Westen nichts Neues“, die 801 an „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“. Und es war das erst zweite Buch im Register, das ich mit Datum eintrug: 17. Januar 1974. Erst Ende 1974 bekam jedes Buch das Datum, an dem ich es beendete. Knobloch findet sich auf 10 Seiten im Buch nach Rolf Schneider und vor Günter Kunert.

Walther war per Du mit Knobloch, sie kannten sich also näher. Walther beschränkte seine Besuche bei den Schriftsteller-Kollegen auf Berlin und die nähere Umgebung. Den deutlich meisten Platz räumte er Günter Kunert und Christa Wolf ein. Das erste Gespräch mit Uwe Kant ist mit 11. April 1972 datiert, das letzte mit Hasso Laudon am 10. Januar 1973. Nach Kunert gönnte sich Walther gut drei Monate Pause. Einzig das Gespräch mit Paul Wiens ist im Buch nicht datiert, warum, lässt sich nicht erkennen. Das Haus, an dem heute leicht versteckt eine der berühmten Berliner Gedenktafeln hängt in Pankow, schätzte Walther damals als etwa zehn Jahre alten Neubau ein. Die Grünanlage vorm Haus gibt es heute noch, die Plastik auch, Gedenkstein und der Name für den Platz, jeweils Heinz Knobloch, folgte erst deutlich später. Ob der Blick aus dem Arbeitszimmer heute immer noch auf eine Brandmauer mit Garagen geht, wäre zu testen. Aber die Nachmieter haben keinerlei Interesse, Neugierigen solche Blicke zu gestatten, ich kann sie verstehen. Ich weiß nun vom Drehstuhl zwischen zwei Arbeitsplatten in Knoblochs Arbeitszimmer, vor allem aber gilt mein Neid der Tür mit Lärmpolster und dem Blick des Gastes für die Grafiken. Erfragt oder wirklich erkannt?

Eine Erkenntnis: am 1. Juni 1972 zitierte Heinz Knobloch mit größter Selbstverständlichkeit aus seinem Buch „Vom Wesen des Feuilletons“. Das liefert einen Anhaltspunkt, wann die mehrfach von ihm geäußerte selbstkritische Sicht auf diese gedruckte frühe Anmaßung sich in ihm auszuprägen begann. Er verwies später auf negative Gutachten, die das Buch nicht verhinderten. Und es las sich wie: leider nicht verhinderten. Auch Joachim Walther verspürte als fragender Gast kein Bedürfnis nachzuhaken oder gar eine eigene Sehweise vorzutragen. In seine Sammlung „Kreise ziehen. Feuilletons aus unseren Jahren“ (1974) nahm Knobloch vielleicht gar mit etwas Dankbarkeit dafür die „Schönhauser Allee“ von Walther auf, genauer: den Morgen des dreiteiligen Straßentages. Und schrieb erklärend: „Er wohnt in der Schönhauser Allee, die er beschreibt, auch wenn er sie nur hört und nicht sieht von seinem Hinterhof aus.“ Das, was dann zu lesen ist, zeugt freilich von genauem Gesehenhaben und keinesfalls nur von Gehörtem. Knobloch gibt auf die Fragen nach seinen Einfällen und ihren Quellen lustige Antworten wie: „Vielleicht gucke ich im Lexikon nach, was eine Rolltreppe ist“. Knobloch war vielleicht der letzte große Lexikon-Gucker vor Google und Co.

Über sein Vergnügen am Schreiben sagte Knobloch: „Man möchte sich selbst darum beneiden, denn Arbeit und Freizeit gehen ineinander über.“ Und über eine Kulturtechnik der Vergangenheit: „Sehr angenehm ist es auch, ein Manuskript fertig zu haben und es in den Briefkasten zu stecken.“ Was sind Briefkästen? In vielen Städten sucht man lange vergebens nach solchen und wenn man etwas hineingesteckt hat, darf man kaum sicher sein, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt auch dort liegt, wohin es adressiert ist. Als ich meine ersten Jahre Buchkritiken schrieb, waren fast alle meine Redaktionen in Berlin, mehrere saßen im Hochhaus, in das auch Knoblochs „Wochenpost“ aus der Mauerstraße gezogen war und ich wusste stets, wann ein meist dicker Brief im Kasten in Ilmenau zu sein hatte, damit die auf meine Lieferung wartenden Damen (Männer keine dabei) ihn rechtzeitig auf dem Tisch liegen hatten. Nie aber hätte ich Knoblochs folgenden Satz geschrieben oder gesagt: „Korrekturlesen, das ist fast noch schöner, als wenn dann das fertige Buch kommt.“ Ich bin ein schlechter Korrekturleser, weil ich ja kenne, was ich geschrieben habe. Ich will nicht sagen, dass es mich langweilt, fertige Bücher sind nicht anders vorstellbar, aber ein klein bisschen nervt es schon.

Am 1. Juni 1972 sprach Knobloch von vierzig Klarsichtmappen, „in denen sich Feuilletons sammeln“ und manches, das weiß ich nach Lektüre von dreißig seiner Bücher, wurde nur unter eine Überschrift gestellt, um diese Mappen endlich einmal leer zu bekommen. Es liest sich nicht immer zusammen, was nicht wirklich zusammen gehört. Knoblochs Resterampe wären solche Feuilletons vielleicht zu taufen. Es wurden ärgerlichere Sachen gedruckt, ohne dass der Welten Lauf ins Stottern geriet. „Dann habe ich noch Vorordner, wo Themen gesammelt werden, ein Archiv mit Zeitungssausschnitten – völlig willkürlich, kunterbunt geordnet, aber durchlaufend nummeriert und auf eine Kartei aufgeschlüsselt, das wird mehr oder weniger sorgfältig betrieben.“ Als ich später einmal einen ausgedienten ehemaligen Chefredakteur aus München erlebte, der uns schulte, wie man immer etwas zur Hand haben muss, wenn nichts zur Hand ist, also Sommer-, Herbst- und Winterlöcher zu stopfen sind, war mir Knoblochs Schaffensweise längst aus dem Gedächtnis entschwunden. Sonst hätte ich vorlaut gerufen: das wussten wir schon mitten in der zweiten deutschen Diktatur. Vorlaut aber darf man nur in der Schule sein, nicht in hauseigener Fortbildung.

Unter möglichen Stimulantien erwähnte Knobloch gegenüber Joachim Walther Friedhöfe. „Auch ein Spaziergang auf einem Friedhof ist sehr schön, weil man dort niemanden sieht.“ Ich besuche wahrscheinlich immer die falschen Friedhöfe, mir zeigen freundliche Frauen sogar Gräber, nach denen ich gar nicht gesucht hätte und an Fontanes falschem Grab war ich bis heute nicht. Dafür bin ich in Sachen Fontane besser ausgestattet als Knobloch: Reichlich drei laufende Meter Fontane stehen bei mir, darunter die dicken Kriegsbücher, denen Knobloch wohl bei aller Fontane-Neigung nie auch nur einen Gedanken widmete, es hätte nicht zu seiner demonstrativ antimilitaristischen Denkart gepasst. Walther hörte vor 53 Jahren Knoblochs Bedauern, „dass von Fontane noch nicht sämtliche Briefe und Wanderungen da sind.“ Sämtliche Briefe sind wahrscheinlich heute immer noch nicht da, aber fürchterlich viele schon und bei den Wanderungen haben wir inzwischen sogar einen eigenen Gesamtregisterband, der den guten Kno wohl höchlichst erfreut hätte. Dann kommt er auf Lichtenberg und sagt verärgert, „wir bringen nur Auswahlbände, das ist beschämend“. Schön ist dabei das „wir“, weil es nicht Teilhabe an der Fehlleistung, sondern Teilhabe an der DDR meint.

„Unverwüstlich ist der Schwejk, das ist ein Standardwerk, immer griffbereit, immer wieder neu, er hat auch Begleiter.“ Knobloch hat sich selbst und sogar seinen Vater später ganz gern ein wenig als Schwejk gesehen. Wenn sich das manchmal liest wie milde übertrieben, dann spricht das nicht gegen ihn, weder kleinen Eitelkeiten noch einem bestimmten Größenwahn hat er je entrüstete Absagen erteilt. „Wer von uns nicht anfängt in dem Bestreben, es Goethe gleichzutun, wenn nicht gar ihn zu überholen, der soll gar nicht anfangen, glaub ich, nicht? Der Wille zur Höchstleistung, das ist der Größenwahn, den ich gelten lasse“. Ich glaube, dass gerade in der DDR unter namhaften Autoren nur wenige waren, die es Goethe gleichtun wollten, im Gegenteil: Goethe war vielen eine Reiz- manchen sogar eine Hassfigur, weil die DDR ihn gewissermaßen zu ihrem Staatsdichter zurecht gedeutet hatte. Man kennt das aus verschiedenen Systemen, deren Ähnlichkeit in just dieser Hinsicht wiederum ein interessantes Thema liefern würde. Mein Exemplar von „Meinetwegen Schmetterlinge“ zeigt mehr als fünfzig Jahre nach der Erstlektüre noch kleine zarte Bleistiftkreuze, was mir damals signalisieren sollte: Hier steht ein verwendbares Zitat. Nicht alle sehe ich mehr so.

Also: „Wenn wir Arbeitsschutz haben, damit sich keiner das Genick bricht, dann soll die Literatur auf die Herzen aufpassen.“ Damals Kreuz – heute Zweifel: Klingt das nicht wie die „Ingenieure der menschlichen Seele“? Also: „Wir können missverstanden werden. Der eine empfindet als böswillig, was der andere als unerhört förderlich nimmt.“ Damals Kreuz – heute immer noch Kreuz, das kann man zitieren. Knobloch macht auch einen Zensur-Eingriff öffentlich 1972, ohne ihn natürlich einen Zensureingriff zu nennen: ein Feuilleton über das Leipziger Völkerschlachtdenkmal durfte nicht gedruckt werden, weil er es mit Bindestrich geschrieben hatte: Völker-Schlachtdenkmal. Zugegeben, der Strich macht einem Knobloch, der für das Denkmal des unbekannten Deserteurs Modell stehen könnte, sehr viel Haupt- und Staatssinn. Dem Völkerschlachten sind freilich nie und nirgends je Denkmäler errichtet worden, ob nun kitschige oder andere. Pathos und Heroismus haben für alle potentiellen Zivildienstleistenden immer Kitschiges und Komisches. Man lese zum Beispiel Jens Gerlachs „Der Gang zum Ehrenmal“, 1953 in der DDR gedruckt, als der Dichter noch in der BRD lebte. Gerlach, fünf Wochen älter als Knobloch, hätte den Altersgefährten kaum verstanden.


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