Oskar Walzel: Ricarda Huch

Am Anfang war das Insel-Buch Nummer 25, Titel „Ibsen“, sehr gut erhalten, es folgte „Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung“, danach „Friedrich Hebbel und seine Dramen“, „Die deutsche Literatur von Goethe bis zur Gegenwart“ und schließlich „Ricarda Huch. Ein Wort über Kunst des Erzählens“. Warnungen antiquarischer Anbieter wegen zu erwartender Frakturschrift ignoriere ich tapfer und regelmäßig, diese Schrift macht mir keine Schwierigkeiten. Eher schon die Entscheidung, welches der Walzel-Bücher aus meinen bescheidenen Beständen ich hernehme aus Anlass seines heutigen 150. Geburtstages. Mit Ibsen bin ich ganz gut zu Fuß, mit Hebbel inzwischen auch einigermaßen, dann aber weist mir mein eigener noch frischer Satz den Weg: „Man muss Ricarda Huch mögen und deshalb auch jeden Anlass, der wieder einmal zu ihr führt wie eben Carola Sterns Buch.“ Das steht erst seit dem 24. Oktober im Netz bei mir in dieser Rubrik. Oskar Walzels Buch aus dem Jahr 1916 mit dem bekannten Insel-Segelschiff auf dem Titel führt nicht nur zu Ricarda Huch, sondern in neun überraschend gut lesbaren Kapiteln mitten in ihr bis dahin veröffentlichtes Werk.

Die vom Insel-Verlag hinten zu Werbezwecken zusammengestellte Werkliste der Huch, die ja nur vier Monate älter war als Walzel, zählt stolze 26 Titel, zwei davon zweibändig, einer dreibändig, was immerhin dreißig Bücher ergab. Und Oskar Walzel? Bei WIKIPEDIA stammt die jüngste Aktualisierung vom 22. Oktober 2014 und man erkennt auf den ersten Blick, dass kein Autor sich bisher von den jeweils gegebenen Aufforderungen „bearbeiten“ animieren ließ. Die wenigen Informationen sind dürftig bis nichtssagend, STADTWIKI DRESDEN ist, wohl weil Walzel an der Elbe eine Professur inne hatte ab 1907, schon deutlich ausführlicher, wenngleich immer noch  knapp. Oskar Walzels Antrittsvorlesung „Die Wirklichkeitsfreude der neuen Schweizer Dichtung“ ist dieser Seite noch unbekannt, ihre jüngste Aktualisierung stammt vom 28. September 2014, obwohl es die gedruckte Ausgabe von 1908 sogar noch in mehreren Antiquariaten zu gar nicht unverschämten Preisen zu kaufen gibt. Da Walzel nach Dresden an die Technische Universität von einem Lehrstuhl in Bern kam, darf angenommen werden, dass er seine dort erworbenen Kenntnisse frisch verarbeitete.

Die TU Dresden vergibt einen Oskar-Walzel-Preis für hervorragende Abschlussarbeiten, im Sommersemester 2010 begannen Oskar-Walzel-Vorlesungen, von deren Fortleben die zuletzt am 2. Dezember 2010 aktualisierte entsprechende Internet-Seite der TU freilich nichts mitteilt. Spuren unausrottbaren Akademiker-Dünkels sind im dort lesbaren Text ungetilgt. Es heißt: „Zwar hatte der Germanist Walzel 1894 bei Jacob Minor habilitiert, doch seine akademische Laufbahn war bis dahin nicht ganz zunftgemäß verlaufen. Denn er hatte sich auch einen Namen mit Beiträgen zum Feuilleton großer Tageszeitungen und zu Kulturzeitschriften gemacht...“. Man denke sich diese unvorstellbaren Verstöße gegen die unter seriösen Lehrstuhlinhabern geltenden stillen Regeln! Nicht zufällig steht da das Wort „zunftgemäß“, welches stracks und ohne viele Umwege in die Geschichte des Mittelalters führt, womit fast alles gesagt ist. Noch heute ist bekanntlich der im Fernsehen auftretende Professor aus zünftigen Disziplinen unter Kollegen sofort Unperson, vor allem unter den Kollegen, die, wie ich an dieser Stelle immer gern wiederhole, nicht einmal von ihren eigenen Studenten durchweg mit Namen gekannt werden, deren höchstes Lebensglück im Empfang einer Festschrift zum runden Geburtstag besteht mit möglichst mehrsprachigen, für die wirkliche Welt bedeutungslosen, dafür aber umso mehr Fußnoten ausweisenden Texten.

Schon Oskar Walzels Lesbarkeit ist nicht sehr zunftgemäß, sein Leben in den letzten Jahren auch nicht. Da wurde nämlich am 4. Juli 1936 seine Streichung aus dem Vorlesungsverzeichnis der Universität Bonn veranlasst, weil der emeritierte Ordinarius eine nicht nur zunftwidrige, sondern auch rassegesetzauffällige Ehe führte und zwar schon seit 1894. Hedwig Karo, die die Ehe zur Mischehe machte, wurde Ende 1944 nach Theresienstadt deportiert, wo sie starb. Oskar Walzel starb zwei Monate nach seinem achtzigsten Geburtstag am 29. Dezember 1944 im Feuer eines Brandes in seiner Bonner Wohnung, ausgelöst von alliierten Bombern. Ricarda Huch, der sein Buch von 1916 wie zuvor schon einige zunftwidrige Zeitungsbeiträge galten, überlebte ihren Altersgenossen noch um knapp drei Jahre, sie starb am 17. November 1947. Ob sie und wie sie von Walzels Tod erfuhr, ist mir nicht bekannt, also auch nicht, ob und wie sie reagierte. Barbara Bronnen, deren Buch über die letzten Jahre von Ricarda Huch ich in dieser Rubrik im Juli zum Gegenstand machte, hat von Oskar Walzel keine erkennbare Notiz genommen. Das ist in aktueller biographischer Literatur eher die Regel als die Ausnahme, gründliche Kenntnis von Vorleistungen könnte im Zweifel den Biographen demotivieren und den verkaufswilligen Verlag verärgern. Wichtig ist nur, dass das neu erfundene Rad halbwegs rollt.

Seit 2007 gibt es an der Universität Bonn ein Findbuch zum Teilnachlass von Oskar Walzel, 345 Seiten stark, ob es wissenschaftliche oder wissenschaftshistorische Aktivitäten auslöste, vermag ich ebenfalls nicht zu sagen. Immerhin gibt es einen Punkt, in dem ich mir vollkommen sicher bin. Sein Buch über Ricarda Huch mit dem etwas seltsamen Untertitel ist ein gutes Buch. Denn es ist ein verständnisvolles Buch, ein feinfühliges, ein Buch vorsichtiger Folgerungen und bescheidener Selbstzurücknahmen. Es formuliert seine über den Gegenstand hinausgehenden Thesen unaufdringlich und es macht mich in mindestens einem Fall geradezu extrem neugierig. Ganz zum Schluss nämlich referiert Walzel das 93 Seiten starke Büchlein „Natur und Geist als die Wurzeln des Lebens und der Kunst“. Er stellt Bezüge her zur umfangreichen Darstellung „Die Romantik“, die mich bewegt, wo immer ich sie aufschlage, Bezüge auch zu den vorher vorgestellten Büchern verschiedener Genres und Gattungen und macht mir allein mit seiner Zusammenfassung dessen, was über das Wesen von Männern und Frauen von Ricarda Huch niedergeschrieben wurde, klar, warum diese Autorin zu ihrer Zeit wie auch heute gewissermaßen ein personifiziertes Alleinstellungsmerkmal ist. Das liest sich wie frühe Transgender-Erkundungen, zugleich aber auch wie eine Hardcore-Provokation gegen eindimensionales EMMA-Weltbild.

Dass man sich 1914 noch keinerlei Gedanken über verkaufsfördernde Buchtitel machte, weil man vielleicht sogar meinte, das nicht zu müssen, verrät der überaus dröge Titel natürlich auch. Man muss es halt wissen, dass da hochinteressante Verbindungen zu Schiller hergestellt sind, Sätze über Amerikaner fallen und über Juden, die schlicht frappieren. Oskar Walzel glaubt feststellen zu dürfen: „Die Schrift von Natur und Geist gipfelt in dem Wunsch, den Menschen vom Persönlichen zu erlösen.“ Das ist ein Satz der Sorte, der heute ausreicht, Protest zu provozieren ohne die geringste Kenntnis, was eigentlich gemeint sei. „Merkwürdig, wie kräftig sie Dichter ablehnt, in denen man ihre nächsten Nachbarn, vielleicht sogar ihre Meister suchen möchte.“ Auch das liest Walzel aus diesem kleinen Buch. Und er weiß, dass es keine Arroganz bedeutet, wenn sie  nur Shakespeare, Goethe und Schiller mit hoher Achtung nennt. Gottfried Keller fehlt in dieser Aufzählung, weil es eben bei Huch große Affinität zu ihm gab und dennoch Differenz. Es ist einfach gut zu lesen, wie Walzel einzelnen Stoffverwandlungen bei ihr nachgeht, begonnen bei Keller und besonders imposant bei Hartmann von Aue und seinem „Der arme Heinrich“.

Oskar Walzel bleibt weitgehend bei der Werkchronologie, nachdem er eingangs über „Bekennertum und künstlerische Objektivität“ schrieb. Hier thematisiert er Ricarda Huchs Lyrik: „Unmittelbarer verkündet kaum eine zweite Frau ihr innerstes Fühlen.“ Um dann allgemeine Sätze über Lyrik zu formulieren, die Gültigkeit beanspruchen sogar da, wo sie analysierendes Tun fast ironisch relativieren: „Es ist gar so leicht, in der Bewertung lyrischer Dichtung gründlich zu irren.“ Wie klug: „Ein Mann kann nur nachfühlend, nicht nacherlebend sich in diese Lieder hineinversetzen.“ Wer in der Lyrik sein urpersönliches Ich unterdrückt zugunsten allgemeingültiger Bekenntnisse, dessen ist sich Walzel ganz sicher, der muss scheitern. Doch auch das gilt ihm: „Lyrik im höchsten Sinn ersteht ja nur, wenn das Ich des Dichters sich zu einer Mehrzahl erweitert, wenn er Tausenden die Worte leiht, die ihnen selbst versagt sind.“ Da wird ihm heute die halbe Branche widersprechen, Lyrik gilt ausgesprochen und unausgesprochen als exkludierend, Spielarten und Dosierungen von Hermetismus sind ihr gepflegtes Markenzeichen, die Atomisierung des Buchmarktes durch Bezahlverlage und Independent Labels mit antikommerziellem Ehrgeiz macht alte Fragen wie alte Antworten noch Branchenfremden nur noch lächerlich. Leider.

In unterschiedlicher Intensität, nie aber nur oberflächlich, widmet sich Walzel der Novelle „Fra Celeste“, dem „Lebenslauf des heiligen Wonnebald Pück“ (Superseller der Insel-Buch-Reihe), den Romanen „Michael Unger“, „Aus der Triumphgasse“, „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, der Erzählung in Briefen „Der letzte Sommer“. Er nennt die Erzählinstanz schlicht Mittler, siehe, es geht auch bei einfachen Begrifflichkeiten nichts verloren und er nähert sich und umkreist Kernfragen, die Ricarda Huch immer wieder bewegt haben: „Die Brücke vom Menschen zum Menschen ist zu leicht gebaut. Sie bricht zusammen, während man meint, sie noch festen Schrittes begehen zu dürfen.“ Walzel spürt den Punkt genau, auf den es die Huch schließlich bringt in bestimmten Höhepunkt-Szenen. Und wo es ihn drängt, nicht zu belegende Vermutungen zu äußern, zügelt er sich mannhaft: „Ich denke nicht daran, diesen Rhythmus des Erlebens in Ricarda Huchs eigenen Schicksalen aufzuspüren.“ Heute sind Biographien Boulevard-Stoff, biographisch-küchenpsychologische Deutungen alter Art wirken fast rührend und man muss bei großen Jubiläen großer Autoren nur abwarten, was aus welchen Biographien den Weg in den SPIEGEL findet, um den Stand der Dinge zu kennen.

Wo Walzel im „Michael Unger“ das „Rautendeleinthema“ diagnostiziert, vertraut er den Lesern seiner Gegenwart von 1916, denen „Die versunkene Glocke“ von Gerhart Hauptmann bekannter Stoff war, das ist nun nicht mehr so, doch dafür gibt es Suchmaschinen und ihre sekundenschnellen erschöpfenen Auskünfte inklusive der Aufführungsrechte bei Felix Bloch Erben. Ricarda Huch ist für Walzel die Dichterin, von der zu erwarten ist, dass sie noch über Ibsen und Hauptmann hinausgeht und er findet präzise die Stelle, wo sie das tut, „den Augenblick, indem sie ihren ganzen Stolz preisgibt, in dem sie über sich selbst hinauswächst, während sie sich erniedrigt: diesen Augenblick eines letzten vergeblichen Ansturms mit aller Pein, die auch der Bestürmte zu leiden hat, schöpft, wohl als erste, Ricarda Huch aus.“ Es geht um die verlassene Frau im Roman. Den Kenner der im marxistisch-leninistischen Kulturtheoriegebäude gepflegten Auffassung von den zwei Nationen in einer überrascht in der Behandlung des Romans „Aus der Triumphgasse“ ein Passus, der eben darauf hinausläuft und es besteht kein Grund zur Annahme, Walzel hätte sich in alle Stille und anonym auf Lenin bezogen. Sollte letzterer gar in dieser oder jener Hinsicht doch nicht ganz falsch gelegen haben? „Wer wirklich die Kluft überbrücken will, die zwischen arm und reich besteht, muß ganze Arbeit machen, muß alles hingeben.“

So verrückt es klingt, Walzel hat damit ziemlich bewusst aufgedeckt, was für ein unangenehm ehrliches Buch dieser Roman ist, im Verhältnis zwischen Belwatsch und der alten Farfalla wird jeglicher Sozialdemokratismus der winzigen Schritte, jegliche Politik des symbolischen Tuns, des Setzens von Zeichen ad absurdum geführt, aber eben nicht mit kommunistischer Perspektive, sondern in tiefstem Pessimismus: „Darum klingt auch das Buch vom Elend und von der Unheilbarkeit der Armut aus in der Erkenntnis, daß noch wärmstes Mitgefühl eine dauerhafte Brücke vom Menschen zum Menschen nicht errichten kann.“ Es gibt wenig Trost dabei: „Verstanden werden, Verständnis bei den Mitmenschen finden: das wäre das einzige Mittel, den Menschen aus seiner Vereinzelung zu befreien. Und dieses Mittel bleibt dem Menschen versagt.“ Den literarischen Nachweis sieht Walzel bei und von Ricarda Huch geführt. Die er dann noch glaubt, schützen zu müssen vor dem falschen Vorwurf anläßlich einer Aussage des weisen Arztes im „Armen Heinrich“, demzufolge das Opfer des Mädchens gut war: „Und was könnte sie tun, als Knechte gebären? Also ist es billig, daß sie sterbe, um Euch zu retten.“ Solche Zuspitzungen braucht es, um billiger Moral auf die Sprünge des Selbstzweifels zu helfen.

In der Dichtung „Von den Königen und der Krone“ findet Walzel Poesie in höchster Formung und Sprache, in der gigantischen Darstellung des dreißigjährigen Krieges spürt er verborgene Architekturen auf, macht auf die Differenzen des Wallenstein-Bildes in diesem Dreibänder zum später separat behandelten Wallenstein aufmerksam, mehr geht auf gut hundert Seiten kaum. Natürlich sind auch „Die Geschichten des Garibaldi“ und „Das Leben des Grafen Federico Confalonieri“ gebührend berücksichtigt, Tonhöhen im „Garibaldi“ fein erlauscht. Brutal klingt, was Ricarda Huch über Mädchen schreibt, die sich dazu verstehen, Künstler zu werden: „Sie nehmen fortlaufend Anläufe zum Schaffen und erreichen nichts, sie fühlen und gebärden sich als Künstler, aber ihnen fehlt, was den Künstler ausmacht: das Können.“ Damit kein Missverständnis entsteht: Unmittelbar anschließend widmet sie sich dem zu früh verweiblichten Jüngling und man wird fast handgreiflich dazu gezwungen, in ihren Sätzen ein Bild Hugo von Hofmannsthals zu sehen als Exempel. Walzel: „Offener deckt sie ihre Karten nirgends auf.“ In ihrer Zeit ist, wie er sich sicher ist, Ricarda Huch „eine Erscheinung für sich“. Sie ist es bis heute geblieben.


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