Benno Pludra: Bootsmann auf der Scholle

Auch an Nachrufen auf Schriftsteller lässt sich ablesen, aus welchem Holz eine Feuilletonredaktion geschnitzt ist. Da ist eine, längst auf einen missmutigen und lustlosen Einzelkämpfer geschrumpft, der ohnehin lieber kostenlos mit Pressekarte und Freundin in ein Konzert geht, über das er nicht schreiben muss. Er nimmt die von unausgelasteten Agentur-Korrespondenten verfasste Vorlage, kramt ein wenig in der obersten Schublade seines Gedächtnisses und kombiniert am Ende sein Kürzel mit dem der Agentur. Das Ergebnis zeigt auch auf einer Goldwaage keinen Ausschlag. Am anderen Ende der Skala das Nachrichtenmagazin. Im Falle Benno Pludra attestierte es dem Toten, er „lieferte den Beweis, dass ein bekennender Sozialist durchaus die Individualität des Menschen und nicht nur den Klassenstandpunkt im Blick haben kann.“ Wem aber musste dieser Beweis geliefert werden? Und warum fand der Schlussredakteur des Nachrichtenmagazins nicht, dass es besser „Individualität der Menschen“ statt „Individualität des Menschen“ geheißen hätte?

Immerhin: das Nachrichtenmagazin wusste „Bootsmann auf der Scholle“ als einzigen Titel Pludras zu nennen, dessen kleine Helden angeblich zur DDR gehörten „wie der Sandmann oder der Ostseeurlaub.“ Die „Literarische Welt“ war zwei Tage zuvor mit fünf Pludra-Titeln und doppelt so viel Zeilen unter die Nachrufer gegangen: „Den Untergang der DDR hat Pludra als Niederlage empfunden – einig mit der Partei jedoch ist er niemals gewesen“. „Bootsmann auf der Scholle“ sei sein „wohl bekanntestes“ Buch, man kennt dieses „wohl“, das jegliche Behauptung zulässt, weil es die These von dem sauber trennt, der sie scheinbar aufstellt. Es „erzählt von einem Hund, der im weiten Meer scheinbar rettungslos alleine ist.“ Hier hat der Verfasser offenbar nicht einmal das West-Hörbuch zur Kenntnis genommen, für das Stefan Kaminski seine Stimme herlieh. Der DDR selbst, das mag trösten, war das 1959 zuerst erschienene Büchlein mit den charakteristischen Illustrationen von Werner Klemke allenfalls eine kurze Erwähnung wert in allen großen Überblicksdarstellungen, Erfolg beim Publikum und Würdigung seitens der Kritik oder gar Literaturwissenschaft saßen auch im Sozialismus in verschiedenen Etagen.

Siggi Seuß, den man gelegentlich im Meininger Theater treffen kann, seiner Begleiterin das umfangreiche Arbeitspensum erläuternd, dem er sich gerade unterzieht, schrieb bei Gelegenheit der Verleihung des deutschen Jugendliteraturpreises an Benno Pludra für dessen Gesamtwerk: „Realsozialistischer Mief und grenzenlose Phantasie der Alten und der Kinder, das war der Stoff für Pludras Alltagsgeschichten. Sich dabei einem Handlungsmuster unterwerfen, einer Kartografie der Geschichte, das wollte er nie. Immer wenn eine Handlung von ihm gefordert wurde, habe er sich schon vorher wie tot gefühlt, sagt er.“ In „Bootsmann auf der Scholle“ fehlt der Mief, dafür gibt es eine Handlung mit Spannung und das weite Meer ist eher das hafennahe Küstengewässer. In einem Interview an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg sagte Pludra: „Wenn ich alte Bücher aufschlage, die ich als Junge sehr gerne gelesen habe, da finde ich natürlich auch viel Stuss. Da könnte man nun sagen: Es war schade um die Zeit. Aber ich habe das eben gern gelesen.“ Genau das ist der Punkt. Man muss auch den Autor Benno Pludra nicht nachträglich für den Stuss entschuldigen, der sich in seinen Büchern ebenfalls finden lässt, er hat den deftigen Ausdruck vor den angehenden Lehrern, die ihm zuhörten, nicht absichtslos gewählt.

Cornelia Geissler schrieb über den „Vater von Lütt Matten“ nach dessen Tod am 27. August 2014: „Denn wenn auch darin mal von Pionieren und Wimpeln die Rede ist, ging es nicht um sozialistische Helden. Der Autor nähte solche Wörter an unauffälliger Stelle als Etikett in seine Geschichten ein.“ Ist dem am 1. Oktober 1925 geborenen Pludra, der seinen 89. Geburtstag nur um wenige Wochen verfehlte, damit irgendwie geholfen? Braucht er solche fadenscheinigen Entlastungszeugnisse? Für „Bootsmann auf der Scholle“ stimmt es nicht einmal, dort ist das rettende Schiff ein sowjetisches Schiff mit roter Fahne, die von weitem erkennbar ist. Dort heißt der Koch Nikita, was in der Chruschtschow-Ära natürlich reiner Zufall war. Schon weniger Zufall ist, dass dieser Koch das höchste Lob für den Jungen Uwe aussprechen darf, höher als das Lob, das der Kapitän des Schiffes formuliert: „Ein richtiger Pionier.“ Der Leser des Trompeterbuches Nr. 3, die Reihe war noch ganz frisch, erfuhr, dass das uralte Schiff nach seiner Rückkehr nach Leningrad in ein Pionierschiff verwandelt werden soll und die Aussicht auf einen Besuch dort versetzt Uwe in ausgemachte Hochstimmung, auf alle Fälle will er ein Foto hinschicken.

Pludras langjährige Lektorin Katrin Pieper verriet den Lesern von „Neues Deutschland“ in ihrem Nachruf: „Mit der kleinen Erzählung „Haik und Paul“, die eine Sommerliebe zwischen einem Hamburger Mädchen und einem Jungen aus der Niederlausitz beschreibt, skizzierte er die deutsche Problematik der Nachkriegsjahre und blieb der zeitgebundenen Unlösbarkeit der Konflikte nichts schuldig. Was eine Nachauflage zu DDR-Zeiten in Frage stellte.“ Sie ist 1986 dennoch zustande gekommen und zwar in einer veränderten Fassung, es wäre interessant, die Fassungen zu vergleichen. Wie es interessant wäre zu erfahren, welche Kürzungen die Neuauflagen prägten, die nach 1990 in westdeutschen Verlagen gedruckt wurden. „Haik und Paul“ war 1965 das letzte Buch von Pludra, das ich las, Kinder- und Jugendbücher im engeren Sinne waren da schon nicht mehr das, was mich jungen Leser interessierte, eher Abenteuer, eher historische Romane, auch Krimis bereits und erste utopische Romane. 1986 aber, als „Haik und Paul“ verändert gedruckt wurde, gab es auch eine überraschende Debatte um „Das Herz des Piraten“, das die Süddeutsche Zeitung viel später als Band 39 in ihre Buchreihe „Junge Bibliothek“ aufnahm. „Auffällig ist, dass dieser Autor in seinen Büchern immer die DDR vergaß“, hielt Kerstin Decker für den „Tagesspiegel“ fest: „Niemand wollte bei Pludra Kosmonaut werden, in die Pionierorganisation eintreten oder Altstoffe sammeln.“ Die Sprache, so Decker, sei für Benno Pludra „Meerersatz“ gewesen.

Monika Lakomy, ebenfalls rückblickend: „Für mich war und ist er der allerbeste Kinder- und Jugendbuchautor weit und breit.“ Sie durfte sich sogar das „wohl“ sparen, das in der „SUPERillu“ sicher ein Fremdkörper gewesen wäre, könnte man meinen, doch wenige Sätze später steht es dann doch: „Wohl in jedem Kinderbuch von Benno kommt ein Hund vor.“ Das sagt man, wenn man nicht jedes gelesen hat. Ich dürfte also nur Wohl-Sätze formulieren, hätte ich den Ehrgeiz, generalisieren zu wollen. Mein neuer Blick in „Bootsmann auf der Scholle“ aber ist ein Blick in eigene Kindheit. Es verrät mir, dass der Kinderbuchautor Pludra, der kurze Zeit Lehrer war, zuerst bei kleinen Mädchen, denen er sich nicht gewachsen fühlte, Schwierigkeiten hatte damit, einem bestimmten Alter bestimmte Fähigkeiten zuzuordnen. Sein sieben Jahre alter Uwe ist viel zu klug, viel zu stark, viel zu erfahren für einen Siebenjährigen, Eltern und Großeltern von Siebenjährigen können das beliebig bestätigen. Dass Katrinchen dagegen, die Fünfjährige, wohl genau der Mädchentyp ist, mit dem Pludra als Neulehrer sich überfordert fühlte. Der sechsjährige Jochen ist ein Boxer, der Jungentyp, der auch bei Franz Fühmann dem kritischen Blick ausgesetzt wird.

1959 durfte ein Schlepperkapitän noch stark wie ein Walfänger sein. Und die Männer auf dem sowjetischen Schiff, die zeigten dem starken Uwe nicht nur, dass starke Arme allein nicht reichen für eine Rettung. Man muss eine Barkasse zu Wasser lassen: „Wie schnell und wie kühn sie auf ihn zufliegt!“ Was aber ist an einer Barkasse, die auf ein zu rettendes Kind zufährt, kühn? Kein Sturm, kein Seegang, kein Hai in der Nähe? Nur die Ostsee in Hafennähe. „So einfach geht das, denkt Uwe. Man muss bloß Freunde haben wie Mischa und Kolja.“ Wenn schon keine DDR im Buch, dann doch immerhin ein satter Happen Deutsch-Sowjetische-Freundschaft, die dann keine DDR gewesen wäre? Nein, Benno Pludra braucht solche Verteidigungen nicht, wie sie ihm posthum zuteil wurden. Und über die Schwierigkeiten mit der Verfilmung von „Insel der Schwäne“ wissen wir längst, dass es Ulrich Plenzdorf war, der die subversiven Elemente ins Drehbuch schmuggelte, worüber schon Ursula Püschel (IMS Margot Otto) einst mündlich ihren Führungsoffizier informierte. Pludra selbst fand es in Heidelberg als zu eng gedacht, eigene Bücher nicht mehr verbessern zu dürfen. Was sicher stimmt und dennoch problematisch bleibt.

„Bootsmann bellt die Möwen an. Aber die Möwen kümmern sich nicht um ihn. Sie schwimmen und schaukeln ruhig weiter.“ Als ich diese Sätze wieder las nach mehr als fünfzig Jahren, hatte ich das unbedingte Empfinden, mich an ihre ferne Wirkung zu erinnern. Ich meinte, jene radikale Einsamkeit zu spüren, die das Hündchen Bootsmann fühlen muss angesichts dieser arroganten Möwen, die ausschließlich mit sich selbst befasst sind. Trauernde klagen bekanntlich selbst die Sonne an, weil sie immer noch scheint über Gerechte und Ungerechte. „Ein Buch über die eigene Person zu schreiben, ist schwer, man muss sehr darauf achten, dass man sich nicht zu schön macht.“ Sagte Pludra den Lehramtskandidaten. Pludra konnte in seiner Zeit als Redakteur der Rundfunkzeitung während der Arbeitszeit an seinen Büchern schreiben. Heute haben nur noch die ganz großen Zeitungen so viel Personal, dass einige der edelsten Federn ununterbrochen Bücher auf den Markt werfen, derweil das Gehalt weiter läuft. Bei kleinen Zeitungen schaffen es Mitarbeiter nicht einmal mehr, ihre Kurztexte Korrektur zu lesen. War Pludra deshalb ein „verbummelter Redakteur“, wie man lesen durfte? Er schrieb auch etwas, was er „Ausweichgeschichten“ nannte. Dieser schöne Begriff verdient, in die Geschichte der DDR-Literatur aufgenommen zu werden. Woraus eine neue Geschichte würde.


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