Heinrich Böll: Mönch und Räuber

Der Pfarrer sagt: „Ich kenne keinen Milutin in Beguna, hin und wieder gibt es den Namen, es ist ein grusischer Name, und es gibt nicht viele Grusen hier.“ Darauf Eugen: „Auch ich bin ein Gruse.“ Und wieder der Pfarrer: „Ich weiß, im ganzen Sprengel, dessen Dechant ich bin, gibt es höchstens fünf Grusen. Sie sind -- nun, ja, sie zählen nicht zu den Frömmsten.“ Wir sind mitten im Dialog des frühen Böll-Hörspiels „Mönch und Räuber“. In der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT las man am 12. November 1953 eine Programmankündigung für Mittwoch, den 18. November: „Nach einer Legende des französischen Dichters Ernest Hello hat Heinrich Böll für den Bußtag ein Hörspiel von dem Heiligen geschrieben, der von Gott den Auftrag erhielt, den Menschen zu suchen, der ihm am ähnlichsten sei, ihn aber erst dort findet, wo er ihn am wenigsten vermutet. In Stuttgart führt Paul Land, in Hamburg Gustav Burmester Regie.“ Während Gustav Burmester (14. Dezember 1904 – 6. Juli 1978) als Hörspielregisseur immerhin zweimal den Hörspielpreis der Kriegsblinden zugesprochen bekam (1953 für „Die Andere und ich“ von Günter Eich, 1957 für „Die Panne“ von Friedrich Dürrenmatt), ist Paul Land offenbar so sehr vergessen, dass Informationen über ihn auch mit Aufwand nicht zu finden sind. Von Ernest Hello (4. November 1828 – 14. Juli 1885) sind einige Schriften sogar ins Deutsche übersetzt erschienen, darunter die „Heiligengestalten“.

In Bölls Briefwechsel mit Ernst-Adolf Kunz gibt es den Brief vom 9. Januar 1953, in dem es zunächst wie in vielen anderen Briefen dieser Zeit auch darum geht, welche Geschichte Bölls welcher Zeitung angeboten werden kann und soll. Damals druckten ganz normale Tageszeitungen noch kurze Geschichten, nicht nur Fortsetzungsromane. Für Böll aber galt das Augenmerk fast ausschließlich dem Vermeiden von Doppelangeboten, die eine Geschichte war da schon gedruckt, durfte also nicht noch einmal in dieser Redaktion landen, die andere dagegen sehr wohl. Der Brief endet mit dem Nachsatz: „Habe 2 – 3 neue Hörspiele in Arbeit um Bau zu finanzieren.“ Dass „Mönch und Räuber“ eines dieser drei Projekte war, ist nur aus den Anmerkungen zu erschließen. Denen zufolge gab es die Erstsendung am 9. August 1953 im Süddeutschen Rundfunk. Der Reclam-Hörspielführer von Heinz Schwitzke nennt generell keine exakten Erstaufführungsdaten, kann dafür also nicht als alternative Quelle dienen. Die Anmerkungen nennen als nähere Quelle die Ausgabe der „Heiligengestalten“, die der Jakob Hegner Verlag Köln und Olten 1953 in gebundener Form herausbrachte. Es ist jedoch auch denkbar, dass Böll eine alte Ausgabe von 1934 zur Hand hatte oder die ziemlich stark gekürzte aus dem Verlag Die Arche Zürich 1946. 1959 erschien der ungekürzte Text als Fischer Taschenbuch, seither nicht wieder, auch Ernest Hello ist vergessen.

Immerhin: der Böll-Biograph Heinrich Vormweg, der mit seiner auf Irmgard Keun bezogenen falschen Aussage, es sei „nahezu sicher, dass der Heimkehrer Heinrich Böll von ihr nichts wusste“ in die (fiktive) Raupensammlung „Fehlgriffe namhafter Autoren“ gehört, kennt Ernest Hello. Christian Linder dagegen, der sich mit einer schmalen und mit einer voluminösen Böll-Biographie versucht hat, kennt ihn nicht. Das soll dennoch keineswegs den Eindruck vermitteln, als sei hier ein Desiderat der Forschung glücklich benannt: so wichtig ist das alles wieder nicht. Denn vorher müssten ja die Perspektiven auf Böll wenigstens versuchsweise weg von der Prosa gerichtet werden, doch bindet das einigermaßen umfängliche Erzählwerk fast alle Kräfte. Und die neunbändige Ausgabe der Reden und Schriften, die vor Jahren der Deutsche Taschenbuch Verlag in seiner dtv-Reihe vorlegte, hat aus mir nicht bekannten Gründen Bölls Besprechung der „Heiligengestalten“, die am 24. Oktober 1953 im Deutschen Volksblatt erschien, nicht aufgenommen und somit auf eine schwer zugängliche Quelle für die frühe Werkgeschichte verzichtet. Immerhin: der eingangs schon zitierte Dechant erzählt seinem Gast, dass es dennoch in Beguna „ein paar wirklich fromme Seelen gibt“. Zwei von ihnen nennt er namentlich: Annemarie, die Frau des zweiten Direktors, und den Lehrer Heinz. Gab es da nicht eine Annemarie im Leben Bölls, der auch mal Heinz genannt wurde?

Ordnen wir es einer speziellen Art von Humor zu, wenn ein Autor den Namen seiner Ehefrau in einem seiner Werke nutzt: „... die kommt jeden Tag in die Kirche, und überhaupt, sie ist ein guter Mensch und hat ein demütiges Herz.“ Zu ihr passt jener Heinz bestens, „... auch ein frommer Mann, der ein wenig im Geruch der Heiligkeit steht“. Spätestens der späte Böll hat sich bekanntlich tatsächlich etwas wie den Ruf einer weltlichen Heiligkeit erworben, ein Ruf, der nicht wenige Blicke auf sein Werk arg voreingenommen machte. In seinen frühen Jahren aber stand Heinrich Böll viel stärker unter dem Einfluss von katholischen Autoren der so genannten „renouveau catholique“-Bewegung wie Leon Bloy oder eben Ernest Hello, als man das lange wahrhaben wollte oder angesichts der Quellenlage auch nur wahrnehmen konnte. Erst der voluminöse Bestand der Kriegsbriefe hat manchen Einblick freigegeben, auch der in Teilen schwer erträgliche Nachlass-Roman „Kreuz ohne Liebe“ ergänzt das Bild in durchaus unangenehm überraschender Weise. Und ausgerechnet über einen Heiligen und den ihm ähnlichen Milutin, der der Armut lebt und verschenkt, was er hat, schreibt Böll ein Hörspiel, um einen Bau zu finanzieren! Hier ist nicht der Platz für verlogene Moral. Es soll nur gesagt worden sein, dass das Lob der Armut eigene Armut in der Mehrzahl aller Fälle nicht automatisch einschließt. Leon Bloy und Böll wäre ein eigenes Thema.

Das Hörspiel hat eine anspruchslose Struktur. Der Mönch Eugen erzählt, seine Erzählung wird von Rückblenden unterbrochen, die die jeweils angesprochene Szenerie verlebendigen. Eugens Leben begann in größter Armut und führt bis zu einer Verehrung im Alter, die in ihm etwas wie einen lebenden Heiligen sein möchte. Aus unerfindlichen Gründen hat Böll alles in einem seltsamen geographischen Niemandsland angesiedelt, allein die im Text auftauchenden Namen sind einerseits sehr deutsch, andererseits in slawische Richtung deutend. Ein Volk der Grusen ist frei erfunden, eine Frau Baskoleit weist auf Ostpreußen. Das karge Hochland, in dem die Knaben Eugen und Mulz als Hirten tätig waren, trägt die Bezeichnung Baitha, auch das ein nicht lokalisierbares Wort. Mulz ist Sohn eines Räubers, den Eugen im Traum als einen Mann sieht, an dem Könige vorbeiziehen. Es soll sich, das scheint auf alle Fälle eine Absicht gewesen zu sein, auch nicht ansatzweise um reale Orte und reale Zeiten handeln, denn ein Räuberleben, wie es beschrieben ist und die industrielle Ausbeutung in Gruben daneben passen nicht. Eugen ließ sich von Mulz Geschichten erzählen und hat von seinen selbst gedrehten Zigaretten geraucht. An den Geschmack des Tabaks erinnert er sich immer wieder und raucht am Ende sogar nach mehr als fünfzig Jahren noch einmal. Nur nebenbei sei an den extrem hohen Stellenwert des Tabaks und der Zigarette im Leben Bölls erinnert.

Eugen blickt in eine Zeit vor fünfzig Jahren zurück, seinen Ruf als quasi Heiliger hat er auf die klassische Weise erworben, er hat eine Sünderin und einen Räuber auf den rechten Weg gebracht. Dass die bekehrte Sünderin sich einmauern lässt und viele Jahre mit der Außenwelt nur Kontakt hat, wenn ihr Essen durch eine Klappe gereicht wird, rundet das anachronistische Geschehen ab. In dem eines aber ganz gegenwärtig und ganz Böll ist: seine Kritik an Amtskirche. Er hat über viele Jahre nie eine Gelegenheit ausgelassen, dieser Kritik Gestalt zu geben. Hier klagt der Räuber Bunz den Bischof an, sieben Menschen seine Liebe versagt zu haben. Darunter war auch der Diakon Julius, „... weil er eine lange Predigt hielt über den Vers: Armen wird die frohe Botschaft verkündet.“ Der Räuber Bunz wörtlich zum Bischof: „Vieles erschien dir gefährlich, was ungefährlich war, und vieles ungefährlich, was gefährlich war.“ Träume haben große Bedeutung in diesem Spiel. Eugen macht sich überhaupt nur auf den Weg, weil ein Bruder den Namen des Mannes geträumt hatte, den er treffen wollte. Milutin ist am Ende niemand anderes als der Jugendfreund Mulz, der Sohn des Räubers. Außerhalb der paar Straßen, in denen die Armen von Beguna wohnen, kennt ihn niemand. Er singt unter strengem Regime in der Kneipe, um Gäste zum Trinken zu animieren. Er lässt sich dennoch keine Gelegenheit entgehen, mit den Kindern des Dorfs zusammen zu sein.

Milutins Wirtin verrät Eugen, der bei ihr warten darf: „Manche halten ihn ja für ein bisschen dumm, weil er alles verschenkt und immer, wenn er Zeit hat, mit den Kindern spazieren geht.“ Als endlich der Moment da ist, dass Milutin seine seltsame Arbeit beendet hat, will der gar nicht wissen, warum Eugen kam, er freut sich einfach, dass er da ist. Sie rauchen gemeinsam, Eugen scheitert mit seinem Versuch, den einstigen Freund, der ihm tatsächlich sehr ähnlich ist, mit in sein Kloster zu nehmen. Eugen macht sich auf den Heimweg, wohin ihm das Gerücht vorauseilte, er sei getäuscht worden. Er zieht sich aus seinem in ein anderes Kloster zurück in der Baitha. Seine letzten Worte im Spiel lauten: „... und ich verbringe den Rest meines Lebens in Gebet und Betrachtung über den Satz: Viele wohnen im Hass, welche glauben, in der Liebe zu wohnen, und viele glauben, im Hass zu wohnen, welche in der Liebe wohnen.“ Das klingt wie ein Bibelsatz, ist aber keiner. Stolze 3000 Mark betrug das Honorar für ein rund einstündiges Hörspiel damals, das bisweilen fast fieberhafte Arbeiten vieler namhafter Autoren für den Rundfunk hat mindestens diese einfache Erklärung. Irrig ist nur eine Annahme: dass Brotarbeit Ehrgeiz und Anspruch automatisch ausschließt. Heinrich Böll hat eine ganze Reihe von Hörspielen verfasst, nicht alle sind zu Lebzeiten auch gedruckt worden. „Mönch und Räuber“ war keine Sternstunde des Rundfunks, verdient aber auf jeden Fall Respekt.


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