Sławomir Mrożek: Auf hoher See

Erst 2002, im Jahr seines 82. Geburtstages, legte Marcel Reich-Ranicki im Göttinger Wallstein-Verlag ein Buch vor, das einer Reihe seiner Äußerungen zu polnischer Literatur versammelte. Wie vollständig oder selektiv die Auswahl war, kann ich nicht beurteilen, den zweiten seiner beiden Texte zu Sławomir Mrożek jedenfalls, ein Porträt, hat er gekürzt. Der Widmung für seine Frau Teofila ist zu entnehmen, dass sie es war, die ihm in den leidvollen Jahren 1940 bis 1944 in Warschau die polnische Literatur nahe brachte. Es lässt sich nicht sagen, ob der Kritiker, der 1960 und 1962 über Mrożek schrieb, also zu einem Zeitpunkt, da er selbst noch nicht lange wieder in Deutschland lebte und arbeitete, später eine fundierte Meinung zum Dramatiker gewonnen hätte. In „Erst leben, dann spielen. Über polnische Literatur“ jedenfalls kennt er nur „Die Polizei“, weil sie in Frankfurt am Main aufgeführt wurde. Sein Urteil darf der nicht so sehr üppigen Rubrik „glattes Fehlurteil“ zugeordnet werden. „Herzlich unbedeutend“ war weder „Die Polizei“, die ich heute sogar sehr dringend suchenden Bühnen ans Herz legen würde, weil sie frappierende Schlaglichter auf Phänomene werfen könnte, von denen der Autor selbst nicht einmal ahnte, noch etwa „Auf hoher See“, der Einakter von 1961, der bei Bedarf als Teil eines Triptychons gesehen werden kann.

Wenn ich mich aus dem Fenster lehnte wollte, müsste ich sagen: „Auf hoher See“ ist, falls es das denn überhaupt geben kann, ein perfektes Stück. Perfekt wäre es auch dann noch für mich, wenn ich mich entschließen könnte, die Szene mit dem Briefträger als überflüssig anzusehen, wie es Marta Fik tat, die das Nachwort zur einzigen DDR-Ausgabe von Mrożek-Stücken schrieb (Verlag Volk und Welt 1977). Ich sehe sie aber nicht als überflüssig an, denn auch ein Einakter muss eine gewisse Spielsubstanz auf eine Bühne bringen, wenn die Zuschauer nicht schon wieder gehen sollen, nachdem sie sich kaum gesetzt haben. Und die Idee mit einem Briefträger, der schwimmend ein Telegramm zustellt bei einem Schiffbrüchigen auf einem Floß, ist eine von vielen absurden Momenten in einem Feuerwerk absurder Elemente auf so wenigen Druckseiten. Denn dieser Briefträger kehrt, nachdem er schon einmal von hinnen schwamm, noch einmal zurück, weil er vergessen hatte, sich den Empfang des Telegramms quittieren zu lassen. Und war zwischenzeitlich noch ein echter Kandidat, gegessen zu werden auf hoher See. Denn darum geht es: drei Männer in guten Anzügen, weißen Hemden und korrekt gebundenen Krawatten haben nichts mehr zu essen auf ihrem Floß, weshalb einer von ihnen sagt: „Wir müssen essen, aber nicht etwas, sondern jemanden. … Wir müssen einen von uns essen.“ Der das sagt, ist „der Dicke“, die beiden anderen sind dünner.

Wie genau sie auf das Floß kamen, erfahren wir nicht, warum sie drei Stühle auf dem Floß haben und einen Koffer, erfahren wir auch nicht. Was sich im Koffer befindet, versetzt uns in höchstes Erstaunen, weil es haargenau das ist, was gebraucht wird. Das Stück führt vor allem vor, auf welchem Wege drei Männer, der Dicke, der Mittlere und der Schmächtige, zur Entscheidung zu kommen versuchen, wen sie denn nun essen wollen. Die größte Absurdität, die komischerweise von den Stimmen zum Stück, die ich kenne, übersehen wurde, besteht darin, dass sich der Dicke und der Mittlere zügig einig sind, den Schmächtigen verspeisen zu wollen. Rational betrachtet, dann aber wäre das eben kein Stück des polnischen absurden Theaters, wie es sich in den fünfziger Jahren entwickelte, ohne blind nachzuahmen, was im Westen an Vorleistung bereits da war, müsste der Dicke in die Pflicht genommen werden, er lieferte den aus schierer Masse am längsten reichenden Nahrungsvorrat. Weder der Dicke noch der Mittlere geben zu erkennen, ob ihnen diese Logik auch nur einen Moment in den Sinn kam. Zum absurden Theater gehört auch, dass es nicht reflektiert, wie das, was auf der Bühne geschehen soll oder angedeutet werden soll, mit Logik geschehen könnte. Der Mittlere will sich als Koch profilieren, der natürlich nicht gegessen werden kann.

Er bringt ins Gespräch, dass man den Schmächtigen mit dem Briefträger füllen könnte, oder umgekehrt. Der Dicke überlegt, ob man aus dem Briefträger Burgunder keltern könnte. Das alles schreit auf schönste Weise zum Himmel. Der Mittlere beginnt bereits, den nicht vorhandenen Tisch mit weißer Tischdecke und allem zu decken, was der Koffer an Bord enthält: rein zufällig, denn auch der Zufall ist hier neben prinzipieller Absurdität noch mit der ganz speziellen ausgestattet, die dieses und nur dieses eine Stück braucht. Der Koffer hätte Damenbinden, Gebetbücher und einige Brett-Spiele enthalten können, doch hat er genau das in seinem Inneren, was das Spiel in seiner Absurdität steigert. Der Autor verlangt, als jenes Messer gewetzt wird, mit dem das Opfer vom Leben zum Tod und in handliche Teile zerlegt werden müsste, echte Requisiten, wegen des sehr unangenehmen Geräusches! Das liegt nahe und doch muss man erst darauf kommen und es dann als Regiehinweis niederschreiben. Wegen der Demokratie halten alle drei Männer Reden, nachdem das Losverfahren scheiterte, weil statt der nötigen drei vier Zettel im Zylinder steckten. Dergleichen passiert sogar unter Journalisten, ich war vor Jahren Zeuge, wie die Mitglieder des Bayerischen Landesverbandes Stimmzettel des Vorjahres in die Urne warfen, was die Wahl ungültig machte.

Der beinahe ganze Spaß des überaus vergnüglichen Einakters voller rabenschwarzen Humors liegt in den verlogenen Argumentationen aller drei Herren. Das Stück verifiziert in geradezu klassischer Weise auch das berühmte Brecht-Diktum: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Nur von einem der drei Herren wird halbwegs klar ein sozialer Status benannt, der Dicke ist ein Herr Graf, wie ein vorübergehend zum Floß gekommener und dann sofort und befehlsgemäß ertrinkender Lakai den anderen verrät, nur indem er seinen Herrn anspricht. Der wiederum verrät sich auch, indem er den Namen des Dieners nennt, den er angeblich niemals hatte. Der ist nebenher eine Karikatur all jener übertreuen Diener aus der Theaterliteratur, die man so kennt. Mir fällt eben Firs ein aus dem „Kirschgarten“, weil sein genialer Darsteller Jürgen Holtz eben starb. Dem Schmächtigen ist die proletarische Phrase zugeordnet: „Wir haben uns hier versammelt, um das brennende Problem der Lebensmittelversorgung einer Lösung entgegenzuführen.“ Der Dicke sagt: „Ich würde mich bereit erklären, die Macht zu ergreifen.“ Was den Mittleren rasch dazu bringt, „Sieg heil!“ und „Führer, befiehl!“ zu rufen, was bei Interpreten dann schon mal unangenehme Erinnerungen wachruft. Der Mittlere behauptet dreist: „Wenn es ums Gemeinwohl geht, müssen die Gefühle schweigen.“

Man könnte, wenn man wollte, die Soziologie des Mittleren zur interessantesten im Fünf-Personen-Spiel erklären, es würde aber den Einakter schon arg überstrapazieren. Ein solcher muss sich nicht schämen, wenn er mit einigen starken Einfällen, etlichen frappierenden Sätzen glänzt und nicht auch gleich noch die bisherige Sozialgeschichte des Mittelstandes zu revidieren auffordert. Auch der Schmächtige trägt seins bei. Als er den näher schwimmenden Briefträger aus der Ferne sieht, sagt er: „Wie leicht kann es passieren, dass ein Bauer, der mit seinem Ferkel zum Markt geht, ins Wasser fällt! Er schwimmt und schwimmt und umklammert krampfhaft mit einem Arm das Ferkel, sein einzig Hab und Gut.“ Man mag sich nicht ausmalen, wenn an Bord des Floßes Schiffbrüchige mosaischen Glaubens säßen oder Muslime, die mit Ferkeln wenig am Hut haben. So weit hat sich Sławomir Mrożek dann wohl doch nicht ins Dickicht der absurden Spekulation gewagt, immerhin findet sich am Ende im Koffer auch Kalbfleisch mit Erbsen. Da aber ist die Geschichte schon zu weit fortgeschritten, das schmächtige Opfer hat sich in seine heroische Rolle hineingefunden und es argumentiert mit sich und für sich selbst so, wie es im Westen niemand auch nur annähernd so lustig finden kann wie im einstigen Osten, wo Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit gesehen wurde.

Das haben zwar weder Marx noch Engels noch Lenin je so gesagt, aber das Gerücht, sie hätten es, hielt sich über das Ende des real existierenden Sozialismus hinaus und wenn es nicht gestorben ist, dann lebt es noch heute. Der Schmächtige sagt: „Freiheit, das bedeutet nichts! Erst die wahre Freiheit bedeutet etwas. … Wenn die wahre Freiheit nicht das gleiche ist wie die gewöhnliche Freiheit, wo ist dann folglich die wahre Freiheit? Das ist doch klar! Die wahre Freiheit ist nur dort, wo es keine gewöhnliche Freiheit gibt.“ Mrożek ist immer wieder auf das Stichwort Freiheit in seinen Stücken zurückgekommen und immer wieder hat er höchst seltsame Sätze dazu und darüber gebildet, die natürlich allesamt rabenschwarze Ironie waren. Marta Fik hat übrigens darauf aufmerksam gemacht, dass eine sehr spezifisch polnische Tradition von Mythologisierung des Opfers eine Rolle spielt, dabei insbesondere die polnische Romantik. Das konnte im Westen natürlich niemandem auffallen, denn dort kennt niemand Polen, geschweige denn die polnische Romantik. Das hat nun wieder Marcel Reich-Ranicki schlagend verraten, als er beim Thema, siehe oben, darüber schrieb, warum Mrożek niemand kennt im Westen: „Ihm haftet nichts Sensationelles an. Die Presse hat über keinerlei Affären und Skandale um Mrożek berichten können.“ Eben.

Ob der Schmächtige am Ende tatsächlich verspeist wird, bleibt natürlich offen, absurdes Theater ist kein Splatter-Trash. Marta Fik wörtlich: „Da haben wir die Macht einer Literatur, die jahrelang den Sinn des Opfers mythologisiert hat, das jedesmal ein extremes Ausmaß annehmen muss – so lässt sich auch der gewöhnliche Mord adeln.“ Solcher Satz las und liest sich im katholischen Polen noch anders als hierzulande oder vormals in der DDR. Martin Esslin, Spezialist für die Geschichte des absurden Theaters von Beckett bis Pinter, hat zu Mrożek kaum Substantielles zu sagen, selbst der biedere Helmut Prang redet nicht nur vom Totalitarismus, ihm zufolge ist der Erfolg des Polen auch außerhalb seines Landes groß, „weil er ebenso typisch Polnisches wie Allgemeinmenschliches europäischer Verhältnisse ad absurdum führt.“ Ähnlich sieht es Georg Hensel: „Viele Stilmittel des absurden Theaters tauchen in Mrożeks Grotesken auf, und was sich auf den ersten Blick wie der pure Spaß am Absurden ausnehmen mag, wirkt wie bewusste Tarnung, sobald man den politischen Kern entdeckt hat: Die bizarren Einfälle, die zunächst einer verspielten Phantasiewelt anzugehören scheinen, treffen satirisch die diktatorischen Gelüste der realen Welt – nicht nur des Ostens, versteht sich, sondern überall.“ Man könnte sagen: ein toter Neunzigjähriger ist jünger als sehr viele Junge.


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