Brigitte Birnbaum: Fontane in Mecklenburg

Im Lexikon „Schriftsteller der DDR“, zweite unveränderte Auflage von 1975, ist Brigitte Birnbaum immerhin eine knappe halbe Seite gewidmet, der wir entnehmen dürfen, dass sie in wenigen Tagen, am 29. Mai genau, ihren 84. Geburtstag wird feiern können. Geboren wurde sie in Elbing, wohin meine zehn Jahre ältere Mutter immer wieder gern eine Ferienreise zu ihrer Tante unternahm, meiner Großtante, die eine Schwester meines Großvaters war. Auch ich sah einmal Elbing vom Wasser her, aber nicht lange, im Rahmen einer Masuren-Reise. Das Lexikon kennt viele ihrer Werke noch nicht, insbesondere die nicht, in denen sie Kindern von historischen Persönlichkeiten wie Käthe Kollwitz, Heinrich Zille oder Alexander Puschkin erzählt. Vom Fritz-Reuter-Kunstpreis im Jahr 1977 kann das Lexikon ebenso nichts melden wie vom Kunstpreis der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, in der nahezu jeder DDR-Bürger irgendwann Mitglied wurde, und sei es auch nur, weil sonst sein Kollektiv nie „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ geworden wäre. Auf Fontane ist Brigitte Birnbaum noch später gekommen. „Mir imponiert der Briefschreiber Theodor Fontane. Vielleicht, weil ich selbst nicht begeistert Briefe schreibe. Gewiss aber, weil seine Briefe eine eigene, hochinteressante Form von Literatur sind.“ Las man am 20. Februar 1987 in der „Schweriner Volkszeitung“, die „Fontane-Blätter“ druckten es nach, ehe die DDR dahinschied.

Dass eine Autorin, deren zahlreiche Bücher nach 1990 vermutlich ebenso rasch in Vergessenheit gerieten wie die Bücher der meisten anderen DDR-Autoren, die nicht dem Geschäftsmodell Systemkritiker gefolgt waren, nach neuen Betätigungsfeldern und Themen suchte, versteht sich von selbst. Dass man als Neu-Mecklenburgerin seit 1945 aufs Regional-Lokale verfiel, hat viele Parallelen in den plötzlich zu neuen Bundesländern mutierten alten DDR-Bezirken. Aus Schwerin, Neubrandenburg und Rostock war Mecklenburg-Vorpommern geschmiedet worden, heute ein Bundesland mit riesigen Landkreisen, zwei von ihnen sind zusammen sicher größer als ganz Thüringen, Geographen werden mich korrigieren. Ins Jahr 1994 fiel der 175. Geburtstag von Theodor Fontane, der Demmler Verlag Schwerin und Brigitte Birnbaum griffen beherzt zu und heraus kam „Fontane in Mecklenburg“, 139 gezählte Seiten stark plus etwas Werbung, sehr großzügig gedruckt mit vielen Illustration und vor allem sehr viel Kursivdruck. Reinhard Rösler, gut anderthalb Jahre jünger als Birnbaum, zunächst Deutschlehrer in Schwerin, Hochschullehrer später in Güstrow und Rostock, schrieb für die „Fontane-Blätter“ wenig später eine bemerkenswert unkritische Kritik, die von drei sehr groben Fehlern zwei übersah und es zudem unterließ, die benannten Fehlleistungen des Buches aus eigenem Wissen zu korrigieren.

Ein Kritiker, das versteht sich eigentlich, stellt sich immer auch selbst ein Zeugnis aus, wenn er anderen eines ausfertigt. Wenn Rösler also ausführlich bemängelt, dass Verlag und Autorin es unterließen, ihre sehr zahlreichen und immer kursiv gedruckten Zitate mit ihren Quellen kenntlich zu machen oder gar ein Verzeichnis dieser Quellen hinten im Apparat zu drucken analog des Bild- und Dokumentennachweises, dann hätte er wenigstens den Lesern der „Fontane-Blätter“ helfen müssen, denen er erhöhtes Interesse an Fontane wohl unterstellen durfte. Bei den zitierten Briefen verfuhren Autorin und Verlag, das kommt erschwerend hinzu, durchweg uneinheitlich: Mal sind die Adressaten genannt, mal die Daten, manchmal sogar beide, oft aber auch nicht. Allein die Kenntnis der Briefkopf-Daten aber hilft jedem halbwegs gut ausgestatteten Fontane-Leser in seinen Privat-Beständen von Briefausgaben das entsprechende Original zu finden. Etliche dieser Ausgaben sind im Quellen- und Literaturverzeichnis zwar aufgeführt, aber eben nur bibliographisch, nicht mit den wirklichen Fundstellen der Zitate. Das ist keineswegs nur eine pflichtgemäß zu erwähnende Schwäche des Buches, es schränkt seine Nützlichkeit sehr entschieden ein. Mit der gewählten Struktur des Buches sollte man sich abfinden, auch wenn man selbst eine andere bevorzugt hätte. Birnbaum ordnet in neun Kapiteln nach Aufenthaltsorten Fontanes, Chronologie ist ihr zweitrangig.

Wem kurzzeitig auffällt, das wichtige Ostsee-Orte fehlen, die Fontane ebenfalls besuchte oder streifte, sollte bewusst sein, dass Brigitte Birnbaum auf Mecklenburg begrenzt, wie es der Buch-Titel auch zweifelsfrei ausweist. Also Rügen, Usedom, Stralsund und was einem sonst in den Sinn kommen könnte, haben bei Mecklenburg nichts verloren, denn sie sind: Vor-Pommern. Ein anderes Mitglied der Theodor-Fontane-Gesellschaft, der auch Brigitte Birnbaum angehört, hat die Lücke längst gefüllt: Fontane in Pommern ist das Thema gleich zweier Bücher von Elsbeth Vahlefeld (Jahrgang 1937), 2007 erschien das erste, 2008 in einer Nachauflage, 2021 das zweite mit dem poetischen Titel „Dann sah ich Tränen in seinen Augen“, Untertitel „Theodor Fontanes Reisen nach Pommern und seine pommerschen Freunde“. Wer alles auf einen Blick haben will und auch noch sehr knapp zusammengefasst, lese „Fontanes Sommerfrischen“ von Bernd W. Seiler (Jahrgang 1939), von dem auch „Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen“ stammt. Seiler hat ein Kapitel „An Ost- und Nordsee“ genannt und auf farbigen Karten alle Orte sichtbar gemacht, die für Fontane wichtig waren, eben auch die Küste von Usedom und die Insel Norderney, die er dreimal besuchte. Bei Brigitte Birnbaum weilen Fontane und Familie übrigens immer, Weilen scheint ihr offenbar die höhere Form des Aufenthaltes, mindestens die poetischere, es sei ihr nachgesehen.

Der Kritiker Reinhard Rösler hat ihrem Buch vor allem dies konzediert: „Das Buch ist aber natürlich mehr als eine Materialsammlung. Es lebt auch von Brigitte Birnbaums kenntnisreichen Schilderungen der Wege Fontanes in Mecklenburg, von ihren Wertungen, Fragestellungen, Denkanstößen. Ihren Schreibgestus finde ich sehr sympathisch: So könnte es gewesen sein, sagt sie mehrfach“. Da würde ich umgehend widersprechen wollen: immer dort, wo Birnbaum das Faktische verlassen muss, weil nichts Belegbares zur Hand ist, wo sie zu fabulieren beginnt, wird es entweder sehr simpel, öfter völlig überflüssig und vor allem aber fehlerhaft. Rösler entdeckte, dass Fontane nicht sein eigenes Buch in einem Schaufenster sehen konnte anno 1870, weil es als Buch erst 1878 überhaupt erschien. Dies wäre ein verzeihlicher Fehler, den man notfalls gar dem Lektorat des Verlages anlasten dürfte, wenn nicht zwei weitere sehr ähnliche Fehler unterlaufen wären, die Kritiker Rösler nicht bemerkte: natürlich kann sich Fontane nicht über Druckfehler in seinen Beiträgen für die „Vossische Zeitung“ (mehrere in einem Absatz gar) erregt haben, weil er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht für das Blatt schrieb. Auch kann ihn Mitte August 1889 nicht die bevorstehende Premiere von „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhart Hauptmann zum raschen Verlassen von Ludwigslust gezwungen haben, die sah der Kritiker erst volle zwei Monate später in Berlin.

1889 fiel Fontanes letzte Theaterkritik vor der Sommerpause der Theater auf den 26. Juni, er schrieb (zum wiederholten Male) über Lessings „Emilia Galotti“. Die erste nach der Sommerpause erschien am 21. September und betraf „Natalie“ von Iwan Turgenjew. Auch diese Aufführung war vier Wochen zuvor mit Sicherheit kein Abreisegrund. Eine ihrer verschwiegenen Quellen hat Brigitte Birnbaum immerhin erwähnt, ohne Bezug zu ihren langen Zitaten daraus freilich. Der Kritiker Rösler hat sie nicht als solche identifiziert, er hätte sie sonst benennen müssen, denn eigene Fontane-Kenntnisse verschwieg er seinen Lesern keineswegs. Es handelt sich um drei Texte, die seit Beginn der siebziger Jahre unter dem Titel „Briefe aus Mecklenburg“ etwa in der Fontane-Ausgabe der Nymphenburger Verlagshandlung München nachgelesen werden können. Birnbaum erwähnt sie im Kapitel III ihres Buches über Doberan, weiß auch, wo sie fünf Jahre später zuerst gedruckt wurden und dass der Herausgeber wie Fontane in Berlin in der Potsdamer Straße 134c wohnte. Was aber hielt sie davon ab, als Quellen für ihre Kapitel zu Warnemünde (I), Rostock (II) und Doberan (III) just diese „Briefe“ ausdrücklich zu benennen? Im Buch aus München umfassen die drei Briefe nicht mehr als neun Druckseiten, es schließen sich ein Text „Sommers am Meer“ und einer „Rügen“ an. „Sommers am Meer“ hat Birnbaum ebenfalls kräftig genutzt, ohne Quellenangabe.

Aus dreieinhalb Seiten „Rostock“ nahm sich Brigitte Birnbaum knapp anderthalb Seiten zum Rostocker Blücher-Denkmal. Die Passage über die so genannte Blutstraße scheint ihr ihren Lesern eher unzumutbar gewesen zu sein: einen Gassenkehrer, der den ersten Dänen mit eine Hacke niederschlug, hat sie glatt unterschlagen: das erwähnte Massaker war ein deutsches gegen Dänen. Vor das Rostock-Kapitel aber setzte sie ihr Warnemünde-Kapitel und offenbarte darin bereits das Buch durchziehende Eigenheiten, die man keineswegs lobenswert finden muss. Sie verarbeitet eigene Recherche-Ergebnisse, die mit Fontane und seiner reisenden Familie nur mittelbar zu tun haben; Fahrtzeiten etwa, Umstiegsorte unterwegs. Sie malt die Fahrt nach Warnemünde auf dem Wasser aus. Was Fontane prosaisch Wasseromnibus nennt, ist ihr der Dampfer „Phönix“ und dann äußert sie: „Hoffen wir für Fontane und seine Familie, dass der Breitling ruhig blieb“. Kann man für das Leben eines seit fast hundert Jahren Toten etwas hoffen? Warum verwandelt sich der Reeder Friedrich Gustav Hübner, in dessen Hotel die Fontanes logieren, später in Herrn Hübner, wie man es in Kinderbüchern schreibt? Was bedeutet: „Das war Fontane zu früh. Seine Frau hätte es lieber anders gehabt.“? Wollte sie auch später als 12 Uhr essen, oder wollte Emilie, dass Theodor sich mit 12 Uhr anfreunden könnte? Schon hier fällt auch auf, dass manche Namen nicht erläutert werden.

Zwar hat das Buch Personenerläuterungen, aber einige Namen sind dort einfach nicht aufgenommen. Und da in diese Sommerfrische der Beginn des Deutsch-Französischen Krieges fällt, sieht sich Brigitte zu seltsamen Erwägungen genötigt: „Damals wie heute manövert Kriegsgerät, wo es der Ernstfall braucht.“ „Weder schlechtes Wetter noch Krieg vermochten die Fontanes aus Warnemünde zu vertreiben.“ Wo ja auch gar kein Krieg war, nur Sohn George musste an die Front: „Fontane beklagte es nicht. Ein Militär ist ein Militär. Auf der Kriegsakademie ist niemand, um tanzen zu lernen.“ Falls das indirekte Fontane-Zitate sein sollten (ich kenne sie nicht), wären sie dringend als solche zu kennzeichnen, sonst müsste man annehmen, dass die einstige Bibliothekarin Birnbaum sehr merkwürdige Ansichten vom Krieg hegte. Eine Aussage zu Fontanes Goethe-Lektüre kommentiert sie so: „Das war dann wohl doch nicht die richtige Strandlektüre.“ Als hätte Fontane mit Sonnenbrille und Sonnenhut im Sand gelegen und ausgerechnet Goethe zum Langweilen mitgenommen. Gegen Ende des Kapitels nennt sie ein Briefdatum und die Adressatin, um auf der nächsten Seite für einen weiteren Brief wieder beides zu verschweigen. Sie weiß aus Fontanes Notizen, wie oft er Kerzen kaufte, nicht aber, ob er allein bei „Herrn Hübner“ wohnte. Sollte Fontane Geld für Kerzen notiert, Ausgaben für Frau und/oder Familie verschwiegen haben?

Ins zweite, das Rostock-Kapitel, ließ Brigitte Birnbaum erst einmal auf mehreren Seiten ihre Kenntnisse zur Familie Dr. Friedrich Witte einfließen und deren Beziehungen zur Familie Fontane. Erst nach vollen elf Seiten kommt das drei Seiten benötigende Langzitat aus dem ersten der „Briefe aus Mecklenburg“. Verbunden mit dieser schon beinahe peinlichen Frage: „Wie lange mag Fontane vor dem Denkmal verweilt haben? Wie oft es betrachtend umrundet?“ Erwähnt werden Dr. Karl Eggers und Professor Friedrich Eggers und ihre Beziehungen zu den Fontanes. Fakten aus dem Rostock-Aufenthalt aber hat sie nicht, deshalb behilft sie sich mit einer Aussage über Emma Eggers und spätere Zeiten: „Emma muss Fontane stark beeindruckt haben. Schon als Fünfjährige erhielt sie von ihm Briefe, und sie sandte ihm Lackherzchen und Oblaten.“ Emma wurde 1881 geboren, zehn Jahre nach Fontanes zweitem Aufenthalt in Warnemünde. Ein Gustav Eggers, dritter und jüngster Bruder, komponierte, seltsam genug, zu einer weitgehend unbekannten Novelle von Fontane, zu „James Monmouth“, eine Ouvertüre. Dieser Eggers starb zehn Jahre vor Fontanes erstem Besuch in Warnemünde. Im Kapitel über Doberan zitiert Birnbaum knapp sechs Seiten in aller Ausführlichkeit aus dem dritten der „Briefe aus Mecklenburg“, um anschließend zu beklagen, was alles er unerwähnt ließ oder gar nicht erst sah. Und sie zapft eine weitere von ihr verschwiegene Quelle an.

Jetzt handelt es sich um Arbeitsnotizen Fontanes, die er sich machte für mögliche spätere Texte, die keinesfalls immer auch tatsächlich entstanden. Zu finden sind sie, Schwerin, Kloster Dobbertin und auch Kloster Doberan betreffend, in einem als Band VII der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ausgewiesenen Band der „Großen Brandenburger Ausgabe“, die es auch in Form von Taschenbüchern des Aufbau-Verlages Berlin und somit hinreichend verbreitet gibt. Mit dem wenigen, das Fontane zu Güstrow hinterließ, ist die Autorin sehr unzufrieden: er habe weder die Gitter am Schloss gesehen noch Dom und Pfarrkirche erwähnt, weshalb sie für kurze Momente regelrecht gallig wurde: „In seiner heimischen Mark Brandenburg kam Fontane doch an keinem Leichenstein vorbei, ohne die bewegte Vergangenheit der alten Adelsgeschlechter zu entziffern.“ Eben, in seiner heimischen Mark! Und so erzählt sie halt selbst, was es noch zu sehen gab und gibt in Güstrow. Das einmal erfolgreich genutzte Verfahren des Lang-Zitates dient auch im Schwerin-Kapitel bestens: Die knapp zwei Druckseiten aus genanntem Band VII übernimmt sie, um sofort zu einem Brief an Emilie Fontane überzugehen, was sehr irritierend ist, denn Brief und Notizen sind verschiedene Quellen. Auch hier füllt die Autorin auf und schließt mit der Aussage, Fontane habe in Schwerin nicht übernachtet, dafür aber den Nachtzug genommen, Ankunft 5 Uhr in Berlin.

Das Dobbertin-Kapitel, das weithin ein Kapitel über Mathilde von Rohr ist, beginnt wieder irritierend: „Damals war sie Mitte bis Ende dreißig, er neun Jahre jünger.“ Am Altersabstand zwischen Mathilde (9. Juli 1810 – 16. September 1889) und Theodor Fontane hat sich im Lauf der Jahre nichts verändert, dennoch merkt Birnbaum an: „Wie gut, dass Mathilde älter als Fontane war.“ Angeblich gut gegen eine mögliche Eifersucht von Emilie Fontane. Ob es lange Nächte am Kamin gab, ist eher zu bezweifeln, worüber beide dann sprachen, natürlich unbekannt. „Keinem zweiten Menschen brachte Fontane ein solch grenzenloses Vertrauen entgegen wie dieser Freundin. Mühelos vermag ich mir die beiden vorzustellen …“. Birnbaum imaginiert eine gemeinsame Kahnfahrt mit einem rudernden Fontane. Ein Jahr später reist er mit seiner Gattin an, sonderlich eifersüchtig kann die tatsächlich nicht gewesen sein. Dennoch haben sie und Tochter Martha später alle Briefe der Freundin vernichtet, was biografisch wichtig, im Mecklenburg-Zusammenhang aber eher unwichtig ist. Den Entwurf aus Band VII nennt Birnbaum immerhin einen bis vor kurzem unveröffentlichten Entwurf und übernimmt ihn auf fast acht Seiten ihres Buches, kursiv wie üblich. Auch hier greift sie über die beiden Reisejahre hinaus vor auf 1878, 1882 und auf den letzten Besuch im Jahr 1889 kurz vor dem Tod der Mathilde von Rohr, spekuliert über Gesprächsinhalte.

Dass Theodor Fontane einen zwanzig Druckseiten (in meiner Ausgabe der Briefe) umfassenden biographischen Essay über seine langjährige Freundin verfasst hat, erwähnt Brigitte Birnbaum nicht. Ihr verbleiben noch drei Kapitel: VII über Ludwigslust, VIII über Waren an der Müritz und schließlich, das Buch beschließend, IX über Neubrandenburg. In Ludwigslust lebt Clara von Below, geborene Müller, eine Halbschwester von Fontanes Frau Emilie, seit 1847, als Fontane zuerst in Ludwigslust aus einem Zug stieg, sind 42 Jahre vergangen. Hier gibt Brigitte Birnbaum wie selbstverständlich eine Quelle an, wo man über die Tage von 1847 nachlesen könne: es ist das spät erschienene zweite autobiographische Buch Fontanes, betitelt „Von Zwanzig bis Dreißig“. Der Leser wird dort enttäuscht umblättern, vermutet sie, und führt zum Beleg eine Passage an, die seltsame Interessen Fontanes zu belegen scheint. Tatsächlich weist das Personenregister zu diesem Buch weder den Namen der Clara Müller noch den Namen von Below aus. Die beanstandete Stelle zum Umblättern findet sich im zweiten Kapitel des Abschnitts „Fritz, Fritz, die Brücke kommt“, das in allen Ausgaben leicht aufzusuchen ist. Kurioserweise erspart sich Brigitte Birnbaum den Anfang des Satzes, obwohl genau der auf Clara und ihren Gatten verweist, auch wenn beider Namen nicht fallen. „Über Ludwigslust wird er keinen Artikel schreiben, auch keine Ballade.“ Bedauerlich?

Dafür weiß die Autorin, in welche Straßen Fontane abbog und wohin er seine Blicke schweifen ließ, das ist schon mehr als verblüffend, denn hier heißt es eben nicht: so könnte es gewesen sein. Selbst eine Verlangsamung seiner Schritte weiß sie auf das Straßenpflaster zurückzuführen. Am 19. August teilt Fontane dann einem Freund mit, er sei wieder in Berlin. Das Kapitel endet mit dem falschen Verweis auf die bevorstehende Hauptmann-Premiere in Berlin. Voller Vermutungen auch das Kapitel über Waren an der Müritz bis hin zu der, dass der Kutscher Vorbild für einen „Rosselenker“ in „Der Stechlin“ geworden sein könnte. „Seine Briefe aus den Warener Tagen sprühen aber von Munterkeit und freundlicher Ironie.“ Christian Grawes „Fontane-Chronik“ datiert den Urlaub in Waren vom 18. August bis 15. September 1896, man wohnt in der Villa Zwick ohne Licht und ohne Wasser, dafür mit einem halbstündigen Fußweg mit Mittagessen. Die Ehrlichkeit einer Empfehlung an einen Freund bezweifelt Brigitte Birnbaum so: „War es ihm ernst mit seiner Begeisterung? Oder übertrieb der Journalist Fontane, der es verstand, auch noch aus Kleinigkeiten Interessantes zu schälen?“ Warum aber sollte ein Freund dem Freunde etwas empfehlen, das gar nicht zu empfehlen wäre? Warum schließlich übertreiben, wenn er die Verpflegung im Hotel „Stadt Hamburg“ lobte? Und weitere Zweifel der Autorin werden festgehalten, seltsame Unterstellungen gleich angefügt.

So vermutet sie, Fontane könnte die Figurensprache einiger Hauptfiguren in seinem letzten Roman „Der Stechlin“ seiner eigenen geopfert haben, weil er spürte, es könnte sein letztes Werk werden. Dies würde voraussetzen, dass er einen unabweislichen Drang nach quasi letztwilligen Mitteilungen verspürt hätte, für die es freilich keines Romans als Einkleidung bedurfte. „Höchst selten wird er mit seinen Damen einen Ausflug unternommen haben, etwa mit dem Dampfschiff eineinhalb Stunden nach Röbel, für eineinhalb Mark pro Person.“ Und schon malt sie sich und ihren Lesern diese Seefahrt aus, nennt eine neue Gaststätte, wo man gegessen haben könnte. Und in Waren könnte man Ehrfurcht vor Fontanes Doktortitel gehabt haben. So ist sie immerhin auch diese Information losgeworden und kommentiert: „Nicht nur gegenwärtig geschehen solche Ehrungen geburtstagshalber.“ Da wäre es klar informativer gewesen zu verraten, dass die am 8. November 1894 ausgestellte Promotionsurkunde Fontane am 24. November in seiner Berliner Wohnung überreicht wurde von den Professoren Ferdinand Freiherr von Richthofen und Erich Schmidt. Letzterer hielt am 2. Oktober 1898 dann auch die Gedächtnisrede während der Gedenkfeier des Vereins „Berliner Presse“ im Festsaal des Rathauses. Josef Kainz trug Fontane-Gedichte vor an jedem Sonntag. „Seine Romane stießen teils auf Ablehnung, teils auf Gleichgültigkeit.“

Mit dieser Feststellung verabschiedet sich Brigitte Birnbaum aus Waren an der Müritz, um sich abschließend Neubrandenburg zuzuwenden. Fontanes Aufenthalt dort wird von Christian Grawe vom 9. Juni bis 17. Juli 1897 angegeben, er widmet sich vor allem der zweiten Überarbeitung von „Der Stechlin“. Kurz vor seiner Abreise schrieb Fontane einen Brief an den Verleger Wilhelm Hertz, der am 2. Juni seine Goldene Hochzeit gefeiert hatte, um ihm seine Fahrt anzukündigen. Seine Skepsis, dieses Datum selbst zu erreichen, hat sich mit seinem Tod am 20. September 1898 als berechtigt erwiesen. Der Brief an Hertz aber, in der Ausgabe der Briefe Fontanes an Wilhelm und Hans Hertz als Nummer 562 von 569 überlieferten ausgewiesen, enthält endlich auch einen Satz für die Tourismus-Büros im Mecklenburg der Gegenwart: „Ich bin gern in Mecklenburg, wie in allen Ländern und Städten, die man in dem öden und dämlichen Berlinertum unserer Jugend für Plätze zweiten Ranges hielt“. Brigitte Birnbaum kommentiert kurz: „Wie tröstlich für unsereins!“ Und für ihre Leser bleibt es ebenso tröstlich zu wissen, wie leicht Lokalpatrioten zu trösten sind. „Fünf Wochen Mecklenburg. Denkbar, dass ihnen mehrere Räume zur Verfügung standen“. Das ist in der Tat mehr als denkbar, denn Fontane kam mit Gattin, Tochter und einer Bediensteten an.

Brigitte Birnbaum lässt den Wind in Fontanes „Stechlin“-Manuskript blättern und just die Seiten aufschlagen, auf denen sich passende Zitate finden, so sieht dichterische Freiheit eben aus. Gattin Emilie wird nicht im Bad imaginiert, da Damen die Kabinen nur bis 10 Uhr benutzen durften. Welche Cafés Fontane besucht haben könnte, erfahren wir, auch, welche nicht und das gleich mit Begründung. Ob die drei Fontanes die sieben Jahre zuvor begründete Städtische Kunstsammlung besuchten, wissen wir nicht, ob sie das Museum im Treptower Tor sahen, auch nicht: „Immerhin war es das erste bürgerliche Museum in Mecklenburg-Strelitz.“ Sollte das ein Grund für einen Besuch gewesen sein? Da hätte die Autorin wenigstens verraten müssen, was es zu sehen gab anno 1897: eine Sammlung zur Ur- und Frühgeschichte der Gegend am Tollensesee, 1872 eingerichtet. Das war eher nicht Fontanes weites Feld und Metier. Zwei Briefe an den späten Briefpartner Georg Friedlaender zeichnen abschließend ein eigentümliches Bild vom Geschlecht der Mecklenburger. Obwohl auch hier die Angabe eines Briefdatums für alle neugierigen Nachleser hilfreich gewesen wäre, die Briefe an Friedlaender liegen als Buch leicht zugänglich vor, fehlt sie bei Birnbaum. Das erste Zitat findet sich in Brief 232 vom 8. Januar 1895, das zweite in Brief 234 vom 19. März 1895. Bezeichnend, was vor allem aus dem zweiten Brief dem Rotstift der Autorin zum Opfer fiel.

Sie liefert damit wohl unfreiwillig eine plausible Erklärung für ihr aufs Ganze des Buches gesehen mehr als ärgerliches Verschweigen von Quellen. Brigitte Birnbaum beginnt mit „Sie haben unbestreitbar eine wunderbare Durchschnittsbegabung …“ und ist damit sehr nahe an einer klaren Verfälschung der Aussagen Fontanes, weil sie alles Vorige unterschlägt, von dem ihr Beginn nur ein Satzteil nach Komma und Gedankenstrich ist. Nur wenn man das Gestrichene aus beiden Briefen kennt, erklärt sich diese seltsame Frage der Autorin: „Wer hatte sich Fontane so dickschnäuzig präsentiert? Oder ihm die kalte Schulter gezeigt? Fritz Reuter? Oder Heinrich Seidel?“ Um Heinrich Seidel, den Fontane auch persönlich sehr gut kannte, geht es in beiden Briefen, im zweiten um sein Buch „Von Perlin nach Berlin“, 1894 im Leipziger Verlag A. W. Liebeskind gedruckt. Fontane lobt das Buch und begründet seine dennoch nicht zu unterdrückende Abneigung: „… so starren mich auch aus dem, was blos von ihnen herrührt, dieselben grässlichen mecklenburgischen Glotzaugen an, die mir im Leben so ärgerlich sind. Es ist ein außerordentlich begabter Menschenschlag, und ich kann den Dünkel, daran sie kranken, nicht ganz unberechtigt finden; aber es ist mit ihnen wie mit den Juden, - …“. Erst nach diesem Bindestrich folgt, was Birnbaum wie einen beginnenden Satz aussehen lässt. Fontane verglich hier die Mecklenburger mit den Juden!

Das wollte die Autorin ihren Mecklenburgern offenbar nicht zumuten, auch die Glotzaugen nicht und so gesellt sich zu drei ziemlich groben sachlichen Fehlern am Ende sogar noch eine beschönigende Verfälschung dessen, was Theodor Fontane tatsächlich Georg Friedlaender über Mecklenburg und seine Bewohner schrieb. Es ist wenig schmeichelhaft. Beschönigend referiert auch Reinhard Rösler: „…nicht in jedem Fall kommen die Mecklenburger gut weg.“ Bezüglich der Friedlaender-Briefe hofft der Kritiker: „Sie stehen am Ende des Buches und entlassen den Leser (hoffentlich nicht nur den mecklenburgischen) vielleicht etwas nachdenklich.“ Nicht realisiert wurde bis heute sein Vorschlag: „Autorin und Verlag sollten überlegen, ob bei einer neuen Auflage hier Veränderungen vorgenommen werden können.“ Das Buch müsste weithin neu geschrieben werden, der Demmler Verlag gehört inzwischen zur Verlagsgruppe Grünes Herz, deren zweifelsfrei starke Kompetenzen nicht im Feld der Literaturgeschichte liegen. Aus der Sicht auf „Fontane in Mecklenburg“ wirkt das Folgende wie ein Offenbarungseid: „Auch ich erfuhr erst aus diesen zwei Briefbänden, dass er nach kurzem pharmazeutischen Wirken unter verschiedenen Chefs sein Leben als schlechtbezahlter Journalist und Theaterkritiker fristete“. Geschrieben 1987, ein Jahr vor dem 50. Geburtstag der Autorin, in der eingangs genannten „Schweriner Volkszeitung“. Das spricht für sich und bedarf keines Kommentars, leider.


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