Arthur Eloesser: Johann Christoph Gottsched

Wer sich die Geschichte der deutschen Literatur ans Herz legen will, kommt um Johann Christoph Gottsched nicht herum. Wie er sich ihm nähert, hängt davon ab, in welcher Gestalt ihm Gottsched begegnet: eher als Gegenstand akademischer Vorlesungen vermutlich denn als Autor, der mit seinen Schriften Interesse erheischt. Arthur Eloesser verschob als Berliner Student seine Interessen von der Allgemeinen Geschichte zeitig hin zur Literaturgeschichte, nicht zuletzt, weil ihn Heinrich von Treitschke abstieß und Erich Schmidt anzog. Schmidt, von dem „Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften“ in zwei Bänden seit 1892 gedruckt vorlag (Verlag der Weidmannschen Buchhandlung Berlin), später mehrfach Neuauflagen mit Aktualisierungen und Veränderungen, inzwischen auch Nachdrucke und Reprint-Neudrucke, lieferte Stoff vom Pult und zum Nachlesen. Paul Schlenther, der bald eine Rolle bei Eloessers Berufung in die Redaktion der Vossischen Zeitung spielte, war 1886 mit „Frau Gottsched und die Bürgerliche Komödie. Ein Kulturbild aus der Zopfzeit“ hervorgetreten. Es darf mit hoher Sicherheit angenommen werden, dass der Student wie auch der seine Dissertation schreibende Absolvent Eloesser solide Kenntnisse von Gottsched und der Gottschedin besaß, ehe er ab 1893 mit eigenen Publikationen an die Öffentlichkeit ging.

So nimmt es kaum Wunder, dass in der am 12. August 1893 verteidigten Inaugural-Dissertation „Die älteste deutsche Übersetzung Molièrescher Lustspiele“ der Name Gottsched mehrfach auftaucht, wenn auch nie innerhalb besonders gewichtiger Aussagen. Einmal ist er schlicht der Herausgeber, einmal der Mann, der korrekt zitiert (was andere eben nicht tun), zweimal geht es um seine Frau, die Gottschedin. Und einmal gibt es einen ganzen Satz zu ihm: „Im Jahre 1730 stellt Gottsched mit patriotischem Bedauern fest, „dass man noch nichts gescheidtes vorstellen sieht, dafern es nicht irgend aus Molière entlehnt oder ganz übersetzet worden.“ Eloesser zitiert aus „Critische Dichtkunst“, dem Werk, an dem Gottsched seit seinem ersten Erscheinen 1730 immer wieder gearbeitet hat, die vierte Auflage kam noch, als „Gottscheds Stern schon verblasst“ war, wie P. M. Mitchell (1916 – 1999) einmal schrieb. In seinem ersten eigenen Buch „Das bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ (Berlin 1898 Verlag von Wilhelm Hertz) kam Eloesser zwangsläufig auf Gottsched zurück: „Die Aufführungen des regelmäßigen französischen Trauerspiels waren bis zur Zeit Gottscheds kaum anderes als Travestieen, die von ihrer ursprünglichen hohen Kultur verlassen und der Stilrohheit der Bandenstücke angenähert waren.“

Gottsched spielt hier nicht als Verfasser eigener Werke für die Bühne eine Rolle, es geht um die Bezüge anderer zu ihm, etwa um Friedrich Ludwig Schröder (3. November 1744 – 3. September 1816), den Schauspieler, der selbst fleißig Stücke verfasste: „Die Kluft zwischen dem litterarischen Schriftsteller und der Bühne, die bis Gottsched noch in ihrer trennenden Schroffheit bestanden hatte, ist in diesen dürren nur moralisierenden Stücken noch nicht völlig überbrückt.“ 1909 besprach Eloesser in der Sonntagsbeilage Nummer 51 der Vossischen Zeitung vom 19. Dezember das Buch des Franzosen G. Belouin mit dem Titel „De Gottsched à Lessing“, gerade frisch in der Pariser Edition Hachette erschienen. Das Wenige, das er hier überhaupt schreibt, betrifft Lessing, Gottsched ist nur im Buchtitel und einem einzigen Satz präsent. Dieser lautet: „Durch Gottsched, unsern Lehrmeister, und Lessing, unseren Befreier, hat Frankreich im 18. Jahrhundert eine europäische Provinz verloren. Ebensoviel hat die Menschheit gewonnen.“ Eloesser lobt das Buch, weil der Autor sich ein eigenes Bild machte und, wenn auch seine Darstellung ohne Glanz und künstlerischen Wert sei, eine gute Meinung vom philologischen Betrieb in Frankreich vermittle. Erst mit der zweibändigen Literaturgeschichte 1930/31 bekommt Gottsched Profil bei Eloesser.

„Es mag als ein Symbol gelten, dass Johann Christoph Gottsched kurz vor Anfang des Jahrhunderts der Aufklärung, am 2. Februar 1700, zu Judithenkirchen bei Königsberg geboren wurde. Schon mit vierzehn Jahren bezog er die heimatliche Universität, die der stattlich Aufgewachsene aus Furcht vor den preußischen Werbern verließ; schon mit vierundzwanzig hielt er seine ersten Vorlesungen in Leipzig, wo er schnell zu einer Professur aufrückte, wo er die schon bestehende Poetische Gesellschaft noch schneller in die Hand nahm und nach einer Umbildung zur Deutschen Gesellschaft als seine Leibwache führte. Dort starb er am 12. Dezember 1766, ein Jahr, nachdem ihn Goethe ohne Perücke gesehen hatte.“ Das Symbolische, will das wohl heißen, liegt darin, dass Gottsched noch aus dem alten Jahrhundert stammt. Das neue bewegte sich dann auf das Ende von Zopf und Perücke zu, wobei Goethes Blick auf Gottsched ohne Perücke eine eigene Geschichte ist, ich bin darauf vor reichlich acht Jahren schon einmal ausführlicher eingegangen, nachlesbar unter „Jahrestage“ vom 16. Dezember 2016. Meine damalige These halte ich aufrecht: Lessing und Goethe haben der Nachwelt die falsche Gottsched-Perspektive aufgezwungen. Ich ergänze: es gab zum Glück früh schon Gegenstimmen wie von Theodor Wilhelm Danzel oder Hermann Hettner.

Beide hat Arthur Eloesser auf alle Fälle gekannt. Inwieweit er sie nutzte oder auf ihnen aufbaute, geht aus der Darstellung von 1930 nicht mit letzter Klarheit hervor: Der Philosoph Danzel (4. Februar 1818 – 9. Mai 1850) veröffentlichte „Gottsched und seine Zeit“ 1848, Hermann Hettner (12. März 1821 – 29. Mai 1882), der Literaturhistoriker, besprach das Werk in den „Heidelberger Jahrbüchern der Literatur“, 41. Jahrgang 1848, also zeitnah. Hettner publizierte später selbst eine umfangreiche „Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert“, in der DDR-Ausgabe des Aufbau-Verlages (2. Auflage 1979) reichlich 1600 Seiten stark. Das Stichwort DDR erlaubt hier den Hinweis, dass Band I der Eloesserschen Literaturgeschichte immerhin 1957 bereits einmal im Literaturverzeichnis einer Abhandlung auftauchte, die „Das deutsche bürgerliche Lustspiel der Frühaufklärung“ zu Thema und Titel hatte (1957), Verfasser Hans Friederici. Der arbeitete auch zu Lichtenberg und Eichendorff, nähere Angaben zu seiner Person waren mir bisher leider nicht zugänglich. Immerhin bekannte er sich in einer Widmung zu seinem Lehrer Paul Merker, was phasenweise in der DDR als mutig gelten durfte. Und Gottsched spielte bei Friederici selbstredend eine Hauptrolle. Doch zurück zu Eloesser, der Gottsched unverkennbar nach Verdienst sehen will.

Eine Sichtachse nimmt die Stadt seines Wirkens in den Blick: Leipzig. Der Ostpreuße Gottsched kam früh dorthin, er kam ganz sicher nicht als ein unbeschriebenes Blatt aus Königsberg, aber der Gottsched wurde er erst in der sächsischen Universitätsstadt. „Nach Leipzig lockte Gottsched die Lebendigkeit der Stadt, die sich zum Zentrum des alten Meißnischen Kulturkreises aufgeschwungen hatte“. Er fand in Leipzig „vor allem die Voraussetzungen, um einen Journalismus zu schaffen, der seiner Autorität, bis zur Auflehnung gegen seine Diktatur gehorchte.“ „Es war Gottsched gelungen, die deutsche Literatur in Leipzig zu zentralisieren, sie gedanklich unter die Herrschaft der Aufklärung, in formaler Hinsicht unter die des französischen Klassizismus zu bringen, ein zweiter Opitz auch, unter dessen Aufsicht die hochdeutsche Schriftsprache über allen Dialekten und Eigengebräuchen der Landschaften endlich entstehen sollte.“ „Im Anfang des 18. Jahrhunderts bedeutet Sachsen, nicht zuletzt durch Gottscheds zentralisierende Wirksamkeit, das gebildete und fortgeschrittene Deutschland.“ „Man kann auch nach dem Sturze Gottscheds weiter von einer Leipziger Literatur sprechen“. Verteilt über mehrere Seiten seines Buches bringt Eloesser immer wieder den Namen Leipzigs ins Gespräch, wie die wenigen Zitate unmissverständlich belegen.

„Gottsched hatte Leipzig zum literarischen Zentrum gemacht … Gottsched hatte die Stadt, die seine Wochenschriften ausschickte, zum Hort der Aufklärung gemacht“. „... seine Mittelstellung und Mittelmäßigkeit bezeichnet noch einmal die Bedeutung von Leipzig als einer Vermittlerin von literarischen und kulturellen Bewegungen, die sich bei nachlassender Aufsicht Gottscheds gut vertragen konnten.“ Die Wochenschriften nach englischem Vorbild sind eine der Leistungen, die auch bei intensiver Kritik an ihm nicht kleiner geredet werden können. Der große Kulturhistoriker Egon Friedell ließ in seiner „Kulturgeschichte der Neuzeit“ keinen Zweifel zu: „Das bedeutsamste literarische Ereignis für das erwachende Bürgertum war aber das Entstehen der englischen Wochenschriften.“ Unlösbar verbunden damit sind Richard Steele (12. März 1672 - 1. September 1729) und Joseph Addison (1. Mai 1672 – 17. Juni 1719). Wer immer über Gottsched und seine Zeitschriftengründungen schreibt, ihre Lebensdauer kam über zwei bis drei Jahre kaum hinaus, kann den „Tatler“, den „Spectator“ und den „Guardian“ nicht unerwähnt lassen. „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ gelten als erste deutsche Frauenzeitschrift. Die Vermutung, dass „Tadlerinnen“ eine auf Unkenntnis beruhende Übertragung von „Tatler“ sein könnte, wie ich las, überzeugt wenig.

Gleich zweimal erwähnt Arthur Eloesser die überlieferte Tatsache, dass Preußenkönig Friedrich nach der Einnahme der Stadt Leipzig die Professoren Gottsched und Gellert zu sich rufen ließ. „Beide waren Dichter und Professoren, beide hatten den Ruf von Erziehern der Nation zum guten Geschmack; ihre Namen standen auf dem Programm des einziehenden Siegers, der von ihren Überwindern Klopstock, Lessing, Winckelmann nichts wusste und nichts wissen wollte.“ Gottsched erhielt von Friedrich eine goldene Dose, nachdem sich beide unter anderem „über den atheistischen Dictionnaire von Bayle“ unterhalten hatten, nachdem der König dem Professor eine „eigene Übersetzung einer horazischen Ode vorlegte“. Eloesser hat, was eine Literaturgeschichte über den engsten Fachkreis hinaus lesenswerter zu machen verspricht, parat: Anekdoten von Aussagekraft. „Gottsched kam als Leibnizianer mit der fertigen Weltanschauung nach der Theodizee des Meisters, er gehörte noch enger zu seinem Popularisator Christian Wolff … Gottsched kam ferner als Opitzianer, mit der Absicht, das erste Regelbuch der deutschen Dichtkunst zur Vollständigkeit und und zur Herrschaft zu bringen. Der unternehmende Ostpreuße war ehrgeizig für seine Nation“. Der König schwieg, so Eloesser, als Gottsched ihm das Französisieren „der höheren Stände“ beklagte.

„Gottsched war auf entschlossenste und vollständigste Weise das, was man im 20. Jahrhundert einen Zivilisationsliteraten nennt; es war seine Leistung und zugleich seine Beschränkung. Der Professor, Kritiker, Übersetzer und auch Dichter, wo es not tat, gab sich als Diktator im wörtlichen Sinn, er diktierte der Nation, die von den großen europäischen in der untersten Klasse saß, das Pensum für Anfänger.“ Der Versuch, ein umfängliches Regelwerk für alles Geschriebene geltend zu machen, dabei an Martin Opitz positiv anknüpfend, ist erst viel später unter Generalverdacht geraten, als das „Originalgenie“ meinte, sich zuerst und vor allem durch Regelverletzungen beweisen zu müssen. Eloesser schreibt mehrfach vom „Fächerwerk“ welche Gottsched errichtete, was freundlicher klingt als „Schubladensystem“, wie man es im 20. Jahrhundert sinngemäß Gleiches meinend nennen würde. Der didaktischen Absicht entsprechend sah sich Gottsched stets auf Beispiele angewiesen, die ihm aber die vorhandene Literatur selten zur Hand geben konnte. „Als Gottsched auftrat, fand er die deutsche Literatur in völliger Nichtigkeit und Zersplitterung. Das 17. Jahrhundert hatte weder eine Tradition noch eine gemeinsame Aufgabe hinterlassen.“ Nur deshalb sprang Gottsched selbst ein, wenn es gar nicht anders ging, schrieb seine Beispiele selbst.

Und tat das im vollen Gefühl des Behelfscharakters. Gottsched bezog seine Frau ein, die Eloesser aus unerfindlichen Gründen zweimal Adelaide nennt, obwohl sie doch urkundlich zweifelsfrei Luise Adelgunde Victorie hieß, dreizehn Jahre jünger als ihr Gatte war und dennoch vier Jahre vor ihm starb. Sie bekam das Fach Komödie zugewiesen, sie bewies als Verfasserin solcher mehr als nur ein bescheidenes Talent. Gottsched selbst hatte wohl anhaltenden Erfolg mit seinem „Sterbenden Cato“, in Leipzig 1731 uraufgeführt, später etikettiert als erste deutsche Originaltragödie im Sinne einer regelhaften Poetik der Aufklärung, im Kern vor allem eine Übersetzung Addisons. Auch deshalb war dies in der Anrechnung seiner Verdienste weniger wichtig als sein Versuch, mit der lebendigen Bühne seiner Zeit ins Benehmen zu kommen. Seine Zusammenarbeit mit der berühmten Neuberschen Theatergruppe begann 1727. Auch wenn sehr oft nur die Neuberin, die Prinzipalin, also Friederike Caroline Neuber (9. März 1697 – 30. November 1760) genannt wird, vermittelte Gottsched persönlich sein Wirken zumeist über deren Gatten Johann Neuber (22. Januar 1697 – 1759). „Gottsched bekämpfte die Improvisation auf der Bühne, die sich vor seiner Fuchtel besonders ins Österreichische rettete“, so Eloesser. Doch auch die Neuberin fiel von ihm ab.

„Wie kann man nach Noten lachen und weinen und husten und schimpfen? Der deutsche Schulmeister war amusisch und unmusikalisch und von einem ebenso großen Selbstvertrauen,
weil er die Logik und Grammatik der Dichtkunst beherrschte, oder die Wissenschaft von den Regeln, wie er es nannte.“ Gottsched konnte mit Opern nicht viel anfangen, auch wenn oder gerade weil sie auf Bühnen meist erfolgreicher waren als Sprechtheater. „Die Opposition gegen Gottsched zog sich von allen Seiten zusammen, es war, mit einem heutigen Ausdruck gesagt, „die Moderne“, die trotz der Buntscheckigkeit der Parteigänger gegen ihn allgemein in Aufruhr geriet. Die Bewegung war in seinen Augen eine Barbarei, eine Bedrohung der von ihm eingesetzten Ordnung, nachdem er die deutsche Dichtung aus der anderen Verwilderung und Schwülstigkeit gerettet hatte. Sein großes und so vollständiges Fächerwerk hatte für diese Exzentrizitäten keine Rubrik.“ Jetzt spätestens ist der Dioskurenkampf zwischen Leipzig und Zürich in Erinnerung zu rufen, Gottsched hier, Bodmer und Breitinger dort. Sie werden meist als dynamisches Duo behandelt und ihre Differenz mit Gottsched fast immer breiter als ihre anfängliche weitgehende Übereinstimmung, als ihr freundlicher Umgang miteinander. Auch Eloesser setzt hier keinen starken eigenen Akzent.

Einen übergreifenden Aspekt sieht er dennoch im Streit: „Jedenfalls wurde mit Erbitterung gefochten, es waren die ersten zusammenhängenden grundsätzlichen Kämpfe in der deutschen Literatur und um die deutsche Literatur.“ An den Streit mit Lessing anknüpfend heißt es dann noch: „Bei literarischen Streitigkeiten pflegen beide Gegner am Leben zu bleiben; völlig besiegt und erschlagen bleibt nur derjenige zurück, den man nicht mehr lesen will und kann. Das erreichte Lessing über den alten Feind, von dem er viel gelernt hatte und gegen den er daher ungerecht sein musste. War Gottsched von den Schweizern der Stein Milton vor die Füße geworfen worden, so begrub er ihn nun unter dem Felsen Shakespeare.“ Da ist ein Gottsched dann in der Tat aus allen Rennen heraus, er ist lebende Vergangenheit. Auch mit seinen Schülern hat er wenig Glück. „Es bleibt das Verdienst des Leipziger Professors, dass er sich vorurteilslos genug zeigt, um mit der wirklichen Bühne, mit den ehrlosen Komödianten eine Verbindung einzugehen, die bisher von den Gelehrten, auch von den Dramen schreibenden verächtlich abgelehnt worden war.“ Und schließlich, sagt Eloesser auch, war Gottsched „ein großer Sammler und unser erster Literaturhistoriker“. Nicht zuletzt deshalb findet sich sein Name auch im Vorwort bereits, in dem Eloesser seine Leser begrüßt.


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