Arthur Eloesser und die "Buddenbrokks"
Die „Buddenbrooks“ haben Arthur Eloesser zu Selbstprüfung und Selbstkorrektur geführt. Die Literaturgeschichte ist nicht voll von solchen Fällen. Allerdings auch nicht von solchen, wo aus dem Kritiker der Biograf wird. Der Kritiker war Ende 1901 einer der ersten, der sich mit dem da noch auf zwei Bände verteilten Roman auseinandersetzte und ihn alles andere als euphorisch begrüßte. Arnold Bauer (16. November 1909 – 2. September 2006) schrieb in seinem als Band XVI der Reihe „Köpfe des XX. Jahrhunderts“ veröffentlichten Buch „Thomas Mann“ (zuerst 1960): „Die Kritik stieß sich, wie der Verlag vorausgesehen hatte, an Umfang und Breite des zweibändigen Werks, das zwölf Mark kostete. Selbst Arthur Eloesser, später der erste Biograph des Dichters, fand die Familiengeschichte im ersten Teil viel zu lang. Im ganzen war's ein Achtungserfolg, der indes 1903, als die dicke einbändige Volksausgabe des Romans herauskam, zum Siege führte.“ Das ist nebenher eine der seltenen frühen Erwähnungen Eloessers in der alten Bundesrepublik, allein deshalb schon unbedingt erwähnenswert. „Auch der Biograph von heute, der Kritiker von damals, wehrte sich mit vieler Anerkennung gegen die zweibändige Ausführlichkeit, die ihm eine gewisse technische Machtlosigkeit, einen Mangel an Befehlsgewalt auf Seiten des Verfassers zuzugeben schien.“
So lesen wir es in der 1925 anlässlich von Thomas Manns 50. Geburtstag veröffentlichen Biografie „Thomas Mann. Sein Leben und sein Werk“ (S. Fischer). Und auch dies: „Aber wer möchte heute etwa den alten Johann Buddenbrook mit seinem Hausgeistlichen, mit seinem Hausdichter vermissen, … Und wer wird heute noch verkennen, dass der Roman trotz der breiten Ausladung des täglichen Lebens mit Geburten, Taufen, Hochzeiten, und vor allem mit den berühmten Mahlzeiten, nie stillsteht, dass er sich am unendlichen Band des Leitmotivs und gerade auch in Wiederholungen fortbewegt?“ Der Kritiker hat gelernt, zweifellos. Nicht dass er 1901 ahnungslos gewesen wäre, wohl aber nun aus der Kenntnis des Werkes nach dem Romandebüt bis hin zum „Zauberberg“, der in der Biografie schon eine Hauptrolle spielte, mehr noch in der zweibändigen Literaturgeschichte bei Paul Cassirer. 1901 schien Eloesser der Sprung von den bis dahin im Druck erschienenen kleinen Formen zum großen Roman zu groß, zu mutig, vielleicht gar zu übermütig. Diese Sicht ließ sich nicht aufrecht erhalten, diese Sicht wollte auch ihr Urheber deshalb nicht etwa halsstarrig fortschreiben. Sätze aus der Biografie erscheinen fünf Jahre später, nicht nur bezüglich der „Buddenbrooks“, in der Literaturgeschichte kaum verändert wieder, Eloesser bestätigt sich selbst.
Die frühe Kritik in der Neuen Rundschau stand unter der Überschrift „Neue Bücher“ und darin ging es keinesfalls nur um Thomas Mann allein. Im Gegenteil, erst als Eloesser mit „Der Weg des Thomas Truck“ von Felix Holländer (1988 bei Hinstorff in Rostock in der DDR neu gedruckt), „Offenbarungen eines Wacholderbaums“ von Bruno Wille, „Die Vollendung“ von Kurt Martens (dem späteren Duz-Freund von Thomas Mann), „Die Suchenden“ von Johannes Schlaf und „Der Samariter“ von Ernst Heilborn fertig war, kamen die „Buddenbrooks“ an die Reihe. „Abendkinder“ von Frida Freiin von Bülow und „Das Verlöbnis“ von Efraim Frisch beschlossen die Darstellung. Wir lesen: „So einen kleinen ersten Versuch als Romanschriftsteller unternimmt Thomas Mann auf den elfhundert Seiten seines zweibändigen „Buddenbrooks. Verfall einer Familie“. Nach seinen humoristischen Novellen und seinen bis zur Karikatur scharfen physiognomischen Studien, die uns aus diesen Blättern wohl bekannt sind, gibt der Verfasser in seinem ersten Roman eine ungemein sorgfältige, ehrliche Leistung, vor der man zunächst als Arbeit, aber auch darüber hinaus Respekt haben muss.“ Eloesser bezog sich hier auf die Abdrucke von „Der kleine Herr Friedemann“; „Der Bajazzo“ und „Tobias Mindernickel“ in der Neuen Rundschau in den Jahren 1897 und 1898.
Es scheint kurios, von elfhundert Druckseiten als kleinem Versuch zu sprechen, vor allem aber formuliert Eloesser Respekt von der Arbeit. Elfhundert Seiten wollen erst geschrieben sein, es ist nicht überflüssig, das zu wiederholen. „Es handelt sich da nicht wie bei Zola und einigen deutschen Nachahmern um einen sozialen Roman in einseitig materialistischer Auffassung … sondern der stärkere Nachdruck wird auf das Wesen der Menschen gelegt, auf ihre ererbte Gesinnung und Gesittung, und es wird in feiner Weise fühlbar gemacht, wie … die Menschen allein durch das stille Wirken der Zeit sich leise wandeln … Es ist ein großer Vorzug des Romans, dass er uns ohne selbständige Ausführung eines zeitgeschichtlichen Hintergrundes das Bewusstsein dieser allmählichen Verschiebungen zu vermitteln im Stande ist, aber es ist auch sein Nachteil, weil die Erzählung den Zeitbegriff zu real nehmend nur sehr kleine Schritte machen kann.“ Wichtige Züge des Romans sind erkannt, zu ihnen muss Eloesser sich später nicht korrigieren. Später kommt hinzu das Wissen um durchgehende Eigenarten Mannschen Schreibens, die zunächst gar nicht ablesbar waren, erst dem Biografen bewusst wurden. „Thomas Mann sagt einmal, in ihm lebe der Glaube, dass er nur von sich zu erzählen brauche, um auch der Zeit, der Allgemeinheit die Zunge zu lösen.“
Ähnlich sah es Goethe, ähnlich sehen es alle, die sich ausdrücklich als Repräsentanten sehen, wobei manche sich irren: sie repräsentieren nicht einmal sich selbst wirklich. „Die Sorgfalt, mit der diese Einzeldinge ausgeführt sind, muss das Ganze schließlich monoton machen. Es ist unmöglich, auch nur auf Einige dieser vielen Buddenbrooks einzugehen, man muss sich mit der summarischen Anerkennung begnügen, dass sie alle in ihrer besonderen Menschlichkeit sehr fein begründet und in ihren Physiognomien zu sprechender Deutlichkeit geprägt sind.“ Das wollte der Kritiker von 1901 nicht so stehen lassen, er ging auf viele Buddenbrooks dann doch ein, an Toni konnte er sich gar nicht genug begeistern: „Toni Buddenbrook! Hier ist es Zeit, eine Liebeserklärung zu machen. Wer von unsern neueren Erzählern hat eine Frauenfigur geschaffen, die so munter drauflos existiert?“ Las man 1925. Und: „… sie weiß immer, was zu tun ist, weil sie nicht in sich hinein, sondern aus sich heraus lebt. … Die Tonis werden im Alter immer hübscher mit einem Kindergesicht unter grauen Haaren … Sie können viele Geschichten hinter sich haben, aber sie haben keine Geschichte. … Ich weiß nicht, ob die Frauen für diese Schwester schwärmen, … Aber die Männer werden ihr zulächeln. Toni Buddenbrook, Gegenteil einer Kassandra, hat an dem Drama wenig Anteil“.
„Die Zuverlässigkeit der Beobachtung, die Tüchtigkeit der Darstellung bewährt sich in allen den kleinen Episoden, aber man gewinnt zu dem Ganzen kein persönliches Verhältnis, weil ihm der starke subjektive Zug mangelt, weil der Autor uns nur erzählt, ohne uns etwas zu sagen. Immerhin würde die objektive fast phlegmatische Kunst der Schilderung mit ihrer menschlichen Umsicht, mit ihrer psychologischen Zuverlässigkeit uns schon allein interessieren, wenn das rein Stoffliche sich nicht mit so erdrückender Fülle ausbreitete.“ Das wollte Arthur Eloesser so später nicht mehr sehen. Und auch das Folgende nicht: „Es fehlt dem Roman an Gliederung, an Figur, an den notwendigen Verkürzungen, und wenn Thomas Mann einst im Stande sein sollte, den Überreichtum an kleinen Zügen der Zweckmäßigkeit der Komposition zu opfern, so wäre er in die Reihe unserer besten Erzähler zu rücken. Von dem kleinen Genre, das er beherrscht, bis zu dem Roman großen Stiles, den er vielversprechend versucht hat, ist eben mehr als ein Schritt.“ Als 1929 der Nobelpreis für Literatur an Thomas Mann fiel, galt er ausdrücklich dem schon mehr als ein Vierteljahrhundert alten Roman. Willy Haas nannte rückblickend die Begründung für die Vergabe kurios, ein Roman mit „idealistischer Tendenz“ sei das kaum. Dennoch: Mehr Anerkennung weltweit ging damals nicht.
Historische Einordnungen sind, das muss man sicher einräumen, nicht das Geschäft der Preisrichter in Stockholm, das fällt ins Aufgabengebiet der Literaturhistoriker. Bei Eloesser liest es sich 1930 so: „Genau auf dem Wendepunkt stehen am Ende des Jahrhunderts die Buddenbrooks von Thomas Mann, ein Werk, das seiner Gesinnung nach aus der Dekadenz und das der Wirkung nach mit seiner Behaglichkeit und Fülle ein Hausbuch des deutschen Volkes wurde.“ Rückblickend sieht er, dass sich das Publikum eher mit dem Roman, freilich erst mit der einbändigen Ausgabe, anfreundete als die Kritik es tat. Er ist sich selbst das beste Beispiel dafür. „Die „Buddenbrooks“ sind in Rom angefangen, in München vollendet worden, aber der Dichter war weder hier noch dort, als er mit einer sehr unterirdischen Arbeit in sich selbst einkehrte und dabei seine Ahnen fand. Thomas Mann hatte in Italien seine ersten Novellen geschrieben … Aber die epische Kunst braucht Quantität, Masse, Gewicht, was alles nur aus der Objektivierung der Persönlichkeit entstehen kann. Das schaffende Ingenium muss sich selbst zur Welt werden, in der nur noch Entdeckungen, nicht Erfindungen gemacht werden können.“ „Der Dichter wollte weder einen historischen noch einen sozialen Roman schreiben.“ Das war Eloesser wichtig genug, es ausdrücklich zu wiederholen.
„Es ist der große Vorzug des Buches, dass die fortschreitende Zeit sich nie abstrakt darstellt, dass sie mit Altersmüdigkeit, Pessimismus, Musik, Kunst aufwühlend und auflösend sich immer in Figuren niederschlägt, bis etwa zu dem schon völlig degenerierten Christian Buddenbrook, der mit dem Todesgedanken brüderlich verkehrt, Vorstufe eines komödiantischen Narrentums vor dem Künstlertum, und bis zu der herrlichen, der unzerstörbaren Toni Buddenbrook, die als Frau die Gesundheit des Geschlechts noch in einer schönen Beschränktheit verwahrt. Wenn Thomas Mann den biochemischen Prozess eines Verfalls analysieren wollte, so lasen es die Leute anders und ließen sich dabei sehr wohl sein. Ein fruchtbarer Irrtum mischte mehr Liebe ins Spiel, als er sich selbst zugetraut hatte, und die Liebe brachte den Humor hervor, der schon allein einen unbewussten Abschied von der Dekadenz bedeutete.“ Man kann sich ein Bild machen, wie weit der Kritiker die eigenen Formulierungen aufgreift, fortschreibt oder still korrigiert. Wichtig das noch jugendliche Alter Thomas Manns, als er seinen Erstling schrieb. „Als ich die Buddenbrooks zum ersten Male las, glaubte ich die sprachliche Lagerung etwa in der Mitte zwischen Fritz Reuter und Theodor Fontane ansetzen zu müssen, den Thomas Mann aber wohl erst später richtig kennengelernt hat.“
Die „Buddenbrooks“ sind, ganz anders als „Mario und der Zauberer“, nicht in einer Stunde und dann noch mal und noch mal immer langsamer zu lesen. „Die europäische Zeitenwende ist auch Thomas Manns Schicksalswende geworden, der Durchbruch aus einem egoistischen Ästhetentum, das unsozial schien, zum Positiven, zur Dienstbarkeit an Volk und Staat. … Dieser Weg von Thomas Mann ist nicht früh erkannt worden, hat sich erst auf der Höhe der Meisterschaft als ein gerade aufsteigender erwiesen, als ein Schicksalsweg, auf dem jedes Werk eine unverrückbare Stufe bedeutet.“ Und weiterhin: „Sein Weg von den Buddenbrooks bis zum Zauberberg wurde ein höchst persönlicher und zugleich überpersönlicher aus der Einsamkeit zur Gemeinschaft. Das Beste, was unsere erzählende Literatur vermocht hat, und was Thomas Mann wiederherstellte, ist immer der Erziehungs- oder der Bildungsroman gewesen.“ Ich gebe Arnold Bauer das hier letzte Wort, weil er Eloesser schon 1960 erwähnte: „Die Buddenbrooks sind vielleicht der letzte große klassische, künstlerisch-geschlossene, konsequent und kontinuierlich fabulierte deutsche Roman überhaupt.“ Das Vielleicht ist immer eine gute Absicherung und selbst eine Protestwelle aus den Reihen der Autoren und Autorinnen deutscher Romane seither wäre eben eine Welle: sie verebbt im Sand.