Ertrunken in der Havel

Als Leonhard Franks Erzählung „Der Hut“ 1912 erstmals veröffentlicht wurde, konnte jeder informierte Leser den aktuellen Bezug ahnen. In späteren Nachdrucken hat Frank dann alles für immer eindeutig gemacht, als er den Text Georg Heym widmete, der am 16. Januar 1912, also heute vor exakt hundert Jahren, gemeinsam mit seinem langjährigen Freund schon aus Schulzeiten, Ernst Balcke, ertrank in der Berliner Havel, nachdem beide ins Eis eingebrochen waren. Wer von beiden es war, dessen Hilferufe noch lange vom Ufer aus zu hören waren, ist nicht zu sagen. Diejenigen am Ufer, die es hörten und sich mangels besserer Möglichkeiten des Delikts der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten, hätten es ohnehin nicht aussagen können.

In der genannten Erzählung Leonhard Franks steht ein Satz, der uns heute höchst vertraut erscheint: „In allen Blättern ist er jetzt die größte Hoffnung Deutschlands gewesen. Und vorher haben ihm alle Redaktionen seine Arbeiten zurückgeschickt.“ Bei Frank heißt der Dichter Melchior Schulter und ist gar nicht der eigentliche Held des Textes. Das ist ein Architekt namens Lorenz Hall, der mit dem Schock genau dieses Todes fertig zu werden hat und das auch schafft. Neben Ödön von Horvath, den 1938 in Paris ein herabstürzender Ast erschlug, ist Georg Heym unter den Dichtern mit bleibendem Namen der zweite, den ein absurder Tod in des Begriffs tiefster Bedeutung ereilte. Wobei nicht wenige Zeilen, die Heym hinterließ, den posthumen Deutern die Vermutung geradezu aufdrängten, als habe Heym für sich einen genau solchen Tod nicht nur vorausgeahnt, sondern möglicherweise unbewusst sogar gewünscht.

Zeiten, die Mythen brauchen, lieben solche Erklärungen, die Bibel weiß es einfacher: Wer sich in Gefahr begibt, der kommt drin um. Es ist früh auf die Diskrepanz zwischen Dichtungen und ungefilterten Selbstäußerungen Heyms aufmerksam gemacht worden. Auch das ist eine Lieblingsvorlage des quasiindustrialisierten Deutungswesens. Als müssten die Verfasser von tiefen Gedichten, die Maler von unergründlichen Gemälden, die Komponisten von Ewigkeitsmusik privat und zu Hause permanent mit glasigen Seheraugen einherschreiten und dürften keinen Blick für die mindere Qualität der Bratkartoffeln haben, die ihnen ihr aktuelles Bratkartoffelverhältnis vorzusetzen eben im Begriff ist. Aus den vereinigten Decker-Biographien-Werken ist gerade eine neue zu Georg Heym erschienen, die ich nicht kenne, die mich aber mit voraus- und hinterhereilenenden Nachrichten zunehmend umzingelt. Im Zweifelsfalle würde ich dann heute lieber zu Dresden der Lesung beiwohnen, die Kerstin Hensel, Richard Pietraß und Jan Wagner im Blockhaus am Neustädter Markt veranstalten, mit Heym-Gedichten, logisch.

Denn Heyms Gedichte, schreibt ein verehrter Kollege, „dunklen Sternen gleich, sollten in keinem Regal fehlen.“ Da stimme ich aus tiefem Herzen zu, wenngleich ich Regale nicht für optimale Sternaufbewahrungsorte halte. In meinem Regal, genauer in einem meiner unverschämt zahlreichen Regale, wo sich neben den dunklen auch Pseudo- und Wandelsterne aufgestellt finden, lehnen eine Ausgabe „Der ewige Tag“, eine Reclam-Auswahl, die Stephan Hermlin vornahm, einfach genannt „Gedichte“ und ein dominanter Wälzer aus dem Hause Zweitausendundeins nebeneinander mit dem maximal antimarktschreierischen Titel „Das Werk“. Seit ich diesen Kracher besitze, muss ich nicht mehr die sonst allüberall maßgebliche Ausgabe benutzen, die mir vor einem Vierteljahrhundert (Siehe „Zweimal Georg Heym“) sehr hilfreich war. Und an diese 1372-Seiten-Broschur knüpft sich gar noch ein Lieferkuriosum. Denn Zweitausendundeins forderte seinerzeit alle Bezieher auf, das Buch zu vernichten respektive zurückzuschicken, später sollte man vorne zwei Seiten herausreißen, bekam eine neue Ausgabe mit neuen Seiten vorn, sonst identisch und durfte aus Kulanz die alte behalten. Ich habe eine Bekannte mit ihr beglückt, die wie ich auch die Titelseiten nicht als den Primärinhalt eines Buches ansieht.

Die Kreise, in denen Georg Heym bis zu seinem albernen Tod verkehrte, haben im deutschen Literaturraum eine Art Urmuster literarischer Jugendkultur verfestigt. Das gemeinsame Labern in gastronomischer Umgebung, die Jagd auf verführbare weibliche Wesen, das Tiefsinn-Versprühen und Weltuntergangs-Voraussehen in froher Runde, hier ist es für immer vorgeprägt. Nur würde heute niemand mehr eine Angebetete „Goldelse“ nennen, wie Heym es tat, weil ihm der Name aus der „Gartenlaube“ seiner Mutter so vertraut war. Auch solch ein ungefilterter und unreflektierter Rekurs (hach, wie gern schreibe auch ich einmal so ein Wort aus der feineren Kiste hin) auf den nicht einmal sonderlich gehobenen Kitsch der Gründerzeit ist ein Fremdkörper im vermeintlichen Teile-Puzzle Heym. Der wäre vielleicht, wenn ihn nicht dieser kalte Tod im Havelwasser ereilt hätte, wie etliche seine Kollegen auf den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs geblieben. Anders als für viele von diesen anderen frühen Toten aber ist sein Nachruhm nicht nur bleibend, sondern auch verdient. Am 8. Februar 1905 übrigens schrieb Georg Heym in sein Tagebuch: „Wenn ich konsequent wäre, müßte ich mir eigentlich unter diesen Verhältnissen das Leben nehmen. Aber ich glaube an mich. Ich werde auch allein meinen Weg gehen können.“ Der aufs Glatteis, wissen wir, war dabei auf keinesfall der ideale.


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