Klaus Tudyka: Du bist mein einziger Gedanke
Eines wollte Klaus Tudyka seiner Erzählerin Christiane dann doch nicht zumuten: von ihrem eigenen Tod am 6. Juni 1816 zu berichten, von den qualvollen Tagen davor, an denen sie sich die Zunge abgebissen haben soll vor Schmerz, während Gatte Wolfgang sich fern hielt von ihr. Tudyka hat eine Idee realisiert, die nahe liegend und zugleich auch extrem fern liegend ist: Er lässt eine Frau von ihrer Ehe erzählen, die sonst nur aus der Perspektive ihre Mannes gesehen wird, die überhaupt nur als Frau dieses Mannes eine Rolle spielen darf in der Überlieferung. Das Problem der nahe liegenden Idee: Diese Frau war nach allem, was wir wissen, sicher eine sehr lebenstüchtige, eine lebenskluge und humorvolle, ein schlagfertige Frau, der Schrift aber und der literaturfähigen Hochsprache wohl eben so sicher sehr fern stehend. Es gibt hinreichend Dokumente dafür, vor allem ihren Briefwechsel mit dem Gatten, der 1792 einsetzt und gleich im ersten Jahr zwar zwölf von ihm, aber keinen vor ihr ausweist. Erst vom Mai 1793 datiert ihr erster. In ihren letzten Lebensmonaten hat sie ein Tagebuch geführt, dessen Notate noch knapper sind als die ihres Gatten in dessen Tagebüchern, allenfalls vom äußerlichen Ablauf der Tage geben sie etwas Auskunft.
Von Christiane Vulpius ist die Rede, geboren am 1. Juni 1765, getauft am 3. Juni auf die Namen Johanna Christiana (!!) Sophia. Ihre Mutter Christine Margarethe starb, als die Tochter noch nicht ganz sechs Jahre alt war, Vater Johann Friedrich heiratete ein zweites Mal: Johanna Christiana Dorothea, geborene Weiland. Dass die Stiefmutter just die Vornamen ihrer Stieftochter trägt, mag verwundern oder gar zu Spekulationen Anlass geben. Knapp 17 ist Christiane, als ihr Vater sich eines Amtsvergehens schuldig macht, knapp 21, als er stirbt. Christianes älterer Bruder Christian August (geboren am 23. Januar 1762) und sie haben seit dem 29. Oktober 1784 das Bürgerrecht von Weimar. Der 12. Juli 1788 wird das alles entscheidende Datum in ihrem Leben und just dieser oft erzählten Geschichte hat Autor Klaus Tudyka eine fiktive Wendung gegeben, die kalkuliert den Grundton seines Büchleins vorgibt, indem sie aus Christiane eine junge Frau macht, die etwas geschehen lässt und nicht eine, der etwas geschieht. Tudyka baut sich eine aktive Erzählfigur mit souveränem Überblick, mit wohl geordneten und im rechten Moment abrufbaren Kenntnissen, die die tatsächliche Christiane ganz sicher so nicht hatte, teilweise auch gar nicht haben konnte.
Was diese literarische Christiane Vulpius weiß, hat ihr der Gatte Johann Wolfgang angeblich alles gebeichtet, denn woher sonst sollte sie es wissen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der tatsächliche Goethe das tat, ist sehr gering. Vermutlich war auch ihr eigenes Interesse an derartigen Vor- und Nebengeschichten gering. Um so auffallender sind Fakten dieser Erzählung, die ausgeklammert bleiben: nur eines der toten Kinder wird erwähnt, der zweite Sohn, der am 14. Oktober 1791 tot zur Welt kam, das dritte Kind (Carolina), das vierte (Carl) und das fünfte (Cathinka) bleiben ungenannt, alle starben wenige Tage nach der Geburt. Ausgeklammert ist auch Marianne von Willemer, gegen die Tudykas Christiane zwar eifert, deren Namen sie aber verschweigt, obwohl sie sogar den Namen jener sagenumwobenen römischen Faustina kennen will und wiederum kein Wort darüber fallen lässt, dass dieser Goethe, den sie da voll Absicht trifft, eben von seiner sehr langen Italienreise nach Weimar zurückgekehrt ist. Goethes Diener Seidel soll, so Tudykas Heldin, ein Exemplar der Bittschrift für den Bruder Christian August entgegen genommen und ihr den Tipp gegeben haben, wo sie den Geheimrat günstig abpassen könne. Schwester Ernestine assistiert dabei mit Erfolg.
Das ist hübsch konstruiert, durchaus literarisch. Tudykas Christiane verfügt über ein enormes Selbstbewusstsein: „Wenn Goethe in unserem Herzogtum die beste aller möglichen Welten für sein Leben gefunden hat, so hat er in mir die beste aller möglichen Gefährtinnen entdeckt, die ihm gemäß ist. Ich bin kein armes Hascherl oder ein Betthäschen, ich bin eine Frau, seine Frau, die Mutter seines Sohnes, stehe meinem Liebsten zur Seite und schaffe ihm umsichtig die Geborgenheit einer liebevollen Häuslichkeit, die er für sein Schaffen und die Harmonie seiner Lebensführung braucht.“ Diener Seidels Tipp lautete, den zum Gartenhaus eilenden Goethe anzusprechen, wenn der auf dem Weg zu seinem Freund Knebel sei, der während Goethes Italien-Reise im Gartenhaus wohnte und offenbar dort bleiben durfte. Wie Christiane diese Liebe auf den ersten Blick, ihre alles überwältigende Urgewalt schildert, klingt ziemlich kitschig. Die bis heute auch mit viel Phantasie kaum vorstellbar werdende heimliche Sofort-Entjungferung ist etwas wie ein dunkler Punkt. Wohin ging man: am Frauenplan war Goethe beobachteter Mieter, im Gartenhaus saß Knebel, ging man rasch in die Büsche des Ilm-Parks? Tudyka hätte Christiane ein kleines Geständnis erlauben sollen.
Tagsüber, lesen wir, arbeitete Christiane bei Bertuch und fertigte Kunstblumen an, nachts schlich sie heimlich ins Haus am Frauenplan. Laut aller Überlieferung aber wird sie von Fritz von Stein im Gartenhaus angetroffen, wo sie sich bewegt, als sei sie da zu Hause. Hundert Meter Luftlinie von Frau von Stein entfernt allnächtlich ein Haus aufzusuchen, das sehr zentral und beobachtbar liegt, soll Christiane diesen Mut, soll Goethe diese Dreistigkeit besessen haben? Wenn aber das Gartenhaus ihr Liebesnest war, das Goethe schon 1782 als Daueraufenthaltsort aufgab, dann muss ja Knebel ein Mitwisser oder ausgezogen gewesen sein. Hat der immer wieder benutzte Name Ur-Freund gar hier einen tiefsten Ur-Grund? Haben Frauen um 1790 von ihrem monatlichen Unwohlsein gesprochen? Klaus Tudyka hat seiner Erzählerin verschiedene Sprachniveaus gestattet, was bisweilen ärgert. Sie darf Bettine, die Tochter von Goethes Maximiliane und Enkelin der berühmten Sophie von La Roche „ein einziges erotisches Überfallkommando“ nennen, um dann ins Biblische zu verfallen: „Er war der erste Mann, der mich erkannt hatte und dabei ist es geblieben.“ Die Begründung dafür: „Wer ihn kennt, der braucht alle anderen Männer nicht zu kennen.“
Klaus Tudyka lässt seine Christiane auch ein Gerücht zerstreuen, das wenig verbreitet war: das von Goethes Homosexualität. Ihre Argumentation ist freilich herzerfrischend: „Was wäre das wohl für ein Armutszeugnis für mich als Ehefrau?“ Es wäre gar keins, wie wir wissen, denn es sind nicht heiße Frauen, die schwule Männer von ihrem Weg abbringen, oder kalte, die auf ihn hin führen. Und sie fragt sich auch allen Ernstes, wie es denn, wenn es denn so gewesen wäre, vorgegangen sein sollte: Ob er mit Schiller Hand in Hand hätte im Ilm-Park spazieren sollen? War es Wieland, war es Herder und wie hätte Karoline Flachsland, die Herder-Gattin, die beiden dann mit dem Nudelholze zu frischer Heterosexualität geprügelt? Hier macht Tudyka seine Heldin dumm und klein. Von volkstümlicher Größe zeugen auch nicht ihre Ausfälle gegen Frau von Stein, die namentlich nicht genannte Marianne und vor allem gegen Bettine, ohne deren Gespräche mit Goethes Mutter der Dichter ja kaum Fakten für die ersten Bücher seiner Autobiographie gehabt hätte, weil er selbst bekanntlich alles vernichtete in mehreren Raten, was seine jungen Jahre dokumentierte. Hier ist die sonst so gut informierte Christiane plötzlich erschütternd ahnungslos.
Tudykas Christiane setzt sich auch in eine besondere Beziehung zu Caroline Jagemann, der einstigen Nachbarin aus der Wagnergasse, die „spindeldürr“ gewesen sein soll, also jeder Drallen verächtlich: „Mir tat sie immer leid, sie war ein Scheidungskind, ihr Vater, ein ehemaliger katholischer Priester, hatte sich früh von ihrer Mutter getrennt.“ Ziemlich sicher sind hier eher DDR-Erfahrungen des Autors ausgesprochen als denkbare Reflexionen der Heldin. Denn die lebte in einer Zeit, in der die Gattinnen die Männer verließen und zwar massenweise durch eigenen Tod. Was diese Christiane im schmalen Buch sogar zweimal selbst sagen darf: durchschnittliche Lebenserwartung der verheirateten Frau „in einfachen Verhältnissen“: neun Jahre. Plötzliche Vater- oder Mutterlosigkeit war ein Alltagsphänomen, was tatsächlich erlebte Traumata natürlich nicht kleiner machte. Immerhin: Der Autor lässt seine Heldin sich als die zweite Glückliche aus der Wagnergasse sehen, die andere die offizielle Geliebte des Herzogs, die als von Heygendorf sogar geadelt wurde. „Ich fand Wohlwollen und Zustimmung bei den einfachen Leuten Weimars.“ Als ob die nicht zu allen Zeiten jene sind, die der öffentlichen Moral mit geworfenen Steinen dienen.
Von den Weimar plündernden Franzosen erzählt Christiane, sie hätten blutbefleckte weiße Kittel über ihren Uniformen getragen, um diese zu schützen. Dergleichen hörte oder las ich nie. Das hätte Tudyka seine Erzählerin erläutern lassen sollen. Überzogen ist sicher auch die Darstellung der Rolle im Weimarer Theaterleben: „Ja, ich war bald das Sprachrohr meines Mannes für die theatralische Praxis. Als Wichtigstes galt es ,,neuangestellte Schauspieler daran zu gewöhnen, sich von allen Fehlern ihres Dialekts zu befreien und eine vollständige reine Aussprache zu erlangen.“ Von Goethe selbst ist überliefert, dass das hessische Babbeln ihm bis ans Lebensende anzuhören war, Schiller schwäbelte grauenhaft und verdarb sich manch möglichen guten Eindruck bei Hörern damit. Ausgerechnet Christiane soll die reine Sprache gelehrt haben? Schillers Name aber fällt nur einmal im ganzen Buch und gerade nicht im Zusammenhang mit dem Theater. Just dort aber hat ihm Goethe freie Hand gelassen sogar bei der Bearbeitung seiner eigenen Dramen, weil er instinktiv von Schillers größerer Nähe zur tatsächlichen Bühne überzeugt war, auch wenn ihm vor allem dessen frühe Stücke erst regelrecht verhasst waren. Hier ist Christiane wiederum seltsam ahnungslos.
Ihr letzte Eintragung im Tagebuch lautet: „Matt und schwach. Gegen Mittag das Bett verlassen. Die Riemerin. Die Stube gehütet. Bald zu Bette.“ Die Riemerin war Caroline Wilhelmine Henriette Johanna Ulrich, seit 1806 Gesellschafterin, seit 1809 Hausgenossin Christianes und Goethes, sie heiratete Goethes Sekretär Friedrich Wilhelm Riemer, 1803 Hauslehrer von Christianes einzig überlebendem Sohn August. Sechs schwere Tage hatte sie da noch. Klaus Tudyka, der im Schnell Verlag Warendorf nicht weniger als zehn Titel zu Goethe veröffentlichte, acht davon 48 Seiten stark wie das hier behandelte, eines 64 Seiten, eines 36 Seiten stark, ist kürzlich 88 Jahre alt geworden. Er erfreut sich in Berlin, hörte ich von seinem Verleger, guter Gesundheit und arbeite an einem neuen Goethe-Buch. Wer lange genug sucht im zu ihm sehr schweigsamen Internet, stößt darauf, dass Tudyka einst ein Fernsehdramaturg war. Mit Hans-Joachim Preil zusammen schrieb er das Drehbuch für den Fernsehschwank „Tolle Tage“, 1969 erstmals im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Ernst Beutler schrieb einst: „Nein, Christiane war keine Hofdame gewesen und kein Schöngeist, aber in ihrer Art hatte sie dem Dichter sein Haus traulich gemacht und hatte es mit ihrer frischen und gutherzigen Natur beseelt. An ihrer Seite war auch sein Dasein Natur gewesen.“