Werther in der Feldbibliothek

Goethes Zusammentreffen mit Napoleon jährt sich zum 200. Male

„Goethe gefiel mir diesen Abend ganz besonders. Das Edelste seiner Natur schien in ihm rege zu sein; dabei war der Klang seiner Stimme und das Feuer seiner Augen von solcher Kraft, als wäre er von einem frischen Auflodern seiner besten Jugend durchglüht.“ Unter dem 11. März 1828 hat Johann Peter Eckermann das festgehalten und wer die Aufzeichnungen für diesen Tag vollständig liest, wird nicht zögern bei der Antwort, was den fast 79 Jahre alten Geheimrat so befeuerte. Es war die Erinnerung an Napoleon.

Der Kaiser der Franzosen, zwanzig Jahre jünger als Goethe, war dennoch schon 1821 verstorben und das Jahr, in dem beide sich auch persönlich begegneten, lag zwanzig Jahre zurück, 1808. Das Ereignis jährt sich also jetzt zum zweihundertsten Male. Und der Hauptschauplatz des Geschehens, Erfurt, rüstet auf vielfältige Weise, daran zu erinnern.

Schaut man bei Goethe selbst nach, so findet man überraschend wenig, gemessen an Aufzeichnungen zu anderen Ereignissen seines Lebens und eine schon am 5. Oktober 1808 zu Papier gebrachte briefliche Botschaft der Charlotte von Stein an ihren Sohn Friedrich, jenen Sohn, den Goethe phasenweise fast adoptiert zu haben schien, besagt: „Goethe ist immer in Erfurt, hat eine Audienz von einer halben Stunde beim Napoleon gehabt, aber wie man mir sagt, will er die Unterredung, von der er sehr zufrieden ist, geheimhalten.“

Daran hat sich Goethe erstaunlich konsequent gehalten, nicht nur Eckermann, auch andere haben vergebens versucht, Details zu erfahren von jener Audienz, deren Länge verschiedenen Angaben zufolge wohl zwischen dreißig und fünfzig Minuten nicht überschritt, wobei Goethe nicht den Vorzug genießen konnte, allein dem Kaiser gegenüber zu stehen. Wie es denn war, weiß die Nachwelt aus je nach Ausgabe knapp drei Druckseiten, die Goethe sechzehn Jahre nach der Audienz zu Papier brachte und dann auch nur, nachdem er massiv gedrängt worden war, sowie aus den Aufzeichnungen eines Augen- und Ohrenzeugen der Audienz, den Erinnerungen des Diplomaten Perigord Charles Maurice Fürst von Talleyrand (1754 – 1838).

Die knappe (spätere) Aussage Goethes in seinen „Tag- und Jahresheften“ schließt für das Jahr 1808 viel versprechend: „Der im September erst in der Nähe versammelte, dann bis zu uns heranrückende Kongreß zu Erfurt ist von so großer Bedeutung, auch der Einfluß dieser Epoche auf meine Zustände so wichtig, daß eine besondere Darstellung dieser wenigen Tage wohl unternommen werden sollte.“ Seinem eigenen Rat aber folgte Goethe leider nur bedingt und so haben wir bis heute und für immer nur das wenige, von dem schon die Rede war, so wenig, dass Bücher über Goethe es nicht selten gleich komplett zitieren.

Um so bemerkenswerter ist die Flut von Literatur über jenen Erfurter Fürstenkongreß und insbesondere die Begegnungen Goethes mit Napoleon in Erfurt und Weimar. Eine im Weimarer Taschenbuch Verlag 2007 erschienene Arbeit der Archivarin Rita Seifert verzeichnet neben diversen Beiträgen in Jahrbüchern, Zeitschriften, Sammelbänden, Festschriften allein vier selbständige monographische Publikationen, das Taschenbuch selbst umfasst 139 Seiten. Neu ist in diesem Jahr erschienen ein 48-seitiges Bändchen von Richard Mede mit dem Titel „Mein Kaiser“ und die sicher substantiellste Publikation steht noch aus.

Für den Erscheinungstag 22. September hat der Verlag C. H. Beck ein rund 260 Seiten starkes Buch von Gustav Seibt angekündigt, der dies am 23. Oktober im Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar auch persönlich vorstellen will. Und spätestens dann wird sich die Frage stellen: Was schreiben alle diese Autoren immer wieder neu auf der unveränderlichen Material- und Quellenbasis von nicht mehr als zwei Dutzend Seiten, alles in allem eingerechnet?

Die Weimarer Autorin hat sich die Frage gar nicht erst gestellt, was ihr zu tun bleibt angesichts der im Literaturverzeichnis versammelten Vorleistungen. Sie hat versammelt und zitiert und wer nur das Material haben will, um zu wissen, was gewesen ist, so weit man das überhaupt wissen kann, ist mit diesem Taschenbuch bestens bedient. Offene Fragen hat sie ausgeklammert, Widersprüche eigener Aussagen nicht bemerkt. Das betrifft die hier nicht zu erörternde Seltsamkeit, dass der Herzog Carl August mit seinen Truppen in der Nähe von Ilmenau verortet wird, während Napoleon in Weimar nur Herzogin Luise vorfindet.

Es geht 1806 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt um die Fortexistenz des Herzogtums und der Herzog scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, denn die Autorin registriert erst etliche Seiten später, dass er am 17. November 1806 wieder in Weimar auftauchte. Warum konnte, wollte, durfte ihn niemand informieren, ihm gewissermaßen Beine machen, seinen Status selbst zu retten? Auch bleibt im Taschenbuch die Frage in der Schwebe, welche Ausgabe des „Werther“ Napoleon 1798 in Ägypten denn mit sich führte, die erwähnte nachweislich vom Kaiser benutzte Übersetzung aus dem Jahr 1804 konnte es ja schlechterdings nicht gewesen sein.

Goethe selbst hat sich übrigens 1806 noch vor der Begegnung mit Napoleon gedrückt, hat sich entschuldigen lassen, obwohl er in amtlicher Eigenschaft, nicht als der große Dichter, vom Protokoll eigentlich gefordert war. Dann aber, 1808, als der Fürstentag in Erfurt zusammentrat mit Kaisern, Königen und anderen gekrönten Häuptern, kam es in der heutigen Staatskanzlei zu jener Audienz, der weitere kurze Zusammentreffen an den Tagen danach folgten.

An jenem 2. Oktober 1808 sind so oder so die immer wieder zitierten Sätze Napoleons zu Goethe gefallen, an jenem 2. Oktober hat er seine Kritik an der inneren Logik des „Werther“ formuliert, deren Inhalt Goethe bis zu seinem Tod nicht preisgab, auch wenn er gern darüber spekulieren hörte, wie es einmal Eckermann tat am 2. Januar 1824. Und am 7. April 1829 gab Goethe mehr als nur einen tiefen Blick in sein Herz frei. Er referierte seine Lektüre eines Buches über „Napoleons Feldzug in Ägypten“.

Und dieses Buch bestätigt mit einem Verzeichnis jener Literatur, die Napoleon im Felde bei sich führte, die „Werther“-Geschichte. „Aber ... habt Respekt!“ sagte Goethe, „Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was für ein Buch? - Meinen „Werther“! - Er hatte ihn studiert wie ein Kriminalrichter seine Akten ... und in diesem Sinne sprach er auch mit mir darüber.“ Goethe war, das belegt diese Stelle mehr als manche andere, bis an sein Lebensende fasziniert von seinem Napoleon-Erlebnis. Zeitzeugen bestätigen unabhängig voneinander die Hochstimmung Goethes nach den Zusammentreffen in Erfurt und Weimar, sie bestätigen den Eifer, mit dem er seinen Orden der Ehrenlegion trug, den ihm Napoleon verlieh.

Interessant ist, dass bei aller Nachdenklichkeit über das Verhältnis der großen, ja übergroßen Persönlichkeiten Napoleons und Goethes auch aus Anlass des Jubiläums jetzt eines gar nicht ins Blickfeld geraten ist: Keine drei Wochen vor dem Zusammentreffen in der damaligen Statthalterei war Goethes Mutter Catharina Elisabeth in Frankfurt gestorben. Die Nachricht erreichte Goethe auf dem Rückweg aus Karlsbad und Franzensbad, als er Station in Drakendorf bei Jena machte. Goethe ist weder gleich noch später zum Grab seiner Mutter gefahren, die Erbangelegenheiten ließ er Gattin Christiane regeln.

Vielleicht klang ihm im Ohr, während er vor der Tür auf das „Herein!“ des Kaisers wartete, was seine Mutter ihm am 11. Oktober 1804 in ihrer unnachahmlichen Weise geschrieben hatte: „Kayser Napoleon war in Mäntz – mich ging das nun weiter nichts an – sehr viele Frankfurter haben ihn – gesehen.“ Ihn ging der Kaiser etwas an, und sein Sohn August, der Napoleon-Devotionalien über alles liebte, hat seinen Vater Johann Wolfgang vielleicht wegen dieser Tage 1808 mehr als wegen aller anderen Tage beneidet.

* zuerst veröffentlicht in: Brücke. Erste Erfurter Straßenzeitung, 2008, Nr. 86, S. 29ff , unter dem Titel: Eigentlich wollte er sich davor drücken


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