Goethe-Brocken
Natürlich ist es ein Irrtum anzunehmen, jemand, der Zitate aus Goethes „Faust“ einsenden könne, sei ein Faust-Kenner. Das würde ja beispielsweise bedeuten, dass ein Politiker oder eine Politikerin, die ihre Rede mit dem Satz einleitet oder beendet, sie hätte bei Goethe dies oder jenes gefunden, dort auch tatsächlich gesucht hätte. Natürlich hat er/sie nicht gesucht.
Nicht einmal der persönliche Referent hat bei Goethe gesucht. Es gibt Zitatenlexika fast so viele wie Ratgeberbücher zum Thema: Welchen Blödsinn muss ich anstellen, um einen Personalchef davon zu überzeugen, dass er schon Jahre auf mich gewartet hat, obwohl ich dem Profil, das ihm vorschwebt, nicht annähernd entspreche. Nicht einmal ein echtes Lexikon muss der Referent in die Hand nehmen, er gibt einfach einen Suchbegriff ein an seinem PC und schon hüpfen die Zitate auf seinen Bildschirm.
Goethe, die arme Sau, muss wie sein falscher Kumpel Schiller am meisten bluten für die deutsche Abartigkeit, sich mit Zitaten zu schmücken, mit Zitaten etwas zu rechtfertigen, sich hinter Zitaten zu verstecken. Die DDR beispielsweise hatte als Unterart des Edel-Zitierens das subversive Verwenden von Klassiker-Sätzen zu hoher Blüte getrieben, zuletzt verwandelte sich auf diese Weise selbst Rosa Luxemburg noch in eine Frau, die angeblich etwas von der Freiheit Andersdenkender hielt. Wer wollte dagegen etwas einwenden? Nur die Stasi ahnte, dass hier Verarsche am Werk war und schnappte sich die einschlägigen Transparentträger trotzdem.
Goethe nun also, atomisiert, pulverisiert, zum Zitatensteinbruch degradiert wie der schon erwähnte Kollege aus Schwaben, er ist in aller Munde und die pfiffigsten Redaktionen lassen sich Fundbrocken mit Begleitbriefen schicken, nachdem die Idee wahrscheinlich auf einer tollen Redaktionskonferenz so sehr gelobt wurde, dass der/die Gelobte mit rotem Kopf erst einmal zur Toilette gehen musste.
Noch ist mir im Gedächtnis, wie die herrliche Schillerfrage Nummer 18 (welche Berühmtheit nicht zur Beerdigung in tiefer Weimarer Nacht erschienen sei), von einem christlichen Würdenträger Südthüringens erwartungsgemäß mit: Goethe beantwortet worden war. Jede beliebige Antwort, ich wiederhole es geradezu genießerisch gern, wäre richtig gewesen, denn nicht eine einzige Berühmtheit kam, als Schillers Sarg in die Massengruft gesenkt wurde.
„Lukacs, lieber Lukacs, sei nicht bös“, schrieb Anna Seghers im Februar 1939 gen Moskau an den großen Dogmatiker, der später selbst Opfer noch größerer Dogmatiker wurde, „aber liegt denn nicht in der Anwendung beinahe jedes Zitats, wie grandios es auch sein mag, doch auch immer etwas Zauberbesenhaftes? Nämlich wieder die Möglichkeit einer Täuschung, es könnten, weil ein weiser und einsichtsvoller Mensch den Schlüssel zu einer bestimmten Tür endlich gefunden hat, nun alle ähnlichen Türen damit erschlossen werden?“
Nun hoffe ich nur noch, dass die tückische Ironie dieser Schlusswendung bemerkt wird. So bin ich nämlich.
Zuerst in: Ullrich's Ecke, 2. Juni 2007