Arthur Eloesser: Zu Goethe und Ulrike

Streng genommen ist es mehr als paradox: die Goethe-Philologie wird zwar nie müde zu klagen, wenn der Meister der Meister, der „Dichterfürst“, der Olympier, aus diesen oder jenen Gründen, meist, weil ihm Tätigkeit mehr war als uns Arbeit, nicht dichtete, wenigstens nicht ausdauernd und konsequent genug dichtete, sein Leben aber wird mit Hartnäckigkeit fast immer und immer wieder entlang einer Namensreihe erzählt: einer Reihe weiblicher Namen. Es sind, nicht mehr ganz so paradox, fast durchgängig weibliche Vornamen. Man stolpert nicht darüber, dass da eine Rahel, dort eine Caroline, dort wieder eine Henriette einen Mittelpunkt bilden darf. Und bei Goethe, nun ja, alle wissen es, da geht es eben von Gretchen zu Käthchen, zu Lili, zu Friederike, zu Lotte und Marianne und am Ende zu Ulrike. Nur Frau von Stein darf Ausnahme sein, obwohl auch sie einen Vornamen hat, den der Goethe-Freund natürlich kennt. Es gab Zeiten, die in manchen von Bildungsgut nicht überlasteten Köpfen fortleben, in denen es als selbstverständlich galt, was dieser Goethe für ein Hecht war, stets verliebt, stets schmachtend, stets anbetend und zeitgleich möglichst von seiner Liebe, seinen Anbetungen brieflich Kunde gebend, Auguste und Co. werden zu Zeugen erhoben.

Das Institut für Überraschungsforschung würde vermutlich seine eigenen Befunde in Zweifel ziehen, hätte es nach Erscheinen etwa jenes den obigen Titel liefernden Feuilletons in der am 11. November 1906 erschienenen Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung auf Nachfrage festgestellt, dass alle überhaupt am Feuilleton interessierten Leser wussten, von welcher Ulrike die Rede war. Nicht Ulrike von Pogwisch natürlich, die in Goethes Leben auch eine gar nicht so winzige Rolle spielte. Die hieß mit vollem Namen Ulrike Henriette Adele Eleonor von Pogwisch, geboren am 29. Oktober 1798, gestorben am 23. September 1875, und war die Schwester der zwei Jahre älteren Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von Pogwisch, die, indem sie August von Goethe heiratete, Goethes Schwiegertochter wurde. Am 26. Oktober darf die Goethe-Gemeinde des 150. Todestages von Ottilie gedenken, auch zu ihr hat sich Arthur Eloesser, um dessen Sicht auf Goethe und Ulrike es hier geht, feuilletonistisch (und literarhistorisch) geäußert. 1906 aber landete ein Band der großen Weimarer Goethe-Ausgabe, gern auch Sophien-Ausgabe genannt (IV. Abteilung), auf Eloessers Schreib- und Lesetisch, erschienen im Weimarer Hermann Böhlau Verlag, XI + 409 Seiten stark.

Es war Band 37, ein Briefband, umfassend Briefe aus dem Jahr 1823, genauer aus den Monaten April bis Dezember 1823. Eloesser ist der Band „besonders willkommen durch einige bisher unveröffentlichte Stücke, von denen die wichtigsten aus Marienbad an August und Ottilie von Goethe gehen.“ Herausgeberin Tina Krell hat mit einem der zahllosen Lese-, Schreib- und Druckfehler ihrer Sammlung von Eloesser-Feuilletons der Jahre 1900 – 1913 aus dem Briefband ungerührt den 37. Bildband der Goethe-Ausgabe gemacht. Auch im Verlag fiel niemandem der bare Unfug auf, als hätte es je im Rahmen der Goethe-Ausgaben Bildbände gegeben, gar mehrere. „Es ist das Ulriken-Jahr, und wenn man die bisher zerstreuten Dokumente dieser Periode zu ihrer ursprünglichen engen Zeitfolge wieder zusammengereiht findet, liest man die Tragödie eines Greises, der noch einmal unvorsichtig jung zu leben wagt, bevor ihn das Alter mit seiner tückischen Krücke trifft.“ Um Ulrike von Levetzow geht es (4. Februar 1804 – 13. November 1899), deren Mutter Amalie Goethe lange kannte, die er nun, in drei Marienbader Jahren 1821 - 1823 dreimal mit Mutter und zwei Schwestern traf. Am Ende steht, wer weiß es nicht, die „Marienbader Elegie“.

Dem Leser des Jahres 2022 mögen, falls er mit den Umständen näher vertraut ist, die ein Thema wie „Zu Goethe und Ulrike“ ermöglicht haben in der bis heute unversieglichen Goethe-Biografik, seltsame Ungenauigkeiten, Unschärfen, ja gar Fehler in Auge stechen, die man dem wirklich guten Goethe-Kenner Eloesser gar nicht zutraut. Sie im Detail zu klären oder erklären, würde verlangen, den jeweils möglichen aktuellen Kenntnisstand der Zeit vergleichend heranzuziehen. Zwar sammelt der Briefband, den Eloesser bespricht, ausschließlich Briefe des Jahres 1823, was aber keineswegs bedeutet, das auch die Erörterung der Fakten in den Briefen sich zwingend auf dieses Jahr zu beschränken hatte. Eloesser erweckt sowohl im November 1906 in der Vossischen Zeitung wie 22 Jahre später im Band 1 seiner Literaturgeschichte den falschen Eindruck, als habe die sehr einseitige Liebesgeschichte nur 1823 zum Hintergrund. Dass Goethe auch 1821 und 1822 mit Amalie von Levetzow und ihren Töchtern in Marienbad zusammentraf, bleibt unerwähnt. Regelrecht falsch ist die Behauptung, Goethe habe sich im Haus der Levetzows sehr wohl gefühlt. Dies Wohlgefühl hatte er tatsächlich, aber eben nicht in dem Haus, in dem er beide Jahre zuvor Quartier gefunden hatte.

1823 musste sich Goethe mit einer Wohnung gegenüber zufrieden geben, denn Herzog Carl August selbst bezog mit seiner Begleitung das so genannte Brösigke-Haus. Falsch ist folglich auch die Behauptung, es habe außer ihm keine Männer bei den Damen gegeben, Goethes Sekretär John und sein Diener Stadelmann sind mit solcher Formulierung auf fast ärgerliche Art ausgeklammert. Eloesser geht zunächst aber auf das gesamte Jahr 1823, auf beide schwere Erkrankungen ein, die es für Goethe gewissermaßen einrahmen. „In der einen Krankheit erkennt man nun noch deutlicher als früher die Vorbedingung, in der anderen die Folge einer grandiosen Steigerung des Lebensgefühls, einer faustischen Verjüngung, die den Vierundsiebzigjährigen wieder in die Empfindungen der Wertherzeit zurückwarf.“ Und: „Es war nicht die Leidenschaft, die ihn verjüngte, sondern wohl umgekehrt“. Eloesser weiß natürlich, auch wenn er die Briefwechsel der Goethezeit nicht kennen würde, wie die Leidenschaft eines fast 74-jährigen für eine 19-jährige selbst auf wohlwollende Außenstehende nahezu unweigerlich wirken muss. Deshalb verteidigt er ihn vorsorglich schon, ehe er sich überhaupt mit den Einzelheiten näher befasst, die zu begründeten Urteilen führen können.

„Der Johannestrieb, der solche Früchte hervorbrachte, muss uns ehrwürdig sein, wie der Mensch Goethe überhaupt in keiner Situation komisch angesehen werden kann; denn seine leidenschaftlichen Erlebnisse haben mehr als hohe menschliche Würde, sie scheinen unanfechtbar und notwendig einzutreten gleich Naturereignissen.“ Schwer zu sagen, ob Martin Walser diese hohe Freundlichkeit kannte, als er 2008 seinen Roman „Ein liebender Mann“ vorlegte. Lächerlichkeit ist alten Männern, die sich nicht einfach jüngeren, sondern in diesem Doppelfall sogar sehr viel jüngeren Frauen zuwenden, Schreckgespenst mit Trauma-Potential, Absolution vorab deshalb Labsal pur. Also: Jeden Hauch von Komik wollte Arthur Eloesser aus dem Bild Goethes verbannt wissen, wenn es um Ulrike von Levetzow ging. „Goethe hatte damals nichts oder noch nichts zu verheimlichen, und so nannte er den Geburtstag, den er nach den einzigen Marienbader Wochen mit Ulrike und ihrer Familie durch den Ausflug von Karlsbad nach Elbogen feierte, mit würdevoller Scherzhaftigkeit nie anders als das öffentliche Geheimnis.“ 1931 klingt es etwas anders, wenngleich die Literaturgeschichte nicht verheimlicht, auf dem alten Feuilleton von November 1906 zu fußen.

„Seinen Geburtstag feierte Goethe durch einen Ausflug mit den Damen nach Karlsbad und Elbogen; er nannte ihn das öffentliche Geheimnis, in das auch die Schwiegertochter Ottilie als verständnisvolle Leserin gezogen wurde.“ Tatsächlich darf man kaum annehmen, dass Goethe ernsthaft glaubte, die Damen seiner Begleitung wüssten nicht, wann er Geburtstag hat. Allein der Umstand, dass ein Geschenk vorbereitet war, das man nicht einfach nur kaufen konnte, es musste zuvor nach dem Kundenwunsch der Damen erst vollendet werden, spricht kräftig dagegen. 1906 hieß es bei Eloesser: „Damals beim Abschied empfing er das Kristallglas mit den Namenszügen der drei Schwestern, das er als ein Heiligtum in seinem Schreibtisch verschlossen hielt und an seinem letzten Geburtstage in der Ilmenauer Waldeinsamkeit noch einmal an seine Lippen drückte.“ 22 Jahre später im Band 1 der Literaturgeschichte: „Beim Abschied empfing Goethe das böhmische Kristallglas mit den Namenszügen der drei Schwestern, das er dann als Heiligtum in seinem Schreibtisch verschlossen hielt; an seinem letzten Geburtstage in der Ilmenauer Waldeinsamkeit hat er es zum letzten Male an seine Lippen gedrückt.“ Von Namenszügen ist also zweimal die Rede.

Tatsächlich aber sind es nur die Anfangsbuchstaben der Namen gewesen, also ein U für Ulrike, ein B für Bertha und ein A für Amelie. Und niemand wird je begründet behaupten können, dass Goethe das Glas 1831 am 28. August letztmalig an seine Lippen drückte, wir wissen es schlicht und einfach nicht. Eloesser hat 1931 einfach nur ohne neues Wissen, das „noch einmal“ von 1906 in ein „zum letzten Male“ umformuliert. Das bringt fast ein wenig Melodramatik in den Text. In einer anderen Hinsicht scheint Arthur Eloesser ganz offenbar noch gar kein gesichertes Wissen zur Hand gehabt zu haben. Er geht auf die Rolle des Großherzogs Carl August als Brautwerber mit keinem Wort ein, weder 1906, noch 1931. Während man in der Goethe-Literatur immer wieder Darstellungen findet, die den Anschein erwecken, als gäbe es eine solide Quellengrundlage dazu, blieb es Sigrid Damm vorbehalten, in ihrem Buch „Goethe und Carl August. Wechselfälle einer Freundschaft“ klar und eben quellensicher auf die einzige Aussage hinzuweisen, die es überhaupt gibt, die der Ulrike von Levetzow aus ihren sehr fortgeschrittenen Lebensjahren. Es gibt keinen Grund, an diesen Aussagen zu zweifeln, vor allem aber haben weder Goethe noch der Herzog selbst Einschlägiges hinterlassen.

Wie Arthur Eloesser auf die Idee kam, die nachfolgende Vermutung auszusprechen, lässt sich heute nicht rekonstruieren: „Der fatale Entschluss zu dem Heiratsantrag kann Goethe erst in Weimar gekommen sein“. Die meisten anderen Autoren wissen dagegen sogar, dass Goethe seinen Herzog gebeten, überzeugt, aufgefordert habe, für ihn den wirksamen Brautwerber zu geben. Von solcher Vorgeschichte wusste die alte Ulrike nichts, als sie Julius Stettenheim (1831 – 1916) einige Auskünfte gab. Ihre Angaben lassen sich portioniert bei Dagmar von Gersdorff nachlesen in „Goethes späte Liebe. Die Geschichte der Ulrike von Levetzow“. Demnach hätte ihr Carl August sowohl ein eigenes Haus in Weimar als auch eine gute Pension angeboten für den erwartbaren Fall, dass Goethe eher starb als seine sehr junge Gattin. Tatsächlich hat Ulrike von Levetzow nie irgendjemanden geheiratet, sie starb mit 95 Jahren. Im Jahr 1823 und danach gab es viel Tratsch, höheren wie niedrigeren, beteiligt waren edle Damen wie die Witwe Schillers, die Gattin Wilhelm von Humboldts, doch immer war die Quelle das Hörensagen, das Vermuten und wohl auch das schlichte Erfinden. Und abermals haben wir eine Eloesser-Aussage ernsthaft in Zweifel zu ziehen.

„Die engfreundschaftlichen, liebevollen Beziehungen zu der Familie Levetzow hörten damit nicht auf, nur dass Goethe von nun ab seinen Verkehr vor der eigenen Familie verheimlichte; hat er doch, der nicht leicht etwas vernichtete, die meisten Briefe der Frau von Levetzow beseitigt, die er sowenig wie die Töchter wiedersehen sollte.“ Oh doch, Goethe hat sogar selbst wiederholt von Verbrennungsaktionen berichtet, die er von Zeit zu Zeit vollzog, er benutzte das Wort Autodafé dafür und hat so die Nachwelt mehrfach, man darf es so sagen, um Quellen betrogen, nur weil die Briefe, meist handelte es sich um Briefe, aber auch eigene Aufzeichnungen, nicht das Selbstbild Goethe belieferten, der vor allem von seiner eigenen Jugend bald nichts mehr wissen wollte. „Die Trümmer der Korrespondenz, die noch deutlich genug von einem unwandelbaren Gefühl sprechen, hat Bernhard Suphan nach Ulrikens spätem Tode im Goethe-Jahrbuch von 1900 vereinigt.“ Suphan (1845 – 1911) war der erste Direktor des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar, sein Name ist jedoch vor allem mit der historisch-kritischen Herder-Ausgabe verbunden. Die Levetzow-Edition war ganz sicher eher ein Nebenprodukt, Fachleute wie Eloesser registrierten sie dennoch sehr aufmerksam.

„Die späteren Briefe Goethes an die Levetzows, die immer wieder in der Erinnerung an den einzigen böhmischen Sommer schwelgen, bieten zu diesen wenig geheimnisvollen Andeutungen die ausgeführten Bilder der reizenden Komödie oder des Märchens“, schreibt er 1906 und man muss sich zwingen, das einzig als einzigartig zu deuten, wenn man nicht einen einfachen sachlichen Fehler erkennen möchte. Der scheint es aber doch gewesen zu sein, denn auch 1931 ist keine Korrektur erkennbar, kein neues Wissen über die langen und zahlreichen Aufenthalte Goethes in Westböhmen. Jetzt heißt es: „Die bescheidene, ruhige, in jeder Hinsicht neunzehnjährige Ulrike, für die Goethe immer eine Respektsperson blieb, war die Bevorzugte unter den drei Töchtern. … Das bescheidene, unbefangene Mädchen wusste wenig von der Bedeutung ihrer kindlichen Küsse, die den großväterlichen Freund entzückten und verzückten; sie war eine adlige Haustochter, außerhalb allen literarischen und künstlerischen Verkehrs, sie hatte auch von der berühmten Exzellenz im Hause kaum etwas gelesen.“ Was Goethe, um sie nicht zu schnell zu sehr überfordern, unter anderem dadurch ausglich, dass er ihr von seinen Werken erzählte, etwa vom „Wilhelm Meister“.

Ulrike spielt letztlich in Arthur Eloessers Beitrag vom November 1906 eine viel kleinere Rolle, als es die Überschrift des Feuilletons vermuten lässt. Ihn interessierten, wie er eingangs deutlich genug sagte, vor allem Goethes Briefe an Sohn und Schwiegertochter. Ihn interessierte natürlich das Vorfeld der Marienbader Elegie, die er umstandslos „das erschütterndste Liebesgedicht der Weltliteratur“ nannte, später schrieb er dann: „Das Gedicht ist etwas Ungeheures, der letzte Schrei der Liebe aus der Brust eines alten Mannes; die Götter richten ihn zugrunde, der ihr Liebling war. Ein kleines Mädchen ist ihm das All, Weltliebe, Weltseele, Weltfrömmigkeit.“ Und stellt die Begegnung in einen übergreifenden Lebenszusammenhang: „Ulrike begegnete Goethe mit so notwendiger symbolischer Bedeutung wie Friederike im Elsass, wie Marianne am Rhein, als das neue Lebensgefühl nach der Krankheit den letzten Johannistrieb sprießen ließ.“ Was die Vermutung erlaubt, dass es jeweils nach den Krankheiten auch eine andere junge Frau hätte sein können, nur kreuzten eben gerade im passenden Augenblick, Friederike, Marianne und Ulrike seine Lebensbahn.Außer bei Arthur Eloesser las ich das so noch nicht, jedem Beweis des Gegenteils stehe ich offen.


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