Der registrierte Goethe
Schon 1997 hat Siegfried Seifert in INFORMATIONSMITTEL FÜR BIBLIOTHEKEN (IFB) eine klare Aussage getroffen: „Dem abschließenden Bd. 9, der den – noch nicht näher vorgestellten Registerapparat enthalten wird, kommt große Bedeutung für die volle Nutzung des Reichtums der Materialbände 1 – 8 zu. Wie die Bearbeiter die Probleme der kumulierenden Zusammenfassung, der Erschließung und Erläuterung, aber auch der zusätzlichen Kommentierung der riesigen Zahl der Namen, Sachzusammenhänge und Werke in den methodischen Grenzen eines Registersystems lösen werden, wird für die Gesamtwertung dieses außerordentlich verdienstvollen, vielleicht dann unentbehrlichen Werkes, von ausschlaggebender Bedeutung sein.“
Jetzt ist die Arbeit an jenem Registerband abgeschlossen, Siegfried Seifert ist der Herausgeber und der verantwortliche Redakteur, und als solcher stellte er gestern im Ilmenauer GoetheStadtMuseum sein Ergebnis jahrelanger intensiver, bisweilen auch entmutigender Arbeit vor. Ganz nebenher war das natürlich auch Werbung für das gedruckte Buch, dessen Erscheinen für den 15. Oktober angekündigt ist. Der Referent verriet den Preis tunlichst nicht, der Registerband wird 229 Euro kosten. Wer die acht Bände, GOETHES LEBEN VON TAG ZU TAG, erschienen im Zürcher Artemis-Verlag von 1982 bis 1996, nicht besitzt und sie also jetzt nachkaufen möchte, um das Register an ihnen zu erproben, muss zwischen 450 und 688 Euro hinblättern, das ergab die Recherche unmittelbar nach dem Vortrag Seiferts bei einschlägigen Anbietern.
Etwas irreführend orientierte die Eintrittskarte des Museums auf „Goethes Tag- und Jahreshefte“, die einschlägigen Ankündigungen der lokalen Presse waren, nicht zuletzt wegen des zur Verfügung stehenden Platzes, klar aussagekräftiger. Wie aber redet man ein Register interessant? Siegfried Seifert von der Weimarer Stiftung Klassik hat es nach Kräften versucht. Das Fazit: Es ist ihm nicht gelungen. Denn immer dort, wo er interessant war, und er war natürlich interessant, redete er nicht über das Register, sondern über Inhalte, über einzelne Elemente aus Goethes Leben, über Inhalte der acht Bände, die das Register erschließen helfen soll. Seifert und seine Mitarbeiter haben eine enorme Fleißarbeit hingelegt, es ist die unerlässliche Arbeit an wissenschaftlichen Editionen, die nie hinreichend gewürdigt wird. Vor allem aber ist es, das muss den Fleißigen leider auch gesagt werden, eine zum Aussterben verurteilte Arbeit. Denn ich kann heute schon über beliebige Ausgaben beliebiger Autoren, soweit sie digitalisiert sind, mit mehr oder minder ausgefeilten Volltextsuchmaschinen in Sekundenschnelle in Erfahrung bringen, was mich in einem dicken teuren Registerband immer noch mühsames Blättern kostet.
Siegfried Seifert hat seinen Zuhörern die Prinzipien des Registeraufbaus erläutert, die niemanden überraschen konnten, der je ein Buch mit Register in den Händen hielt, das Personenregister ist hier ein Namenregister, weil es nicht nur Personen enthält, das Sachregister ist, wenn man so mag, geteilt in ein Goethe-Werkregister und ein Geographisches Register. An letzterem erläuterte Seifert mit einem unglücklichen Beispiel, wie sauer es werden kann, ein solches zu erstellen. Er nannte den ihm und seinen Mitarbeitern unbekannten Ortsnamen Airolo, und als er beifallheischend fragte, ob das jemand kennt, meldeten sich gleich drei aus dem Auditorium. Millionen kennen Airolo, denn man kommt unweigerlich, den Gotthard in den Alpen passierend, durch Airolo. Man kann dort sogar, mit herrlichem Talblick, eine gute Imbiss-Pause einlegen.
Unglücklich auch seine Ausführungen zum Thema Napoleon. Denn das verdienstvolle Register ist keineswegs nötig, um nun erst die detaillierte Forschungen zum Komplex Goethe und Napoleon zu ermöglichen. Seiferts eigene Tochter hat ein Buch dazu vorgelegt*, wie er auf Anfrage plötzlich erwähnte. Das wesentlich umfangreichere und auch deutlich bessere Buch von Gustav Seibt „Goethe und Napoleon“, nach der Hardcover-Ausgabe von 2008 längst auch als Taschenbuch in jeder Weimarer Buchhandlung erhältlich, hat das Thema abermals mehr als erschöpfend behandelt. Als Referent zu Details aus der Goethe-Biographie war Siegfried Seifert, zweifellos auch da ein profunder Kenner, freilich weder geladen noch angekündigt.
Eine sehr entscheidende Frage klammerte er allerdings auch zu seinem eigentlichen Thema aus: In welchem Verhältnis steht das Register der genannten achtbändigen Goethe-Chronik zu allen anderen Goethe-Registern? Ist nicht der Verweis auf einen der acht Bände immer nur eine Zwischenstufe zu einem wirklich substantiellen Suchen und Finden? Denn die acht Bände, so ausführlich sie auch sein mögen, im idealen Falle „vollständig“, führen ja immer nur zu Textauszügen. Die Seiten aus den acht Bänden, die Seifert vorstellte, zeigten die erschwerte Lesart, die ein solcher Band unvermeidlich mit sich bringt. Denn wer wissenschaftlich sauber Auszüge zitiert, seien sie aus Briefen, Werken, Aufsätzen, Büchern, muss mit Klammern und Auslassungspunkten arbeiten, allein das erschwert für „Normalleser“ den Umgang bis an die Grenze der Unerträglichkeit.
Wer aber sollen, nicht zuletzt angesichts der horrenden Preise für alle neun Bände, diese Leser und Nutzer sein? Nicht einmal wissenschaftliche Bibliotheken sind heute bereit und in der Lage, beliebig solche Bände anzuschaffen. Die erste einigermaßen vollständige Goethe-Ausgabe landete in der Stadtbibliothek Ilmenau beispielsweise erst, als es den mittlerweile berühmten Goethe-Koffer zu 99 Euro gab. Und auch der größte Goethe-Freund wird zugeben, dass es wichtiger wäre, die Werke Goethes selbst in möglicher Vollständigkeit zu lesen als immer wieder neue Werke über ihn und sein Leben. Bleibt ein extrem schmaler Kreis von Detailforschern, der wohl in diesem speziellen Fall auf die im Lieferumfang enthaltene CD-ROM eher zurückgreifen wird.
Das alles schmälert die unendlichen Verdienste von Siegfried Seifert und seinem Team selbstredend nicht. Aber es darf auch nicht so getan werden, als wäre ein Sechshundert-Kilometer-Ritt eines Kuriers auf einem Maultier mit einem dicken Brief in der Satteltasche in Zeiten des weltweiten und sekundenschnellen e-mail-Verkehrs eine Leistung am obere Ende der wissenschaftlichen Fahnenstange. Seifert führte seinem überraschend zahlreichen Publikum, es mussten sogar Stühle nachgeholt werden, am Beispiel des Namens Christoph Martin Wieland die Leistungsfähigkeit des Registerbandes vor. Wer aber, bitte, bitte, der sich intensiv und wissenschaftlich mit Wieland befasst, greift zum Register einer Goethe-Chronik? Es gibt ja Wieland-Ausgaben zuhauf, nicht zuletzt mit Blick auf das Jubiläum 2013 sind auch neue Publikationen zu erwarten. Nebenher: Goethes Schweigen zum Treffen mit Napoleon hat auch damit zu tun, das der Imperator aus Paris mit Wieland eher etwas anzufangen wusste als mit Goethe. Das Kapitel kann hier nicht aufgerollt werden.
Immer wieder sagte Siegfried Seifert: Goethe schreibt, Goethe schreibt. Dabei hat Goethe nicht nur seine Tagebücher nach 1790, und da kamen noch volle 42 Jahre, fast ausschließlich diktiert. Er hat auch in wichtigen Texten oft die Korrektur seinen Mitarbeitern überlassen und eben vor allem im Alter nicht alles akribisch kontrolliert. Er hatte, das war eine glatte Falschaussage im Vortrag, eben keine umfassende Kenntnis der aktuellen Literatur, weder der deutschen, noch der so genannten Weltliteratur. Es waren ausgewählte Autoren, die er in zum Teil heute kaum nachzuvollziehender Zuneigung las, darunter sehr richtig Walter Scott, darunter Alessandro Manzoni und Lord Byron, beide erwähnte Seifert nicht, auch Beranger, den Goethe maßlos überschätzte, wie man sich längst einig ist unter Fachleuten.
Während Siegfried Seifert aus Erwähnungen und Nennungen von Titeln und Autoren, vorsichtig formuliert, ein wenig vorschnell schloss, Goethe habe diese Werke allesamt gelesen oder „gekannt“, was immer das dann bedeuten müsste, widmete er der dagegen höchst seltsamen Tatsache, die er nur nebenher erwähnte, nämlich dass Goethe von seinem eigenen erfolgreichsten Buch, dem WERTHER, im Alter keine Erstausgabe besaß und sie erst über eine Versteigerung erwerben lassen musste, kein kommentierendes Wort. Man darf dem Registerband, der im Verlag de Gruyter erscheinen wird, Erfolg wünschen. Man muss angesichts der Realien des heillos überfrachteten Buchmarktes jedoch kein Prophet sein, um zu ahnen: Es wird überaus schnell gehen, bis der Band in den Listen von Händlern auftaucht, die mit stark gesenkten Preisen wenigstens etwas an Umsatz retten wollen.
* siehe oben: Werther in der Feldbibliothek