Katharina Mommsens Einleitung
Ein Buch, dessen Einleitung bereits so starke Zweifel am Rest aufkommen lässt, dass man normalerweise geneigt ist, es beiseite zu legen, ist mir nicht oft in die Hände gefallen. Katharina Mommsen ist Jahrgang 1925, sie ist berühmt, sie ist auch in Ilmenau schon aufgetreten. Ihr neues Buch aber, dem Verhältnis von Goethe und Schiller zueinander gewidmet, erlaubt bereits auf den ersten Seiten die starke Vermutung, dass es so besser nicht erschienen wäre. Die Einleitung zu "Kein Rettungsmittel als die Liebe. Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen", Wallstein-Verlag 2011, entwickelt eine starke These: Goethe und Schiller verband Liebe, Liebe von Mann zu Mann, war, profaner formuliert, eine homoerotische Beziehung. Erste Besprechungen des Buches haben sich natürlich sofort auf diese vermeintlich sensationelle Feststellung gestürzt, diese Stimmen seien vorerst ignoriert.
Zunächst: Was hat sich der arme alte Goethe schon alles gefallen lassen müssen, ohne dass er sich dagegen wehren konnte! Erst war er der große Aufreißer, kein weibliches Wesen, das nicht bei drei auf den Bäumen war, so die Botschaft auch mündlicher Reden über ihn, besonders gern mit einem Augenzwinken vorgetragen, war vor ihm sicher. Noch in meiner Zeit an der Goethe-Schule in Ilmenau konnte man allen Ernstes davon hören, dass in Stützerbach bis heute äußerliche Ähnlichkeiten vorweisende illegitime Nachfahren Goethes einherspazieren. Dann erkannte jemand kräftige Anzeichen eines inzestuösen Verhältnisses des Jung-Olympiers zu seiner Schwester Cornelia. Kräftig in eine ganz andere Richtung verwies die Entdeckung, dass Goethe bis zum römischen Aufenthalt und der dort in Erscheinung tretenden Wirtstochter Faustina "Jungfrau" war. Peter Hacks warf Goethes Impotenz auf den Markt der Vermutlichkeiten. Und dann kam, passend zu allem und jedem, die Enthüllung des bis dato größten Geheimnisses der Goetheschen Sexualität: eigentlich trieb er es mit Anna Amalia, Charlotte von Stein war nur die Tarnung, aus tausend falschen Briefen gebastelt.
Katharina Mommsen nun stellt ein homoerotisches, in der Einleitung freilich nur wahrscheinlich gemachtes und seltsam umschriebenes Verhältnis zwischen Goethe und dem zehn Jahre jüngeren Schiller auf die Thesen-Theke. Rasch geht sie über Rüdiger Safranskis "Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft" hinweg. Der habe sich nur auf die Briefe gestützt, sie aber, weshalb sie das beiseite schieben könne, stütze sich auf die Dichtungen. Spätestens hier muss jeder Leser, der auch nur ein wenig beschlagen ist mit Literatur und Literaturgeschichte, erstmals leise die Alarmglocken klingeln hören. Sind Dichtungen denn tatsächlich mehr oder minder oder gar nicht verschlüsselte Aussagen über das Privatleben ihrer Schöpfer? Die Frage so stellen, heißt sie mit einem klaren Nein beantworten. Die ganze Richtung der Literaturhistorie, die von solcher Basis aus operierte, ist seit vielen Jahren mindestens suspekt, eher aber einfach ad acta gelegt.
Katharina Mommsen dagegen frönt in einer schon wieder fast sympathischen Unberührtheit von allen methodischen Debatten dem etwas aufgehübschten Uralt-Biographismus. Sie nimmt jeden Satz, jede Verszeile, jede Metapher als biographische Botschaft. Das Verfahren hat sie im Goethe-Zusammenhang bereits einmal bis zum Extrem getrieben. Ihr Buch "Kleists Kampf mit Goethe", auch als Taschenbuch weit verbreitet, entwickelte eine einfache, genau besehen allzu schlichte Grundthese. Die lautete verknappt: Kleist war vollständig und absolut auf Goethe fixiert, alles was er tat, schrieb, dachte, ordnete sich dieser Fixierung unter. Das hätte man als These mit einer gewissen Großzügigkeit vorübergehend gelten lassen können. Katharina Mommsen aber verknüpfte diese schon an sich und in sich höchst fragwürdige Behauptung mit der Ergänzung, dass es sich umgekehrt bei Goethe ebenso verhielt. Was für die Autorin in der tapferen Deutung gipfelte, dass Goethe noch im "Faust II" geheime Kleist-Botschaften versteckt habe.
Was, um Gottes Willen, sollte jedoch den großen Goethe veranlasst haben, noch zwanzig Jahre nach Kleists Tod "geheime" Botschaften zu und an Kleist in irgendwelchen Texten zu verbergen? Im Detail war manche dreiste Behauptung, manche überraschende Sichtweise durchaus nicht ohne Verführungskraft. Das Gebäude des ganzen Buches aber erweckte den Eindruck eines Hochbaus auf statisch unberechnetem Fundament. Alles hatte Schönheit, fußte leider auf ungesicherter Basis. Und nun stehen, wieder nach Mommsen, in "Faust II" auch geheime Noten zu Friedrich Schiller.
Vierzig Jahre später lässt sich sagen: Katharina Mommsen ist sich treu geblieben oder: sie hat nichts dazu gelernt. Noch immer liebt sie es, auf einer fragwürdigen Ausgangsthese ein kunstvolles, kenntnisreiches Faktenbauwerk zu errichten, dass sofort und unwiderruflich einstürzt, wenn man eben das Fundament befragt. Ihre stille Voraussetzung, dass es sich bei dem, was sie an Anziehungskraft zwischen Goethe und Schiller voraussetzt, um Eros handelt und folglich eben homoerotische Befunde zu liefern seien, fällt sofort und kaum widerleglich mit einer anderen Annahme, die hier nicht weiter verfolgt werden soll. Ersetzt man nämlich probehalber den im Thema fragwürdigen Begriff des Eros durch den des Charismas, kann man nahezu alle Sätze Katharina Mommsens noch immer ernst nehmen, es entsteht nur ein vollkommen anderer Gesamtzusammenhang. Ein freilich extrem weniger spektakulärer.
Wie schon im Kleist-Buch vor vierzig Jahren agiert Katharina Mommsen auch hier ein sehr einfaches Verfahren aus: Alles, was nicht zur willkürlichen Grund- und Ausgangsthese passt, wird gnaden- und rücksichtslos ignoriert. In der hier zunächst nur zur Debatte stehenden Einleitung ist, was für eine weibliche Sicht wahrlich faszinierend bleibt, Goethes Gefährtin Christiane Vulpius samt Sohn August einfach ausgeblendet. Sie kommt erst später, weil es denn anders gar nicht ginge. Die Autorin braucht diese haarsträubende Ignoranz offenbar zum Beispiel für ihre kaum weniger haarsträubende Behauptung, außer ihr selbst habe bis dato niemand das Gedicht "Amyntas" verstanden. Die lange Reihe der Ahnungslosen hat, beliebige Griffe zu beliebigen Goethe-Büchern belegen das, bisher immer angenommen, "Amyntas" hätte mit Christiane und ihrer Wirkung auf Goethe zu tun. Die lange Reihe der Ahnungslosen hatte bisher auch immer angenommen, Goethes Abbruch der Reise nach Italien 1797, die am Ende nur seine vielfach dokumentierte, vielfach beschriebene, vielfach kommentierte dritte Schweizreise wurde, hätte mit Krieg und Napoleon zu tun. Jetzt erfahren wir: Goethe wollte seinen geliebten Schiller nicht allein zu Hause verschmachten lassen. Goethe war ein sich selbst Opfernder!
Wie kann, wenn das Kleist-Buch keine reine Lüge war, jetzt eine Zweitfixierung Goethes auf Schiller zum Buch werden mit einer stattlichen Reihe von Geheimbelegen, die nur von Katharina Mommsen und niemandem sonst verstanden werden können? Wie kann eine auch nur ansatzweise seriös sein wollende Darstellung plötzlich davon ausgehen, dass Goethes späte autobiographische Aussagen, seit Dutzenden von Jahren in ihrer Unzuverlässigkeit, in ihrer Absichtlichkeit erkannt, doch wörtlich und in jedem Detail für wahr anzunehmen seien? Die verklärende Darstellung Schillers, je später, je verklärender, längst Allgemeinplatz der Goethe-Literatur, wird weder erwähnt noch diskutiert noch für falsch erklärt.
Auch im Detail bietet Katharina Mommsen Thesen an schon in dieser Einleitung, die aller bisherigen Goethe-Literatur widersprechen. Das wäre wunderbar, wenn auch nur ein wenig nachvollziehbarer Beleg beigefügt worden wäre. Woher nimmt sie die kräftige Behauptung, Goethe habe für immer nach Italien umsiedeln, also Frau und Sohn rücksichtslos verlassen wollen, obwohl alle, aber auch wirklich alle nachlesbaren Belege anzeigen, dass bereits der zweite Aufenthalt Goethes in Italien, nämlich in Venedig, seine alte Begeisterung nicht mehr ansatzweise bestätigen konnte. Was zwei Jahre nach der Rückkehr aus Italien wahr war, soll sieben Jahre später nicht gedacht und gefühlt gewesen sein? Der Rest des Buches zeigt, dass der zweiten Italien-Aufenthalt zu den wohl vorsätzlich ignorierten Inhalten des Goethe-Lebens gehört.
Katharina Mommsen ernennt zum Kronzeugen ihrer Sichtweise Thomas Mann. Seltsamerweise verschweigt sie, die selbst anderen Autoren das Verschweigen homoerotischer Fakten in der Einleitung zum Vorwurf macht, Thomas Manns eigene homoerotische Orientierung, die gerade ein gutes Argument für spezifische Feinfühligkeit in dieser Sache gewesen wäre. Hans Mayer beispielsweise war, lange bevor die linkssektiererische Tageszeitung "Junge Welt" scheinheilig fragte, was Mayer in einer Berliner Ausstellung über Homosexualität zu suchen habe, auf Tolstois Abneigung gegen Frauen gestoßen und hatte sie vollkommen zutreffend und erhellend interpretiert. Dagegen ist Katharina Mommsens später Tabubruch ein verkniffener Tabubruch. Denn sie redet keineswegs Klartext. Sie formuliert ihre Grundthese/n eben nicht prägnant, was sie wie zufällig der Pflicht enthebt, sie auch prägnant zu belegen. Das Buch passt, das ist ein Fazit, auf kuriose Weise nicht zur Einleitung. Was natürlich umgekehrt zu sehen ist, denn die Einleitung ist der jüngste Text von allen.
Die ungeprüfte Voraussetzung, jede eigenartige Formulierung bei Goethe oder Schiller enthalte geheime Winke, ist nicht ein einziges Mal am historischen Wortgebrauch überprüft. Ein Blick in den Adelung oder auch noch in den Grimm wäre bisweilen hilfreich gegen überflüssiges eigenes Verwundern. Die Konstruktion geschlossener Anspielungskreisläufe zwischen Goethe und Schiller würde die Folgerung nötig machen, dass beide Autoren sich um Leser keinerlei Gedanken gemacht hätten. Das wäre eine Folgerung, nur müsste sie eben dann auch klar gezogen werden. Und noch eine ganz kleine, fast verschämte Frage an die Autorin: Wenn der große Goethe sich und sein Werk so bedingungslos bereit war, für Schiller zu opfern, warum hat er sich den realen Nöten, den pekuniären beispielsweise, gegenüber so, nun ja, blind verhalten?