Ilmenau als bequeme Ausrede
„Ich mach eine kleine Reise sonst kriegst du ihn wieder lang nicht.“ So beschließt Goethe am 30. August 1776 einen Brief, den er zwei Tage zuvor, an seinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, begonnen hatte. Empfängerin war Auguste Gräfin zu Stolberg.
Die kleine Reise, die Goethe ankündigte, führte ihn gemeinsam mit seinem Herzog Carl August nach Ernstthal. Ehe sie dort ankamen am Abend, machten sie in Ilmenau Station, das wortkarge Tagebuch des Jahres lässt vermuten, dass hier nur gespeist wurde. In Ernstthal scheint es auch nur um Jagd und Schlaf gegangen zu sein, denn schon am folgenden Tage ging es erneut in Richtung Ilmenau. Und wieder hielt Goethe lediglich das Essen und den Schlaf für notierenswert. Was wiederum für Wolfgang Vulpius in seinem sonst so verdienstvollen Buch „Goethe in Thüringen“reichte, diesen kurzen Ilmenau-Aufenthalt ganz zu vergessen. Am sechsten September ging die Reise weiter Richtung Kranichfeld, von wo aus Goethe mit seinem Freund aus seligen vorweimarischen Tagen, dem Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, gen Bad Berka zu Fuß marschierte. Es muss eine seltsame Wanderung gewesen sein. „... mit Lenz zu Fuse geirrt“ notiert Goethe später in Berka, mehr nicht.
Die Briefpartnerin im Norden Deutschlands, genannte Gräfin, knapp dreieinhalb Jahre jünger als Goethe, erfuhr von dieser Reise nie etwas Näheres. Denn wie Goethe ihr wohl den Glauben vermittelte, er habe nichts eifriger im Sinn, als ihr den Brief noch so rasch als möglich zukommen zu lassen, ließ er sich danach nicht weniger als elf Monate Zeit bis zu seinem nächsten Brief an Auguste. Ernstthal und Ilmenau waren also gewissermaßen, ohne genannt zu werden, die bequeme Ausrede für ein langes Schweigen auf dem Weg zum schließlichen Verstummen.
Man muss die Umstände dieses eigenartigen Verhältnisses ein wenig in Erinnerung rufen, um wenigstens annähernd zu verstehen, was da geschah. Auguste zu Stolberg, Schwester jener beiden munteren „Stolberge“, mit denen Goethe von Frankfurt aus fast spontan seine erste Reise in die Schweiz angetreten hatte, um sein Verhältnis zu Lili Schönemann auf die Probe zu stellen, wie er es viel später rückblickend beschrieb, war eine eifrige und leicht zu begeisternde Leserin der Literatur ihrer Zeit. Nach Klopstock, dem bleibenden Fixstern der Familie, verschlang sie unter anderem natürlich auch „Die Leiden des jungen Werthers“. Und sie schrieb anonym, also ohne ihren Namen zu nennen, an den Dichter des Werther einen nicht erhaltenen Brief, der heute sicher Fan-Post genannt würde.
Goethe aber kam diese unbekannte Verehrerin, deren Namen und Wohnsitz er doch sehr bald in Erfahrung brachte, wie gerufen. Er schien, das zeigen seine empfindsam-exaltierten Sätze, noch immer den Werther in sich zu tragen, er gab sich verliebt, er gab sich wankend-unbesonnen, brach Sätze ab, deutete an, vertagte sich wegen vermeintlich versagender Stimme. Alles vor einem Mädchen, von dem er nichts wusste, das er nie gesehen hatte und auch später nie sehen würde. Denn aus dem Plan, die Brüder zu ihrer Schwester, damals in Hamburg, zu begleiten nach der Heimkehr aus der Schweiz, wurde nichts.
Dass Goethe genau an seinem Geburtstag, der sich jetzt wieder jährt, kein Wort über diesen Geburtstag schreibt an Auguste, die er „Lieber Engel“ nennt, ist bezeichnend. Und ob er in Ilmenau zu später Stunde an sie dachte, ehe er sechs Uhr morgens schon wieder aufbrach, bleibt für immer sein Geheimnis.
Zuerst veröffentlicht: Thüringer Allgemeine, 27. August 2011