Stalin ohne Hammer

Meine Geburt war eines der wenigen wichtigen Ereignisse der jüngeren Geschichte, bei denen ich persönlich zugegen war. Ich erlebte sie gewissermaßen von innen heraus. Sie vollzog sich zu Arnstadt in einem großen Gebäude am Wollmarkt und als ich nach der üblichen Frist dorthin verbracht wurde, wo ein Körbchen auf mich wartete, starb Stalin. Es darf ausgeschlossen werden, dass meine Geburt seinen Tod beschleunigte, immerhin: Kaum war ich da, war er weg. Ich wurde, solange ich nicht laufen konnte, in der heute immer noch Friedensstraße heißenden Friedensstraße in Gehren hin- und hergefahren, die DDR, in die ich hineingeboren wurde, nahm keine Notiz von mir. Ich rächte mich und folgte ihrem Beispiel: ich nahm von ihr ebenfalls keine Notiz.

Und wenn mein Vater manchmal in einer komischen blauen Kombination aus dem Haus ging, der sonst immer einen Anzug trug, dann war das die DDR, die mir später erst erklärt wurde. In der man Mitglied einer Kampfgruppe wurde, wenn man für den Frieden und gegen die Bonner Ultras war. Die warfen, hieß es damals, Kartoffelkäfer aus Bombern in unsere sozialistischen Furchen und unsereiner, dem Körbchen schon eine Weile entwachsen, sammelte sie ein. Sie sahen irgendwie nicht annähernd so gefährlich aus, wie sie sein sollten, diese längs gelbschwarz gestreiften Käfer. In der blauen Kombination musste mein Vater auch zur Dreschmaschine gehen, denn die DDR war ein Land, da die Bauern zum Dreschen Hilfskräfte aus der sozialistischen Intelligenz benötigten, was im Nebeneffekt die so genannten Klassenbündnisse festigte. Hammer, Zirkel, Ährenkranz, ich erlebte also, wenn ich meinen Vater in den unerträglichen Spelzenstaub begleiten durfte, nur den hammerfreien Bündnisteil.

Wir hatten in unserer Wohnung nicht nur kein Bad, sondern auch keinen Wasserabfluss. Alles Wasser musste also zweimal in Eimern getragen werden. Nach oben, nach unten. Obwohl diese Aufgabe diskursfrei an meine Mutter fiel, scheiterte die Ehe meiner Eltern nicht an der Ungleichverteilung der Rollen wie später so viele Ehen im Status der Vollemanzipation. Sie scheiterte überhaupt nicht, sie hielt reichlich 54 Jahre. Die DDR kann das nicht von sich behaupten. Sie sackte zusammen wie eine angestochene Luftmatratze, zeigte, während die Luft aus ihr wich, wie hohl sie gewesen war. Wie die verbliebene Hülle dann zusammen gerollt wurde, ist eine andere Geschichte.


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