Doctor philosophiae (1)
Nicht weniger als sechs DDR-Jahre habe ich an die Erlangung eines Titels gehängt, der mit einem Vierteljahrhundert Verspätung, wie ich den Kommentaren meiner vierzehn liebsten Zeitungen entnehme, eine Abwertung erfahren hat. Schuld tragen ein schneidiger Freiherr vor allem, eine teilschnucklige Edel-Liberale sowie die Tochter eines Mannes, der Edmund hieß, wenn ich mich dunkel erinnere, und Spezialist war für Bahnverbindungen zwischen dem Hauptbahnhof und dem Flughafen oder umgekehrt. Die Herren in Bayreuth und analogen Orts, denen die Evidenz des Abgeschriebenen erst evident wurde, als sie wie noch nicht ganz stubenreine Kätzchen mit dem Näschen ins Häufchen gestoßen werden mussten, wegen ihrer, sagen wir im Nanobereich anzusiedelnden zarten Mini-Mitschuld, die haben spätwirkend meinen schönen alten Doktortitel in Frage gestellt, weil sie abgeschriebenen Quark besser bewertet haben als selbst gemolkene Milch.
Da verweigere ich mich aber nicht nur wegen dieser sechs DDR-Jahre, in denen zwei wirklich herrliche Parteitage stattfanden, einer 1981, einer 1986, die mir den Weg in eine immer noch ziemlich lichte, genauer belichtete, Zukunft wiesen. Seit 1980 war klar, dass nur ein ziemlich konstantes Wachstum der DDR-Wirtschaft auf dem Weg der „intensiv erweiterten Reproduktion“ im untersten zweistelligen Bereich dazu verhelfen würde, die Bäume des DDR-Sozialismus, wenn schon nicht in den Himmel, dann doch wenigsten bis zur Höhe der Kellerfenster eines dreiundzwanzigstöckigen Betonhochhauses wachsen zu lassen. Unsereiner, querschnittsgeschädigt durch das Verbot seines Diplom-Themas wegen legaler Ausreise des Forschungsgegenstandes ins heutige Altbundesgebiet, das damals noch Westen hieß, suchte ein neues Thema, bei dem er wenigstens etwas verwenden konnte vom gehäuften Material. Und es gelang.
Damals war es so, dass Themen an die Arbeitsthematik der Forschungsgruppe gebunden sein mussten, der man angehörte, ohne sie sich ausgesucht haben zu dürfen. Es konnte also geschehen, dass, sagen wir in einer Sektion Alte Geschichte (Sektionen waren so etwas leicht Ähnliches wie Fakultäten und/oder Institute heute) eine Forschungsgruppe im Zentralen Forschungsplan des ersten Arbeiter-und Bauernstaates auf deutschem Boden verankert war für Binnenfischerei-Kultur im Hochmittelalter. Nun kam der junge Diplomhistoriker, der über Brückenpfeilerkehlung im Raume Meißen seine ersten Sporen sich verdient hatte und sicher war, ohne Brücken gehe gar nichts.
Da hing es ganz von der Nettigkeit des Mannes ab, der später Vorsitzender des Autorenkollektivs werden würde, das nach endloser Arbeit das grundlegende marxistisch-leninistische Lehrwerk zur hochmittelalterlichen Binnenfischerei-Kultur würde verfassen dürfen, ob und wie der junge Kehlungsspezialist eingebunden wurde. Normalerweise bevorzugte der große Chef die einfache additive Methode, weil organische Themenverbindungen ein eigenes Forschungsgebiet geworden wären. Solche Arbeiten zeichnen sich im Titel primär durch das Wort „und“ aus. Ich also wollte zum Thema „Geschichte des geschichtsphilosophischen Fortschrittsbegriffs“ promovieren, meine Forschungsgruppe betrieb Intelligenzsoziologie. Das Ergebnis, vor 25 Jahren am 20. Oktober endlich verteidigt, und also auch in meiner Rubrik Jahrestage darstellbar, war eine Und-Dissertation mit dem wirklich einprägsamen Titel „Historische und systematische Aspekte der marxistisch-leninistischen Fortschrittstheorie und ihre Konsequenzen für die Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft“.
Bei einigen Bieren an den Abenden einer hochschulpädagogischen Weiterbildung in Georgenthal anno 1984 hieb mir ein angehender Medizin-Habilitierter auf die Schulter, er kam von der Medizinischen Akademie Erfurt, und sagte: Ihr seid arme Schweine, was Ihr alles machen müsst. Und ich fragte ihn: Und was musst Du? Ich schneide fünfzehn Brustkrebse auf, dann schreibe ich nieder, was ich gefunden habe und fertig ist die Laube. Für mich war sofort klar, was ich ihm allerdings nicht verriet: lieber noch zwei fette sowjetische Bücherpakete mehr als einen einzigen Schnitt, nach dem ich zu Boden gesunken wäre. So bin ich doctor philosophiae geworden, so steht es auf meiner Urkunde und noch heute meine ich, dass nur eines meiner drei Gutachten verstanden hatte, was ich mit meiner Arbeit sagen wollte. Da alle drei Gutachter noch leben, will ich nicht verraten, welche beiden Zeugs schrieben, das mit mir nichts zu tun hatte, mir aber immerhin die Note 1 einbrachte.
Eins jedoch verrate ich gern: Immer wenn mein Chef mich mit, sagen wir, unwiderstehlicher Überzeugungskraft dazu gebracht hatte, einen Passus, der einen sowjetischen Autor der Belanglosigkeit oder der, nun ja, auch Dummheit bezichtigt hatte, aus dem Text zu nehmen, schnitt ich ihn heraus, klebte das Manuskript ohne die Stelle wieder zusammen und verpackte den Schwund in eine Tüte. Sollte eines fernen Tages die Ullrich-Forschung meinen Nachlass durchforsten, stößt sie auf die dicke Tüte und die wird einen gnadenlosen Beweis enthalten. Ich war ein früher Kritiker der späten Sowjetphilosophie und ich habe mich so unendlich opportunistisch verhalten, wie es heute kaum denkbar wäre. Heute hauen bekanntlich junge Männer und Frauen ihren Chefs und Chefinnen gnadenlos Wahrheiten um die Ohren. Chefs und Chefinnen, wir ahnen es, bekennen sich schuldig oder Anteil nehmend und bauen ihre jeweiligen Kritiker in den Sonderförderplan zum eiligen Erreichen einer Aufsichtsratsposition ein.
Ganz findige Ullrich-Forscher aber, die all das Geschriebene auch wirklich lesen, und behalten, was sie gelesen haben, werden eine überraschende Feststellung machen. Etliche der verbotenen Stellen sind in den Fußnoten der Dissertation gelandet, kein Mensch hat es je gemerkt. Das wiederum kennen wir ja immer noch.