Martin Stephan 80

Ein Märchen, lässt sich sagen, ist immer auch eine Geschichte. Eine Geschichte, lässt sich sagen, ist selten auch ein Märchen. Da hätten wir also den Fall „Der verliebte Drache“. Zwei Jahre, bevor der den Titel lieferte für einen Band Geschichten, stand er in der Anthologie „Die Rettung des Saragossameeres“ unter den dort versammelten Märchen. In beiden Fällen, lässt sich sagen, ist die Zuordnung kaum anfechtbar. Ein Autor hat, lässt sich sagen, das gute Recht, seine Produkte zu bezeichnen, wie er mag. Manchmal machen das gleich die Verlage. Sie nennen dann alles Roman, was sie verkaufen wollen. Im vorliegenden Falle wäre das schief gegangen. Die Geschichten „Der verliebte Drache“ sind nicht zum Roman zu erhöhen, der Eulenspiegel Verlag war zudem nie eine erste Adresse für Romane. Aber er publizierte Martin Stephan. Denn von dem ist die Rede, wie die neun bis dreizehn Insider längst vermuten werden oder sogar wissen. Ich las „Der verliebte Drache“ vor vielen Jahren erstmals unter den Märchen. Das Buch ist gestaucht, weil es mir eines hässlichen Tages aus gewisser Höhe aus der Hand fiel und nicht etwa schadarm flach aufklatschte, sondern genau auf die Einband-Ecke, was man heute noch sieht. Kunze und Kunert sind immer noch drin.

Der verliebte Drache, um auf den zurückzukommen, lebt, wie sich das für anständige Drachen gehört, in einer Höhle. Zunächst ist er natürlich gar nicht verliebt, er wird es erst im Verlaufe dessen, was wir Handlung zu nennen gewohnt sind. Er liegt im Dunkel, sieht wenig, vor allem sich selbst nicht und von der Welt dürfte er nach seinen späteren Auskünften auch nicht viel gesehen haben, wobei er über merkwürdige Kenntnisse dennoch verfügt. Er weiß beispielsweise, dass man als vegetarischer Drachen, die feuerspeienden sind ausgestorben, für einen eigenen Versuch auf diesem Gebiet Streichhölzer und Petroleum bräuchte. Inwieweit hier in ihm angeborenes Wissen vorliegt, erörtert der Märchenerzähler nicht. Es nähert sich vorher aber schon weithin sichtbar in buntem Kleide ein weibliches Wesen. Und es kommt, wie es kommen soll. Der Drache verliebt sich, das Mädchen ist spontan willig, nachdem es die langen Wimpern des Drachens befühlt hat. Sie entledigt sich ihres Kleides, unter dem sie wohl nicht allzu viel trug, von weiteren Entledigungen weiß der Erzähler jedenfalls nichts zu erzählen. Sie besteigt den Drachen, der sich auf den Rücken legt und „das schöne Glied des Drachen war am Ende wie Samt“. So steht es da, Ehrenwort.

Zuvor, auch das steht da und sollte uns wehmütig stimmen, berührt der verliebte Drache „schüchtern die lockige zarte Scham der Frau mit seinen heißen Lippen“. Selige Zeiten, da die Damenrasur noch kein altersunabhängiges gesamtweibliches Unterfangen war. Martin Stephan schrieb, als er noch schrieb, in dieser Reihenfolge diese Bücher: „Schiffe gehen gelegentlich unter“ (1975); „Bankett für Achilles“ (1977); „Der verliebte Drache“ (1978); „Später Gast bei armer Witwe“ (1984) und „Weglaufen, verstecken, einfangen“ (1988). Letzteres besprach ich, das war in einem anderen Land, in einer Zeitung namens „Tribüne“, gedruckt am 2. Juni 1989. Nach 1989 ist, soweit mir bekannt, nur noch 2002 die 46 Druckseiten umfassende Erzählung „Abschied der Friseure“ erschienen. Um die 100 Euro muss man investieren für das edle Produkt mit montierter Deckel-Illustration, ich habe es mir verkniffen. Stattdessen denke ich an meinen Schulkameraden Wolfgang, der nie ein Humorbolzen war, mir aber bei irgendeinem Abituriententreffen erzählte, er habe da, wo, vergaß ich längst, einen komischen Vogel getroffen namens Martin Stephan, ob ich den kenne. Natürlich kannte ich den, wenn auch nicht persönlich. Aber wen kennt man schon?

Was der humorlose Wolfgang mir sonst noch erzählte vom humorvollen Martin, verschweige ich gern, denn es geschah, siehe oben, in einem anderen Land. „Bankett für Achilles“, die Insider werden sich erinnern, war auch ein Film. Sogar eher als ein Buch. Der Film wird am 20. November, warte nur, balde, den 50. Jahrestag seiner Premiere im Berliner Kino „International“ erleben. Regie führte seinerzeit der noch heute bekannte Roland Gräf, die Hauptrolle des Karl Achilles spielte der unvergessene Erwin Geschonnek. Den Hintergrund lieferte das Chemiekombinat Bitterfeld, dem ich einst, 1974, „Verführerischer Duft“ widmete. Uneitel wie ich bin, erinnere ich gern daran. Zerstörte Umwelt in der DDR, das rutschte leichter in die Lyrik als in den DEFA-Film. Ein kleines Gedicht nicht zu senden, war leichter als einen ganzen Film umsonst zu produzieren. Den Erstling aber, den hätte ich beinahe schon besprochen. Ich zitiere hier nur meinen Anfang: „Schiffe gehen tatsächlich gelegentlich unter und bisweilen passiert das auch Büchern, die „Schiffe gehen gelegentlich unter“ heißen. Martin Stephans Buch dieses Titels erschien zuerst in der noch jungen „Edition Neue Texte“ des Aufbau-Verlages (ENT), es fand ein wenig Aufmerksamkeit, nicht viel, dann aber war es weg.“

Meine ziemlich lange Rezension ist nie ganz zum Ende gelangt. Selbstverpflichtungen liegen dazu nicht vor. Wohl aber ist ein Blick auf „Ich will nicht leise sterben“ möglich. Das waren einmal nicht mehr als sechs Druckseiten, die den Band „Der verliebte Drache“ abschlossen, kompakt, stimmig. Ich würde Stimmigkeit überhaupt gern zum Charakteristikum für die Prosa von Martin Stephan erheben. Stimmigkeit setzt, will ich meinen, eine traumwandlerische Beobachtungsgabe, eine Beobachtungssicherheit voraus, die wohl nicht erlernbar ist, also zu den sattsam bekannten fünf Prozent gehören. Der Rest sei Arbeit, sagen die, die wenigstens ahnen, wie wichtig die fünf neben den restlichen 95 Prozent sind. „Ich will nicht leise sterben“ ist auch ein Hörspiel geworden, als solches lieferte es 1979 den Titel eines dialog-Bändchens im Henschelverlag. Das Hörspiel ist, ich will es nicht verschweigen, keine gute Idee gewesen. Der Monolog wäre wohl auch a la Günter Rücker ins Radio gekommen und sehr gut gewesen. So aber glaubte Stephan, fürs Radio mehr Personen, sprich Stimmen zu brauchen, es kamen Breite und etwas Kolorit hinzu, die Geschichte selbst hat dabei nicht gewonnen. Dennoch landete sie auch in der Sammlung „Brot und Salz“.

Martin Stephan hat auch den umgekehrten Fall probiert. Aus dem am 17. Dezember 1981 im Berliner Rundfunk urgesendeten Hörspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ machte er die für seine Verhältnisse aberwitzig lange Geschichte „Das Metronom“, vorabgedruckt in Heft 12, Dezember 1983, „Neue Deutsche Literatur“ (NDL), dann als dritter Text in seinem Band „Später Gast bei armer Witwe“ (1984). Das Hörspiel ist bestechend, nicht nur weil die Sprecher Dietrich Körner, Manfred Karge und Jenny Gröllmann hießen. Es ist einfach eine gute Idee gewesen. Das Spiel passt zu jenen gar nicht seltenen Versuchen der DDR-Literatur der Ära Honecker, die sich mit den Nebenwirkungen der auf mehr Konsum gerichteten „Politik von Partei und Regierung“, wie das damals hieß, beschäftigten. Der Idealismus, der die schwere Mangelwirtschaft der frühen Jahre zu kompensieren hatte, erübrigte sich wenigstens zum Teil. Spätere Ökonomen, die den Untergang der DDR analysierten, fanden heraus, dass die Akkumulationsrate vernachlässigt wurde zugunsten des Konsums. Es ging den Leuten besser, aber sie entsprachen nicht mehr dem Bild vom Menschen, das der real existierende Sozialismus von sich selbst entworfen hatte, an dem er unverdrossen hing.

Bei Martin Stephan ist es das kinderlose Paar Mahrmann, ausschließlich auf Konsum orientiert vor allem der Mann, mit romantischen Rest-Träumen die Gattin. In dieses Anti-Idyll platzt der Blinde mit seinem Hund Dunja, der angeblich ein Metronom kaufen will, das in einer Annonce angeboten wurde. Niemand im Haus aber hat ein Metronom angeboten, Gatte Mahrmann weiß nicht einmal, was ein Metronom überhaupt ist, auch andere im Haus wissen das nicht. Der Blinde kann als ein Versucher gedeutet werden, der mehr sieht als Sehende, der ein Gespür hat vor allem für die Verluste. Er bietet den beiden noch jungen Leuten, die ihm am liebsten sogar noch sein gar nicht vorhandenes Haus abgekauft hätten, eine Selbstdeutung. „Suchen Sie diesen Augenblick, wo es begann. Wo Ihr Elan verlorenging, wo die schöpferische Schroffheit zur Glätte wurde, der Mut zur Feigheit und die Liebe zur Gewohnheit“, fordert der Blinde das Paar auf. „Wo Sie ausgetauscht wurden gegen einen Jemand, der Sie verraten hat und Ihr leben gestohlen“. Auch Frau Mahrmann findet nun, was die Idee für sich hat: „Mir gefällt der Gedanke jedenfalls, es macht einen irgendwie … schuldlos“. Die Pointe: Der blinde Herr Wollert sucht sein Metronom in einem anderen Haus.

Verschweigen will ich nicht, dass mich an „Ich will nicht leise sterben“ etwas gestört hat. Die Hilfsarbeiterin Klara Wessel schaut im Juni auf den Oktober voraus. Das ist der Monat, in dem sie 70 Jahre alt wird. Dass die Rolle Potential hatte, sah Regisseur Thomas Langhoff, als er auf der Basis des Drehbuchs von Stephan sie mit Lotte Loebinger besetzte. Jürgen Gosch war Erich, Ruth Reinecke Anita und Jürgen Holtz Wullstein. Dass aber eine Frau mit 70 noch vor mittlerweile 50 Jahren sich selbst als alt sah, von den anderen als alt gesehen wurde und beim ersten Unwohlsein gleich ans Sterben denkt, das stört mich. Ich schaue auf all die Frauen des Jahrgangs 1955, die 2025 70 Jahre alt wurden und noch werden und sage: Sterben ist kein Thema, auch wenn nicht wenige natürlich schon tot sind. Nachrichten von seinem Ableben haben mich keine erreicht, ich gehe also bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass Martin Stephan heute 80 Jahre alt ist. Ob er feiert, ob er feiern kann, ob mit ihm gefeiert wird – ich weiß es nicht. Er hat einen Herrn Schneider erfunden, der seinem Besucher seine Sammlung gebrauchter Ballettschuhe vorführen wollte. Solche Erfindungen sind es, die aus einfach nur Aufgeschriebenem Literatur machen. Genau solche.


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