Reto Flückiger und die höhere Diplomatie

Den ganz schlimmen Menschenmatsch hat uns die Kamera erspart. Das vom Vierzehn-Tonner überrollte Mädchen sieht noch ganz leidlich aus, wie es da auf der Straße von Luzern nach Sempach liegt. Und lange dauert es nicht, da weiß man auch, dass es schon tot war, ehe der Laster kam mit dem übermüdeten Fahrer. Herrlich, wie der Mann, den seine Frau schon für jenseits von Gut und Böse hält, sich genau an die Planenaufschrift erinnern kann, der Unfallflüchtige ist mehr als rasch gefasst. Die Frau wäre vermutlich nicht einmal sicher gewesen, ob der Lkw vier Räder hatte. Dafür kann sie sicher noch vierzig Jahre später genau berichten, welche Schuhe sie trug, als die Polizei sie befragte. Für die „Welt am Sonntag“ hatte der neunte Schweizer „Tatort“ seit Wiedereinstieg der Eidgenossen drei gute Minuten und zu viel schauspielerisches Mittelmaß, für die „TV Spielfilm“ war „Kleine Prinzen“ der „Tipp des Tages“ und „durchweg stark besetzt“. Kann sein, dass die Kritikerin der Sonntagszeitung noch nie einen Schweizer Tatort sah, sonst hätte sie vom Regierungsrat Eugen Mattmann kaum so überrascht sein können, der doch eigentlich in dieser Folge sich beinahe, für seine Verhältnisse, für seine Mitarbeiter Flückiger und Ritschard in die Bresche schlägt und erste zarte Sympathiepunkte sammelt. Ansonsten ist seine Aufgabe die der Vorgesetzten in fast allen Fernsehkrimis, er kann seinen Untergebenen das Wasser nicht reichen.

Warum schalten Kritikerinnen nicht wirklich ab an der Stelle, wo sie glauben, spätestens abschalten zu müssen? Und fordern dann gar noch das Aussortieren der Schweiz aus dem Tatort-Portfolio? Das war ja der Tenor nach den ersten zwei, drei Fällen fast ausschließlich, man hatte seinerzeit den Eindruck, hier rächten sich deutsche Fernsehrichter für den hohen Frankenkurs. Nach dieser Logik müsste Lena Odenthal längst im Krimi-Mülleimer gelandet sein, waren früher die Schnarchnasen aus dem Saarland und Baden-Württemberg diesem nie wirklich entstiegen. Nein, eine Sternstunde des deutschsprachigen Fernsehkrimis war das freilich nicht, aber wann gibt es die schon? Bei dem stetig steigenden Angebot vor allem mit der ambitionierten Aufrüstung des ZDF in diesem Segment wäre das alles andere als einfach. Warum soll es schlecht sein, wenn die zugeknöpfte Leiterin eines Schweizerischen Eliteinternats für superreiche Schnösel und Schnöselinen dem vermeintlichen Klischee entspricht, auch der pseudoengagierte Kritiker entspricht ja bestenfalls dem Klischee vom pseudoengagierten Kritiker. Mich würde eher und zwar schweizunabhängig interessieren, was denn eigentlich die diplomatischen Verwicklungen wären, die allseits gern befürchtet werden und reflexhafte Meidbewegungen auslösen. In diesem Tatort ist die einzige Verwicklung auf dieser Linie ja das Verschwinden eines Schweizers im Emirat der Verdächtigen.

Es gibt wie immer in konventionellen Krimis die üblichen Verdächtigen, die es nicht waren, aber Einblick in kritische Milieus erlauben. Hier ist einer von ihnen ein rotzlöffelarroganter Sohn aus einer der hundert reichsten Schweizer Familien, ein dealender Versager. Dann gibt es noch ein Kunstlehrer-Würstchen, das es mit einer Schülerin trieb und deshalb unter Druck gesetzt wurde. Was es nicht gibt und sonst in nahezu jedem Krimi den Schluss auf den Täter unabweislich macht: Regisseur Markus Welter macht nicht den/die nach den Ermittlern prominenteste/n Darsteller/in auch tatsächlich zum Täter/zur Täterin. Dafür gibt es zum Augenzwinkern ein Verhältnis der deutlich älteren KTU-Dame (Fabienne Hadorn) mit dem Praktikanten, es gibt einen Flückiger, der geheimnisvolle Nachrichten mit einem offenbar weiblichen Wesen austauscht, ohne seiner sympathisch neugierigen Kollegin Ritschard sein Herz auszuschütten. Einen schuldbewussten Vater Fleury (Luc Feit), der am Ende haarscharf an der Selbstjustiz vorbeischlittert und trotzdem verhaftet werden muss, während unten der Mörder seiner Tochter ins Auto steigt, um in die sichere arabische Heimat zu gelangen. Man freut sich schon, dass Kritik nicht die Aussetzung aller arabischen Themen bis zum Ende aller Nahostkonflikte fordert. War da nicht mal ein Aleviten-Tatort, der die Medien stärker bewegte als der Hunger in Somali-Land?

Es gibt nur ein Land der Welt, aus dem in dichter Folge von Montag bis Sonntag in fast allen deutschen Krimis die ganz Bösen, die ganz Brutalen, die folternden Killer mit den Killervisagen kommen dürfen, ohne dass eine besorgte Stimme fragt, ob wir denn die Russen tatsächlich derart dauerhaft diskriminieren dürfen, falls wir denn der Grundannahme huldigen, die Darstellung von Menschen in Filmen diskriminiere, wenn diese etwas tun, wenn die Großgruppe, der sie angehören, etwas tut, was alle anderen normalerweise nicht tun. Die DDR kannte das Tabu, Lehrer als Straftäter zu zeigen, alle anderen Intellektuellen waren zum darstellerischen Abschuss freigegeben, insbesondere Freiberufler und Kleinkünstler, echte Proletarier dagegen waren meist sehr bereit, die staatlichen Organe zu unterstützen. Also hier im Tatort aus der Schweiz vernascht ein Minister aus dem nicht näher bezeichneten Emirat ein Mädchen, um dem jüngeren Bruder, der Mitschüler des Mädchens ist, zu zeigen „wie der Westen wirklich ist“. Was den jüngeren Bruder zu der mörderischen Kurzschlussreaktion veranlasst. Vorher hat der ältere Bruder auch noch die Aktzeichnungen des Jüngeren im Hotel-Kamin verbrannt. Das Opfer, gespielt von der schon hoch gelobten Nachwuchsdarstellerin Ella Rumpf, hat sich offenbar so bewegt, dass man es provozierend nennen könnte. Man geht kaum fehl in der Annahme, darin eine gewisse Mitschuld zu sehen.

Dass die Schweiz in ihrer Blindheit in diesem Film immer noch mit der Fifa renommiert, habe ich nicht gesehen. Ein Satz, den der ältere Bruder spricht (aufsagt, heißt es in der WamS), belegt das auf keinen Fall. Er belegt auch nicht, dass es nebulös um die WM in Katar gehe, davon habe ich weder gesehen noch gehört. Die tiefe innere Verstörtheit des jüngeren Prinzen, der meinte, mit dieser Ava in London ein neues und gemeinsames Leben leben zu können, die sah ich nicht. Im Elite-Internat wird mit Urin-Proben getrickst, um den Zugriff der strengen Chefin zu entgehen. Die demnach und sie sagt es auch den Ermittlern, mit Urin-Proben agiert, um ihre Schule sauber zu halten. Ein Leibwächter gesteht die Tat, die er nicht begangen hat, der Vertreter der Bundespolizei der Schweiz verhält sich mustergültig so, wie wir es von den LKA- und BKA-Leuten aus dem deutschen Tatort-Portfolio schon bis zur Ermüdung gesehen haben. Vielleicht ist es im wirklichen Leben wirklich so? Der Ermittler vor Ort ist immer das Frontschwein seligen oder unseligen Andenken, der den Etappenhengsten zeigt, wo der Hammer baumelt. Es ist keineswegs die vorrangige Aufgabe der Gerechtigkeit, stets zu siegen. Manchmal bringt ihre Niederlage mehr auf den Bildschirm. Und wenn Delia Mayer den Stefan Gubser nicht mehr skeptisch-belustigt beobachten würde, wenn sie mit ihm ein Bier trinkt, würde in meinem Tatort-Portfolio definitiv etwas fehlen.


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