Bedenkzettel (1)

Alphabetische Ordnungen haben, wenn sie auf Menschen angewendet werden, bisweilen tatsächlich den gewünschten Befriedungseffekt: Eifersucht wird begrenzt. Wer Ullrich heißt wie ich, kommt hinten, wer Aabenraa heißt, hat nie eine Chance, sich zu verstecken. Wenn Jürgen Becker den Band „Begegnungen. Eine Festschrift für Max Frisch zum siebzigsten Geburtstag“ eröffnet, damit Jurek Becker knapp verdrängend, hat das Alphabet unerwünschte Nebenwirkungen. Nach diesem Jetset-Lifestyle-Geschwafel legt man anständigerweise das Buch beiseite und lässt es dort liegen.
15/5/21

Wenn 1982 in Indonesien geborene Kolumnisten aus ihrer Jugend plaudern, schwillt mir der Kamm. Also der Taschenkamm mit langem Griff, den ich nie in der Arschtasche trug, weil ich überhaupt nie etwas in der Arschtasche trug, der schwillt natürlich nicht. Was labert so einer von der Choriner Straße, wo ich dereinst von meiner Mulackstraße aus mal eben rasch zu Christoph Links schnürte, geradenwegs über die Wilhelm-Pieck-Straße hinweg, links in den Innenhof, viele Treppen nach oben. Wen interessiert, welche HipHop-Scheiße er wann zuerst hörte und dass er auch Eric Clapton Unplugged wahrnahm. Wichtiger wäre zu lesen, ob arbeitslose Theaterkritiker Kurzarbeitergeld beziehen, oder ob sie sich alle mit Besinnungsaufsätzen über Wasser halten. Manche Themen schaffen es nicht auf den Baum, ehe sie ergriffen werden. Die Opfer sind wir.
16/5/21

Das Reiche-Leute-Blatt NEUES DEUTSCHLAND teilt seinen Lesern mit, dass man in Wien wieder ins Theater gehen kann. Also man kann dort Oscar Wilde sehen. Man muss nur noch eben rasch nach Wien fahren, um einen der nächsten Termine zu erwischen, man muss nur noch einen halben Hartz-IV-Satz für eine Theaterkarte investieren, wenn man denn eine bekommt und dann, ja dann. Außerdem vermeldet das Blatt, was viel schöner ist, dass in Düsseldorf jetzt obdachlose Indianer-Häuptlinge mit dem Einmal-Impfstoff von Johnson & Johnson geimpft werden, was den wohlhabenden Rentnern unter den Lesern, die nicht länger auf den postsowjetischen Sputnik V warten wollen, die Freude an Astra Zeneca versüßt während der 12 Wochen Wartezeit. Manche sterben vor der zweiten Impfung, was einen Termin freisetzt. Leider nicht für Rothäute.
27/5/21

Ein Reportier-Komiker mit schwarzem Schal fragt einen Schreibkomiker des Jahrgangs 1987, was denn der Plattenbau für ihn symbolisiere und der von seinen zwei volle Jahre umfassenden Hardcore-DDR-Erfahrungen gebeutelte Spund faselt: die Professorin neben dem Kindergärtner. Hätte ich auf dem Balkon gestanden, auf dem beide sich für das ZDF filmen ließen, wäre ich wohl hinabgestürzt. Schreckstarr. Da ich seit 42 Jahren im Plattenbau wohne, weiß ich, wann DER Professor auszog, weil er sich jetzt ein Eigenheim bauen durfte, DIE Kindergärtnerin wohnt bisweilen immer noch da. Von Björn Stephan werde ich selbst unter Androhung von Waffengewalt nichts lesen, auch wenn er demnächst noch einmal ein Buch des Sommers schreibt. Übrigens konnte DER Professor, als er in seine Vier-Raum-Wohnung einzog, aus seiner Wohnung direkt ins Freie schauen, ohne dafür das Fenster benutzen zu müssen, es war eine Lücke zwischen zwei Platten, die erst nach dem nächsten Parteitag verputzt wurde, Wahnsinn!
28/5/21

Ist es ein west-linkes Adelsprädikat, wenn man in den Siebzigern aus der SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlins) ausgeschlossen wurde? Rückblickend könnte man meinen, es sei eher eine Schande, drin gewesen zu sein. Aber neben den K-Gruppen-Komikern, die das Stören von west-linken Veranstaltungen als Hauptinhalt von Politik verstanden, mit Fuchteln und Krähen verbunden, war die moskautreue Kleingruppe, die „materielle Unterstützung“ aus dem Osten Berlins über keineswegs übertrieben dunkle Kanäle konsumierte, durchaus von einer gewissen ärmelschonergeschützten Grundseriosität. Marxismus-Leninismus verdauten die Westlinken leider nicht aus Marx, Engels oder Lenin, allenfalls aus den so genannten Frühschriften, weil die so schön unverständlich waren wie die eigenen Salon-Linken aus der Frankfurter Schule. Weshalb noch heute einer ihrer Repräsentanten mit dem im Internet gnadenlos verwechselbaren Namen Michael Jäger (Jahrgang 1946) allen Ernstes veröffentlicht zu glauben scheint, dass sich in der Marx-Feststellung, die Bourgeoisie sei eine höchst revolutionäre Klasse gewesen, Bewunderung verbirgt. Auch die Sklavenhalter waren verglichen mit den Neandertalern eine revolutionäre Klasse, dennoch bewundert man eher die Neandertaler, weil sie barfuß hinter Mammuten her rannten. Jäger ist es auch, der Baerbock-Gegner einer verlogenen Doppelmoral bezichtigt. Gibt es denn auch eine ehrliche Doppelmoral? Im „Freitag“ kennt man Sprachkabriolen und fährt bei schönem Wetter gelegentlich im Kaprio.     4/6/21

Wer es nicht fertig bringt, „unser Land“ zu sagen, sondern immer nur von „diesem Land“ sülzt, sollte gar nicht erst antreten, es regieren zu wollen. Es geht nicht um dieses oder jenes Land, es geht um unser Land, in dem wir geboren sind, falls wir hier geboren wurden und nicht im Gummiboot über Meer kamen oder mit der Cap Anamur über ein anderes Meer. Velten Schäfer, Dr. phil. Eckehart Velten Schäfer, genauer geschrieben, Jahrgang 1973, ist der Meinung, es müsse an die „Mao-Bibel“ denken, wer dieser Tage auf die Grünen und ihre Kandidatin blickt. Vielleicht ist ja Sportsoziologie doch nicht die ideale Voraussetzung für den Blick auf deutsche Parteien und ihre Kandidatinnen ohne Binnen-Stern. Ich verbinde mit Velten Bilder von einem Autobahnsee und seinem Sandstrand und FKK mit Ramona, Christoph und Uwe. Einen Uwe Schäfer kannte ich auch und einen Rudolf Schäfer noch dazu, mit dem ich gemeinsam eine Reportage produzierte, als Dr. Eckehart Velten Schäfer ein Jahr alt war, mitten in der DDR, und die Ungarinnen, die in Ilmenau im Henneberg-Porzellan arbeiteten, waren noch Ungarinnen ohne Hintergrund und mit Vordergrund. Ich muss nicht eine Nano-Sekunde an die Mao-Bibel denken, wenn ich auf die Kandidatin blicke. Das Schönen von Lebensläufen ist eine westdeutsche Basis-Kompetenz für Möchtegern-Intellektuelle, die jedes Blockseminar in ihren tabellarischen Lebenslauf aufnehmen, als wäre es ein Studiengang gewesen. Ich hätte dieser Logik und Schreibweise zufolge dies alles studiert, und zwar fast durchweg mit Abschlussprüfung: Philosophie, Ästhetik, Ethik, Psychologie, Logik, Politische Ökonomie, Schweizer Literaturgeschichte, Deutsche Geschichte der Neuzeit. Und das alles an einer einzigen Universität, die freilich die beste war, die der schnöde Osten zu bieten hatte: der Berliner Humboldt-Universität. Mao-Bibel-Geschwafel gab es da leider keins. Weihnachtsgeld für Grüne auch nicht, bestenfalls mal eine Jahresendprämie. Nach dem Diplom, natürlich.
18/6/21

Was ein Heimatroman ist, ahne ich: es ist Heimat drin. Was aber ist ein Erfolgsroman? Ist da vielleicht Erfolgs drin? Wenn ein neuer angekündigt wird, bedeutet dies, dass es bereits einen oder gar mehrere Erfolgsromane gab. Das ist schön für sie, mich interessiert es eher nicht. Wobei ich gestehe, dass mir jene Romane die liebsten sind, die innerhalb einer Woche in allen Feuilletons besprochen werden, deren Verfasser sämtlicher Geschlechter dann in allen einschlägigen und ausschlägigen Fernsehformaten lümmeln oder im ZEIT-Magazin verraten dürfen, was sie gerettet hat, respektive, wovon sie träumen. Über diese Romane bin ich gewissermaßen im Schnelldurchlauf informiert und muss nur noch warten, bis die ersten Landesbühnen aus ihnen Zeugs destillieren für Schauspieler und Beleuchter. Dann weiß ich, welche Theaterabende ich auf keinen Fall besuchen werde. Juli Zehs neuer Erfolgsroman heißt übrigens „Über Menschen“, was gewissermaßen das Gegenstück ist zu „Unter Menschen“, was wiederum die geglückte Vermeidung von „Untermenschen“ ist, welche es bekanntlich nicht gibt und nie gegeben hat. Ein Leerzeichen macht den gesamten Unterschied, womit fast die halbe Welt erklärt wäre.
1/7/21


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