Garcia Lorca: Bernarda Albas Haus; Nationaltheater Mannheim

Die Zeiten sind vorbei, da drei der fünf Töchter-Darstellerinnen in „Bernarda Albas Haus“ mit Vornamen Renate hießen. Sonst aber ist erstaunlich wenig vorbei, seit 1961 in Darmstadt, auch seit 1936, als Federico Garcia Lorca seinen Dreiakter zwei Monate vor seinem gewaltsamen Tod zu einem Ende brachte. Das manche als solches gar nicht zwingend anerkennen wollen, weil sie nicht ausschließen können, dass der Autor vor einer Aufführung nicht doch noch etwas geändert hätte. Im Zeitalter der inquisitorischen Journalisten-Frage an wehrlose Gesprächspartner „Können Sie ausschließen, dass...?“ ist es mit dem Ausschließen so eine Sache. Der einzige namhafte Kritiker, der dezidiert negativ über das „Frauendrama in spanischen Dörfern“ urteilte, Friedrich Torberg, hatte es kurioserweise auch mit dem Ausschließen, als er die Inszenierung am Theater in der Josefstadt Wien 1956 resümierte, die seinen Kollegen Otto Basil und Hans Weigel sehr zusagte. Torberg wollte nicht ausschließen, dass Garcia Lorca auch ein schlechtes Stück hatte schreiben können und weil er eben das nicht wollte, war es sofort ein schlechtes Stück für ihn. Ergebnis: Seine Besprechung wurde kaum mehr als eine satirische Paraphrase des Bühnengeschehens.

Wer sich, weil er hundertprozentig ausschließen kann, dass ein Gastspiel eines namhaften Hauses in einem namhaften Haus keine gute Sache ist, um die Inszenierung vorab bemüht, die zu erwarten ist, wird auch auf seltsame Phänomene stoßen. Da ist der Regisseur Calixto Bieito (Jahrgang 1963), der sich dem Vernehmen nach in Mannheim und auch sonst den Ruf eines Skandalregisseurs erarbeitet hat. Man liest es in den Provinzblättern um Mannheim herum und selbst in den zwei Textzeilen, die WIKIPEDIA für ihn übrig hat. Gewalt und Sexualität, die Kernsubstanz fast aller Theaterskandale, seit es den Theaterskandal der Neuzeit gibt, wobei sich das Sexuelle vom unsichtbar rutschenden Schlüpfer bei Carl Sternheim bis zu mit Schweineblut besudeltem Damenschamhaar bei Hermann Nitsch kräftig veränderte und dann stehen blieb, sollen ihn auszeichnen. Gut, in „Bernarda Albas Haus“, Premiere in Mannheim am 1. April 2011, halten sich beide Skandalkomponenten im kompatiblen Segment für Oberstudienrätinnen und Stationsarztgattinnen. Soweit man den Oben-ohne-Auftritt der am 31. Mai 90 Jahre alt gewordenen Elke Twiesselmann als verwirrte Großmutter Maria Josefa als bewundernswert mutig anzusehen bereit ist. Bei der Premiere war sie noch 85. Elke Twiesselmann war nicht nur mutig, sie war (für mich) das spielerische Ereignis des Abends.

Sie machte in ihren beiden Episoden-Auftritten dem Star des Abends, Nicole Heesters, die ihr Alter (78) auch nicht mit dem Schleier des Geheimnisses umgibt, und Anke Schubert, die es tut und nach der Premiere in höchsten Tönen gelobt worden war, durchaus satte Konkurrenz. Das Publikum des einmaligen Gastspiels am Deutschen Nationaltheater Weimar erlebte 90 Minuten Garcia Lorca ohne Pause in strenger Einfachheit und einfacher Strenge. Erstaunen und gar verunsicherte Lacher gab es an Stellen, die die Hausfrau in der Zuschauerin ansprachen (beim Bodenwischen, nach dem Spucken). Der Regisseur hat bei den kleinen Rollen kräftig gestrichen. Es gibt die zweite Magd nicht, weshalb Anke Schubert als La Poncia den eröffnenden Dialog, mit dem der spanische Autor vor achtzig Jahren einen durchaus klassischen Einstieg zu Papier brachte, zum anklagenden Monolog gerät. Charakterisierung des Hauptakteurs in Abwesenheit, man muss gar nicht an „Wallensteins Lager“ denken als Mutter aller Beispiele, um zu sehen, wie fest in Tradition Garcia Lorca steht. Gestrichen ist die Bettlerin, die den Anlass liefert für Bernarda Albas ziemlich sozialdarwinistischen Ansichten über den Stoff, aus dem die Armen sind. Gestrichen ist die Besucherin Prudencia, die Garcia Lorca natürlich auch nicht erfand, um den Abend länger zu machen. Immerhin ist aus der Aufführungsgeschichte bekannt, dass es schon dreistündige Fälle gab, nach denen die Zuschauer nicht aus dem Saal getragen werden mussten.

Das Weimarer Publikum klatschte heftig und ausdauernd nach dem spielfilmlangen Abend und man sah den Darstellerinnen an der Rampe die fallende Anspannung und die wachsende Freude darüber wunderbar an. Nimmt man, siehe oben, die Reaktionen auf die Premiere ins Kalkül, dann wundert man sich als berufsbedingt besser informierter Zuschauer, der dann auch noch über alles schreiben will, wieso bestimmten Kritikern immer das Standardvokabular so locker sitzt. Von konservativen Theaterfreunden ist da die Rede, verstörend war das Theaterereignis dennoch, und von herkömmlichen Mitteln. Das Theater selbst ist herkömmlich. Selbst wenn es über den Textrand hinausblickt: mein Text ist mein Teller. Mein Spanisch ist keines, weshalb ich nicht einschätzen kann, ob die von Mannheim gewählte Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger mehr in Richtung Menschenfeind geht oder doch bei Garcia Lorca blieb. Ich hatte mehrfach den Eindruck, dass der Übersetzer den Dichter in sich nicht unterdrücken konnte, den Hinzu-Dichter. Hat der gute alte Enrique Beck wirklich ausgedient, nur weil man ihm seine Lyrik-Übertragungen um die Ohren haute seinerzeit? Als ob einer, der Prosa kann, notwendig auch Lyrik können müsste.

Bernarda Alba, es nicht zu vergessen, ist Mutter von fünf Töchtern, eine vom ersten Mann, vier vom zweiten. Zu dessen Trauerfeier läuten die Glocken, als das Spiel anhebt. Garcia Lorca wollte Einfachheit und Verständlichkeit 1936 und es ist heute vollkommen gleichgültig, ob und, wenn ja, wer inwieweit genau das reale Vorbild für die Figuren oder einzelne Züge dieser Figuren bildete. Ein Blick in Ian Gibsons dicke Biographie offenbart den traurigen Ehrgeiz, Erkenntnisse zu präsentieren, die genau dieses überflüssige Wissen bündeln wollen. Im Idealfall wäre das Material zur Erhellung eines Schlüsseldramas und genau das hat Garcia Lorca weder beabsichtigt noch geschrieben. Wirklich verblüffend ist für den heutigen Theatergänger, wie Verhältnisse, die wir angesichts unendlicher Flüchtlingskarawanenbeben jetzt im Orient und unter strengem Islam verorten würden, vor wenigen Jahrzehnten in Kerneuropa herrschten. In der so genannten Wertegemeinschaft wurden also auch Frauen weggeschlossen und dann liegt sofort die Frage nahe, welche Religion da herrschte und seltsamerweise oder gar nicht seltsamerweise immer noch dort herrscht. Das Wort archaisch ist rasch bei der Hand. Noch mehr aber ist verblüffend.

Wer, wie bei Weimarer Theaterzuschauern des dort üblichen Durchschnittsalters zwanglos anzunehmen ist, noch mit der marxistisch-leninistischen Ersatzmuttermilch einsog, dass herrschende Moral (Sitte) stets die Moral der herrschenden Klasse ist, der sieht genau das vorgeführt. Diese Bernarda Alba hat genau jene patriarchalische Sitte (Moral) so tief verinnerlicht, dass sie gar nicht merkt, wie sie ihr unterliegt. Ihren Hass auf die Welt, die ihr Leben als Frau kaum erträglich schwer macht, überträgt sie auf die eigenen Töchter. Die sie zu unfreiwillig solidarisch Mitleidenden macht, in dem sie jene Knechtschaft, jene Despotie, die ja keine Erfindung der spanischen Frauen auf dem Dorf war und ist, verlängert mit fast perverser Wollust am Schmoren der Töchter. Da ist keine Spur von „Meine Kinder sollen es einmal besser haben!“ Da ist wilder Lynch-Eifer angesichts einer unglücklichen unverheirateten Mutter, da ist höhnisches Sich-Überheben angesichts des sexuellen Lagerkollers, der alle fünf Töchter in unterschiedlichem Maße plagt. Sie juckt es im wahrsten Sinne des Wortes und das ist nicht verwerflich, sondern weiblich, falls man das in Zeiten der mit Eifer entdeckten Geschlechter drei bis siebzehn noch sagen darf, die alle eine eigene Toilette beanspruchen sollen eines nahen Tages.

Federico Garcia Lorca hat nicht einen Mann auf die Bühne gestellt. Lässt man die unsichtbaren Trauergäste weg, die im Inneren des Hauses bei ihm auch alle Frauen sind, wären es lediglich sechzehn Rollen für Schauspielerinnen oder: waren es schon andernorts. Er soll sich gefragt haben, ob das gut ist, und hat es auf alle Fälle so belassen. Klar, dass es im revolutionären deutschen Theaterbetrieb nun auch eine Inszenierung gibt, in der nur Männer auftreten (Theater der Immoralisten Freiburg), man muss kein Hellseher sein, um unfreiwillige Komik a la Männerballett im Karneval nicht ausschließen zu können. Calixto Bieito lässt, las man, vom Blatt spielen. Musiker, wenn sie nicht vom Blatt spielen, haben die Partitur im Kopf und spielen keineswegs munter vor sich hin, was ihnen eben so einkommt. Vom Theater wird in einigen Kritikerköpfen aber offenbar anderes erwartet, weshalb sie stets vorsorglich alle Zuschauer, die das nicht mögen, diffamieren. Unausrottbare Ignoranz übersättigter Geister, denen Publikum eigentlich nur ein Störfaktor ist, Schauspieler sehen das meiner bescheidenen Kenntnis nach meist anders. Die Mannheimer Inszenierung setzt optisch auf den Schwarz-Weiß-Kontrast, ein roter Fächer und ein grünes Kleid sind die Fremdkörper dazwischen. Das macht viel Sinn.

Fünf Töchter sollen nach dem Willen der Mutter Bernarda Alba in vollkommener Abgeschiedenheit von Welt und Umwelt, ohne Kontakt zu Menschen außerhalb der Familie und des weiblichen Personals nicht weniger als acht Jahre trauern. 39 ist Angustias, die älteste (Ragna Pitoll), ihr folgen im Alter Magdalena (30, Sabine Fürst), Amelia (27, Luisa Stachowiak), Martirio (24, Isabelle Barth) und als jüngste Adela (20, Michaela Klamminger). Mangels Alternativen sind alle auf den einen Mann fixiert, jenen ominösen Pepe la Romano, der eigentlich Adela haben will, dennoch aber die Ehe mit Angustias vorzieht, weil bei der eine ansehnliche Mitgift zu erwarten ist. Die Kommunikation der Schwestern steht unter Außendruck wie Innendruck. Die bis in den Hass reichende Bosheit zeigt eben nicht an, wie es gedeutet wurde, dass zwischen innen nur ausbricht, was latent vorhanden. Es sei, man meint, dass alles, was Menschen tun, auch die schlimmsten Verbrechen, latent vorhanden sind und nur den Anlass zum Ausbruch brauchen. Wirklich interessant ist, falls jemand nach Aspekten heutigen Bezogenseins sucht, dass sich die Inselsituation der spanischen Dorffrauen kaum von jeder Inselsituation unterscheidet, wie man sie literaturnotorisch aus russischen Adelsnestern kennt. Auch da fixiert sich weibliche Liebe mangels Alternative vollkommen überdimensioniert auf den ersten von außen kommenden Mann.

Es ist, soll das heißen, im spanischen Dorf weniger spanisches Dorf, als manch Leser und Interpret wahrhaben wollte. Das aber muss man eben nicht dadurch symbolisieren, das man das Spanische weglässt, die vermeintliche Archaik der schwarzen Trauergewänder (Mercé Paloma) war passend. Die aufgeheizte Stimmung, gab es da nicht einmal einen Franzosen, der einen Mann erfand, der nur wegen Hitze einen Mord beging, hat mit der Hitze zu tun, mit der animalischen Geilheit, die eben nicht von Religion und Herkommen unterdrückt werden können, sondern sich kanalisieren. Die Inszenierung hat viele feine Details, das zu zeigen. An Drastik fehlt es bisweilen nicht, wenn die Frauen Körperkontakt bekommen. Da riecht schon mal eine von hinten der anderen zwischen die Beine. Alles in allem aber sei festgehalten: Frauen unter sich, auch nicht oder gerade nicht Frauen im Verwandtschaftsverhältnis ersten Grades, kennen keine feminine Ursolidarität, sie sind nicht weniger aggressiv als Männer, sie sind so bösartig und auch so brutal. In der speziellen Situation sollte nicht einmal der etwas anrüchige Begriff der Stutenbissigkeit pauschal verworfen werfen. Zumal, nur akustisch freilich, ein echter Hengst in der Brunft bei Garcia Lorca mitspielt, man hört seine Hufe gegen Wände knallen. Es hilft zu wissen, dass Garcia Lorca wohl ein revolutionärer, nicht aber ein politischer Dichter sein wollte, der Unterschied ist subtil und hier nicht zu erläutern.
Mehr Gastspiele bitte! Mehr Gastspiele!
www.nationaltheater-mannheim.de


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