Arthur Miller: Hexenjagd; Bad Hersfelder Festspiele

Zwei Namen, die es in Bad Hersfeld gibt, fehlen bei Arthur Miller im Personenverzeichnis: zunächst Ingersolls Tochter, die schreiend und mit Blut auf der weißen Hemdbrust das Bühnengeschehen einleitet, dann der Richter Samuel Sewall. Den gab es wirklich in der Zeit des tatsächlichen Geschehens in Salem, Massachusetts, das der Dramatiker Miller sich zum Vorwurf nahm. Samuel Sewall, geboren am 28. März 1652, war zum Zeitpunkt der Hexenprozesse, an denen er als Richter beteiligt war, vierzig Jahre alt. Er starb erst am 1. Januar 1730, erreichte also ein für damalige Verhältnisse erstaunlich hohes Alter. Er ersetzt in der Spielfassung von Regisseur Dieter Wedel den Richter Hathorne, den sich Miller nicht nach einem einzelnen Vorbild erschuf. Einen Ingersoll, dessen Tochter zu den Mädchen gehört, die im Wald tanzten und seltsame Rituale zelebrierten, gibt es im Stücktext nicht und auch nicht in Bad Hersfeld. Ein namentlich berühmter Thomas Ingersoll, der in Westfield, Massachusetts, geboren wurde, käme nicht in Frage, denn er lebte von 1749 bis 1812, also recht lange nach dem mörderischen Exzess gegen Unschuldige aus dem Jahr 1692.

Was es bei Arthur Miller auch nicht gibt, der „Hexenjagd“ in der Stiftsruine aber sehr wohl ihre Eigenart, sind die Film-Einspiele, von der Bad Hersfelder Chronik vorsorglich als Tabu-Bruch bezeichnet wie auch der Einsatz von Headsets. Eine ganze Rolle gibt es überhaupt nur in diesen Einspielen, es ist die der Bettlerin Sarah Good, gespielt von Jasmin Tabatabai, Fernsehzuschauern wohl vor allem aus ihrer Krimiserien-Rolle in „Letzte Spur Berlin“ vertraut. Als Musikerin mit Band prägte sie auch den Tag der Eröffnungspremiere mit, stand aber dann nicht auf der Bühne. Dort stand, vom Schlussbeifall sichtlich bewegt und getragen, Brigitte Grothum. Sie gestaltete die Rolle der standhaften und respektheischenden Rebecca Nurse bravourös und mit trockenem Humor und schloss damit einen Kreis ihrer langen Schauspielkarriere. Denn ihre erste Fernsehrolle hatte sie als Mary Warren just in der „Hexenjagd“, die jetzt von Janina Stopper verkörpert wurde. Alle Texte über Grothum nennen das Jahr 1957 für diese Rolle, alle Texte über den damaligen Fernsehregisseur Ludwig Cremer (1909 bis 1982) dagegen das Jahr 1960, für die Differenz fand ich keine Erklärung.

Noch heute interessant ist dagegen der Umstand, dass die Fernsehpremiere am 30. Juni 1960 im SDR (Süddeutscher Rundfunk, seit Oktober mit dem SWF (Südwestfunk) fusioniert zum SWR (Südwestrundfunk), vom österreichischen ORF und vom Schweizer Fernsehen zeitgleich übernommen (20.20 Uhr), indiziert war: „Für Jugendliche nicht geeignet“. 56 Jahre später masturbiert in Bad Hersfeld im Filmeinspiel ein Pastor (André Eisermann) und wischt sich, wie ein Schnellkritiker offenbar genüsslich anmerkte, „das Geschmadder an seiner Priester-Kluft ab.“ Wer genügend Phantasie hat, sich in den Geist der fünfziger und frühen sechziger Jahre hineinzuversetzen, kann sich ganze kirchliche Amokläufe dagegen vorstellen, im Mutterland Arthur Millers dagegen würde das betreffende Einspiel wohl erst für Blinde freigegeben ab 77 Jahre. Dort kommen bis heute Apothekenzeitungen mit einer stillenden Mutter auf dem Titel auf den evangelikalen Index. Senator McCarthy hat andere Türschilder, andere Visitenkarten, seine Verfolgungshysterien aber sind lebendig und schaffen es gar bis zur Präsidentschaftskandidatur für die Republikaner. Weiß Gott, wen er beschützt?

André Eisermann als Reverend Parris muss sich nicht nur im Film einen runterholen als Voyeur im Walde, er hat den kompletten Abend über einen außerordentlichen Widerling zu geben und macht das stoisch gut. Man weiß von Darstellerinnen, die Rollen ablehnen, in denen sie so abgrundhässlich sein müssen, dass es ihre Eitelkeit nicht erträgt. Eisermann hält schweißig-klebrig im buchstäblichen und im übertragenen Sinne durch bis zum bitteren Ende. An seine Seite zu stellen ist Bettina Hauenschild als Mrs. Ann Putnam. Im wirklichen Leben würde man einer solchen Person in regelmäßigen Abständen einen Eimer Eiswasser über den Kopf schütten müssen, ihre Dauerhysterie zu kühlen. Wie sie eifert, geifert, blinden Hass sprüht, Verleumdung ausspuckt, bigott die Hände ringt, das ist wohl, den Schnellkritiker zu zitieren, in gewisser Weise vom Blatt gespielt, doch wenn neben dem Blatt der alternativ beschworene Frank Castorf lauert, dann rasch das Hohelied des Bühnenrealismus gesungen, der freilich schon bei den deutschsprachigen Erstaufführungen in den Fünfzigern wenig Freunde hatte. In Deutschland schlug man immer gern den Realismus und meinte die Realität.

Hatte man sich 1945 rasch entschlossen, den eigenen Führer aus Braunau am Inn durch den sehr viel größeren Führer von hinterm Atlantik zu ersetzen, („Wie wir Amerikaner wurden“ heißt ein Buch von Michael Rutschky), dann wollte man natürlich in alter Gewohnheit keine Führerbeleidigungen. Einer wie dieser Arthur Miller aber, dem sogar eine Neigung zum Kommunismus nicht vollkommen unbegründet zur Last gelegt wurde, war im Führerland und dessen europäischen Außenterritorien ein Nestbeschmutzer, der nicht nur die ruhmreiche Wehrmacht, Verzeihung, US-Army, mit „Alle meine Söhne“ in Verruf brachte, sondern gleich den gesamten „American Way of Life“ in „Tod eines Handlungsreisenden“. Nun diese „Hexenjagd“, die derart fatal offensichtlich an die Jagdszenen des Untersuchungsausschusses für unamerikanisches Verhalten unter Senator McCarthy erinnerte, dass selbst Leugner vor dem Herrn Parallelen erkennen konnten. Arthur Miller selbst hat in einem Essay „Hexenjagd in der Geschichte“ aus dem Jahr 1999 Zusammenhänge ausführlich und überzeugend dargestellt. DDR-Nostalgiker könnten Erbauung finden: So war es also anderswo auch.

Aus genau dieser Ecke kommt ja die offenbar schwer ausrottbare Aktualität der „Hexenjagd“. Dieter Wedel hat, wie er es sieht, das Stück neu gelesen und für seine Inszenierung den Titel mit einer Art Untertitel verlängert: „…und morgen sind vielleicht Sie dran!“ Jeder von uns kann sich aussuchen, in welcher Eigenschaft er „dran“ sein könnte: Einer will nicht Hallelujah singen, wenn er einem Veganer begegnet, der andere tritt nicht vom Bürgersteig beiseite, wenn eine Großmeisterin der gendergerechten Sprache auf ihn zu schreitet. Immer dort, wo eine, es kann eine völlig beliebige sein, allein selig machende Wahrheit vertreten wird mit Universalitätsanspruch, politisch, religiös, moralisch, theaterdramaturgisch durchaus auch, droht die Hexenjagd. Politische Wendezeiten, wir wissen es von geballt vielen Beispielen eines einzigen Jahrhunderts, erzeugen Massendenunziationen, Lynchhysterien direkt im  Gefolge, die Hängenden von heute sind die Gehängten von morgen und vice versa. Das ist, was Männer wie Arthur Miller nach langem Leben mindestens melancholisch macht. In „Hexenjagd“ sind notgeil hysterische Mädchen nach Voodoo-Ritual die Irrsinnsauslöserinnen.

Mit ihrem Gekreisch aktivieren sie allerdings nur, was ganz dicht unter der Oberfläche der Akteure just auf diese Aktivierung wartete. Denn Missgunst und Neid, Habgier, bei Miller nachlesbar in den teils überlangen eingeschalteten Erklärungen, aus denen sehr folgerichtig vor allem die Einspiele mit Hans Diehl als Richter Samuel Sewall wurden, ökonomische, materielle Motive, die man unter realismusfeindlichen Brüdern ohnehin gern als gar nicht vorhanden oder niedrig leugnet in ihrer Rolle, finden in der Hexendenunziation ein herrliches Ventil. André M. Hennicke, der seine Freisler-Stimme prägnant einsetzt als Stellvertreter des Gouverneurs Thomas Danforth, sieht natürlich ebenso, was gespielt wird, wie der Richter und wie sehr bald auch Reverend John Hale (Richy Müller). Hier nun spätestens, wenn allgemein geschätzte, geehrte, geachtete Christen der Gemeinde plötzlich mit dem Teufel im Bunde stehen sollen, darf der Theatergänger getrost an die Zeit der Schauprozesse in Stalins Reich denken, als sich enge Mitarbeiter Lenins plötzlich in Nazi-Agenten verwandelten. Jede Art Verteidigung war in diesem System nun ein Angriff aufs Gericht: Wyschinski neben Freisler.

Sprechen solche Aktualitäten gegen den Kunstwert des Dramas und seiner „herkömmlichen“ Inszenierung? Natürlich dürfen Nachwuchskritiker aufschreiben, wie sie einen Klassiker auf die Bühne gebracht hätten, wenn sie als Castorf-Klon geboren worden wären, aber ist tatsächlich nicht diese Phantasie selbst schon eine Hexenjagd en miniature auf alle, die eben nicht von Wilhelmshaven bis an den Bodensee Dekonstruktion a la Volksbühne Berlin sehen wollen? Dieter Wedel als Fernsehmann setzt, was Wunder, auf Fernsehprominenz, nicht auf die großen Theaternamen. Und Fehlgriffe sind seine Besetzungen offenbar nicht. Neben bereits genannte Namen mit mehr oder minder viel aktueller Bühnenerfahrung ist Elisabeth Lanz zu stellen, der als Serien-Darstellerin vielleicht am ehesten Vorurteile begegnen. Sie gab eine nuancierte Elisabeth Proctor, die ihren Beifall verdiente. Christian Nickel als John Proctor profilierte vor allem die Seite der Rolle, die Zerrissenheit ist, Schuld, Gewissensnot, Schwanken. Das macht die Figur sehr lebendig. Janina Stopper ragte aus dem Kreis der Mädchen heraus, ihre Mary Warren fand immer das nötige Maß für jede ihrer Nöte.

Corinna Pohlmann dagegen als Abigail Williams hatte, allein an der Rampe nach der Pause, ihre liebe Mühe, nicht zu überzeichnen. Ihr abgrundböses Intrigantentum, ihre Verlogenheit, ihre Schadenfreude, ihr sadistischer Genuss bei den Hinrichtungen und Foltern, das alles an Herausforderungen für Charakterformung im Spiel, hätte Dämpfung vertragen. Helle Freude bereitete dagegen der neben Brigitte Grothum zweite Angehörige des Jahrgangs 1935, Horst Janson, mit seiner dann doch gar nicht so verblüffenden Agilität. Er scheint der Typ, der auf der Bühne jünger wird und unbegrenzt Kraft aus den Brettern zieht, die angeblich die Welt bedeuten. Rudolf Krause, kein Neuling bei den Festspielen, gab seinen Thomas Putnam zu eindimensional, um ihn interessant zu machen. Das liegt freilich in der Rolle selbst begründet. Motsi Mabuse war jene Tituba, die im Wald den Sud braute fürs Voodoo-Spiel, die nackte Angst ums durch ihre schwarze Hautfarbe stets gefährdete Leben gab ihr die erste Falschaussage ein, der die Mädchen nur zu willig folgten. Helden gibt es heute wie früher nur als Ausnahmefälle. Viel Beifall zur Eröffnungspremiere, verdient für alle Beteiligten.
www.bad-hersfelder-festspiele.de


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