Ayad Akhtar: Geächtet; Landestheater Coburg

Zwei Zufälle begleiten diese Kritik: Ich sah „Geächtet“ fast unmittelbar nach „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Und ich las die ND-Personalie „Nach oben“, ehe ich mich zum Schreiben setzte. Die stellt den neuen britischen Innenminister Sajid Javid vor: „Der 48-jährige Sajid Javid ist Sohn eines pakistanischen Busfahrers. Seine Eltern sind in Indien geboren worden, flohen jedoch als Kinder nach Pakistan. Javids Vater kam in den 1960er Jahren nach Großbritannien.“ Der US-Autor Ayad Akhtar ist Sohn pakistanischer Einwanderer, in New York geboren, der Held seines Bühnen-Erstlings „Geächtet“, Amir Kapoor, ist ebenfalls Sohn pakistanischer Einwanderer. Freilich mit einer Besonderheit: er hat sich als Inder ausgegeben, was nicht vollkommen falsch war, denn bis zur Teilung der britischen Kron-Kolonie in Indien und Pakistan (mit den bis heute daraus erwachsenden Folgen) gehörten die Geburtsorte seiner Eltern zu Indien. Dennoch hat Amir es geschafft, einen musterhaften Aufstieg hinzulegen, er gehört zu einer namhaften Anwaltskanzlei, ist mit einer Frau verheiratet, die Malerin ist, für sich die islamische Kunst entdeckt hat und selbst Christin.

Dass der 1970 geborene Dramatiker (und Romanautor) gerade die jüngere amerikanische Theater-Geschichte sehr intensiv studiert hat und unter anderem bei Edward Albee ziemlich direkt in die Schule ging, merkt man dem Stück „Geächtet“ an, freilich nicht zu seinem Nachteil. Wenn sich am Ende in Coburg die Drehbühne nicht mehr dreht und Amir und Emily nach dem Drama voneinander Abschied nehmen, ist es fast wie bei Albee und dessen George und Martha. Deren Geschichte sahen die Coburger Zuschauer vor nunmehr sechs Jahren in der Regie von Matthias Straub, jetzt hat Andreas Nathusius die Fäden in der Hand und ihm gelingt, was keineswegs selbstverständlich ist: die Demonstration, dass ein reines Debattenstück nicht automatisch dramaturgischen Selbstmord bedeuten muss. Die Entscheidung, das Publikum auf die Bühne zu holen, dergleichen wird gern mit angestrebter Nähe und Unmittelbarkeit in Verbindung gebracht, so auch in Coburg, hat auch einen Sicherheitsaspekt: das Große Haus wird bespielt, obwohl das Stück eigentlich in die Reithalle gehört nach all seinen Merkmalen, es passt aber nur ein Reithallen-Publikum auf die Plätze.

Unter diesen Umständen ist ein leeres Parkett nach menschlichem Ermessen eben ausgeschlossen, vor dem es wohl jeden Darsteller, jede Darstellerin graust. Was Ayad Akhtar schrieb, nennt man neudeutsch „wellmade play“, auch Dramaturgin Carola von Gradulewski setzte in ihrer Stück-Einführung tapfer auf die Sprachkompetenzen ihrer Zuhörer. Nun denn: gegen gut gemachte Stücke haben nur allerhärteste Avantgardisten etwas, die am liebsten verstört bis komplett desorientiert aus Theatern wanken, nicht mehr wissend, ob sie Männlein, Weiblein, oder was sonst neuerdings, sind. Wellmade meint Handwerk, beherrschtes Handwerk. Und in den USA ist vierzig Jahre nach Edward Albee und noch länger nach dessen Vorgängern der übliche Weg noch immer der, dass erst ein Kassenerfolg außerhalb New Yorks zu einer Broadway-Inszenierung führt. Akhtar hat die übliche Tour hinter sich mit „Geächtet“ und heute sagt man gut gemeint unglücklich, es sei das „Stück der Stunde“, es sei leichter, die Theater zu nennen, die es noch nicht im Spielplan hatten oder haben als die, die es spielen. Nun gut, Marktmacht haben die USA nicht nur im Buch- und Filmgeschäft.

Aus keinem anderen Land der Welt könnte ein Erstling so schnell so weltweit in die Erfolgsspur kommen und damit alle Theater in einer Hinsicht gleich machen: sie wollen vom Welterfolg im ganz buchstäblichen Sinn profitieren. Und das ist keineswegs verächtlich gemeint. Theater, die Zuschauer lieber ab- als anwesend sehen möchten, sollten mit allergrößter Vorsicht betrachtet werden. Also: hier in Coburg kommen kaum seltener Romane auf die Bühne als andernorts, man muss schon jedem echten Stück Vorschuss-Beifall geben, ehe man es sah. Für „Geächtet“ ist auch der Schluss-Beifall weder reine Höflichkeit noch gar fränkisch-freundliche Formsache. Das Quasi-Kammerspiel um die beiden Paare Amir und Emily und Isaac und Jory, ergänzt durch den jungen Abe, fesselt auch deshalb, weil es eben so amerikanisch ist. Wie in Hunderten von Filmen in Kino und Fernsehen eilt man mit dem Drink in der Hand durch die Kulissen, sind die meist bräunlichen Alkoholika, Whisky andeutend, in Karaffen gefüllt, damit niemand erkennt, welche Marke man trinkt. Man sagt „Oh, mein Gott“, man sagt „Honey“ und „Baby“ und man sagt „verdammt“.

„O my god“ kommt in jeder 9/11-Dokumentation in achtstelliger Häufigkeit vor, „verdammt“ ist etwas wie ein orphisches Urwort im American English, nur „fucking“ wird in den Original-Texten noch öfter gesagt und zum Glück nicht synchronisiert. Also: die beiden Paare, Frederik Leberle und Alexandra Weis auf der nur scheinbar einen Seite, Nils Liebscher und als Gast Charity Laufer auf der nur scheinbar anderen, sind teils Kollegen, teils nur Bekannte oder so etwas wie Freunde, wenn dieses Wort modern versteht, also jeden Depp, der einmal „Gefällt mir“ geklickt hat, zu den Freunden rechnet. Wie dünn das Eis der vermeintlichen Freundschaft ist, spürt man in Coburg von Beginn an, denn Amir und Jory arbeiten nicht nur in derselben Kanzlei, sie konkurrieren auch gegeneinander um innerbetriebliche Karriereschritte. Nur kurz erwägen beide, gemeinsam eine neue eigene Kanzlei zu gründen. Wichtig ist, dass Ayad Akhtar sein Spiel maximal auf Konfrontation angelegt hat. Ein Konfliktpotential, das gar nicht da ist, kann auch schlecht zum Ausbruch führen. Wer aber will im Theater Menschen zuschauen, die außer „Small Talk“ nichts weiter reden?

Ein Konfliktpotential hier liegt darin, dass Isaac ein Ausstellungskurator, ein Galerist ist, Emily eine Malerin „vor dem Durchbruch“. Beide waren in London, ohne dass die jeweiligen Partner es ahnten, miteinander im Bett, neudeutsch nennt man dies „One-Night-Stand“. Was beide und ob beide das Gleiche damit verbanden, klärt der Dialog nicht auf. Auf jeden Fall ist Emily deutlich bereit, für bare Münze zu nehmen, was Isaac ihr sagt. Und Isaac will, was in Amerika alle wollen, weil es das oberste Wertkriterium des amerikanischen Weltbildes und Selbstbildes ist: Erfolg. Erfolg aber hat man im Kunstgeschäft, wenn man einer wohlhabenden bis reichen Kundschaft suggerieren kann, „kommende“ Kunst zu sehen. „Vor dem Durchbruch“ heißt im Klartext: Wertsteigerung aller Ankäufe signalisierend. Auf dem Kunstmarkt sind die Begleitphrasen, die sich Aussteller und Künstler ausdenken, austauschbar, Hauptsache, sie klingen originell, sie versprechen „nie“ Dagewesenes. Der für Bühne und Kostüme in dieser Inszenierung zuständige Till Kuhnert hat dafür ein einfaches und eben deshalb überragendes Symbol gefunden: ein verhülltes „Goldenes Kalb“.

Der Kunstbetrieb, um den es geht, soll das wohl heißen, ist ein Tanz um das Goldene Kalb. Was dergleichen im Alten Testament der Bibel für Folgen hatte, ist bekannt und von Ayad Akhtar sicher mit gemeint. Er stattet seine Figuren mit geradezu erstaunlichen Detailkenntnissen aus Bibel, Koran und Talmud aus, die darauf bezogenen Dialog-Passagen führen das Publikum absichtlich hart an seine Verständnisgrenzen. Eine Zuschauerin vor mir checkte, als es besonders heftig wurde, rasch ihre Mails in der Handtasche. Fundamentalismus-Probleme sind amerikanischen Christen, vor allem jenen, die gar als Evangelikale bezeichnet werden, nur allzu vertraut, eben deshalb reagieren sie so empfindlich. Sie sind selbst Fundamentalisten, im Einzelfall bereit, einen Abtreibungsarzt notfalls einfach zu erschießen. Ihr Einzelfall ist nicht anders als die Einzelfälle anderer Fundamentalisten, nur sehen sie das nicht so. Amir nennt sich selbst Apostat, also einen, der seiner einstigen Religion den Rücken kehrte. Ob darauf laut Koran die Todesstrafe folgen sollte oder nur nach einer bestimmten Auslegung des Korans, ist eines der zugespitzten Debattenthemen in „Geächtet“.

Von denen nicht alle ganz explizit entwickelt werden. Denn dass der Amir unterstellte Selbsthass als „jüdischer Selbsthass“ auf der anderen Seite seit langem Streitthema ist, sollte hierzulande bekannt sein. Jory, die Anwältin, die mit dem jüdischen Kurator Isaac verheiratet ist, ist Afroamerikanerin, sie beherrscht die Spielregeln perfekt, ist aber, wenn es unter die Oberfläche geht, empfindlich und verletzlich und kann brachial böse sein. Das können alle, auch Amir. Bespucken und Schlagen, bis aufs Blut beleidigen. Man könnte durchaus lax meinen: Ayad Akhtar liefert den spielerischen Beleg, dass Multikulti nicht funktioniert, nicht einmal in dem Land, dass eigentlich nur aus Einwanderern besteht, wenn man von den wenigen, nicht ausgerotteten Indianern absieht (tut mir leid, ich habe als Kind Indianer-Bücher gelesen, nicht Indigene-Völker-Bücher). Von oben regnet während der gesamten Spielzeit (knapp 95 Minuten) Goldflitter, die Akteure lassen verbal nichts aus. Man hört von der Mutter, die den Sohn anspuckt, vom Sohn, der daraufhin seine eben noch angebetete Freundin anspuckt. Und immer Phrasen: „Ist das okay für dich?“, „Was das mit mir macht...“.

Als Emily ihren Amir endlich überredet hat, einen inhaftierten Imam zu besuchen, nimmt das Unglück seinen Lauf, das das Bühnengeschehen von außen bestimmt: die herrschende Gesellschaft lebt aus ungeprüften Vorurteilen, aus so genannten Zuschreibungen. Was in einer Zeitung steht, wird von nicht weniger als vier intelligenten Menschen als zweifelsfrei wahr hingenommen, obwohl es nicht wahr ist. Das Opfer ist Amir, der keine Chance bekommt, sich zur Sache zu äußern, was in dem Rechtssystem, dessen exponierter Vertreter er letztlich ist, eigentlich undenkbar sein sollte. Das Aber ist der historische Hintergrund, vor den Akhtar sein Stücke stellte: Muslime stehen unter Generalverdacht, was auch Abe erfährt, der eigentlich Hussein heißt. Er radikalisiert sich mit seinen Erfahrungen und man könnte wiederum lax sagen, der Autor liefere den überzeugenden Beleg, dass solche Radikalisierung eben nicht vom Himmel fällt, sondern von außen massiv befördert wird und natürlich fruchtbaren Boden braucht, um sich zu entwickeln. Drohende Abschiebungen, das kommt uns peinlich bekannt vor. Valentin Kleinschmidt, der den Abe spielt, trägt gegen Ende schon Kufi.

Wie oberflächlich das Gespräch der beiden Paare ist, erhellt vielleicht an keiner Stelle deutlicher als an der, als Emily Allerweltsworte über die Renaissance daher parliert und Isaac das umgehend ein bemerkenswertes Statement nennt. Wenn man als Europäer hier arrogant sagen würde: so sind sie halt, diese Amis, dann würde Ayad Akhtar das durchaus bestätigen. In einem Gespräch mit Peter Kümmel sagte er: „Die Amerikaner sind nicht wirklich davon überzeugt, dass es den Rest der Welt, eine Welt außerhalb Amerikas, überhaupt gibt.“ Und nennt die „Anbetung der eigenen Grandiosität“ nicht nur ohne mit der Wimper zu zucken „einen Haufen Scheiße“, sondern ist sich außerdem sicher: „Diese Zerrform des deutschen Idealismus hat sich nie wirksamer ausgeprägt als in der amerikanischen Psyche.“ Die amerikanische Gewissheit, alles schaffen zu können, ist für Akhtar „vulgarisierter Fichte“. In „Geächtet“ wird dass zum Glück nicht bis auf diese Ebene geschraubt. Den stärkeren Part haben im Stück die Männer, vielleicht ist das ein patriarchaler Rest, den Frederik Leberle und Niels Liebscher unbenommen stark nutzen, Valentin Kleinschmidt nur etwas weniger.

Der schon erwähnte „One-Night-Stand“ in London, für den sich Emily ihrem Geständnis nach unendlich zuwider ist, hat für mich den Effekt, den Konflikt, der bis zur körperlichen Aktion gut gesteigert ist, unnötig zu privatisieren. Das ist wohl der Preis, den ein amerikanischer Autor zu zahlen hat, wenn er sich nicht selbst den Weg zum Broadway oder nach Hollywood verbauen will: die Love Story wird im Film notfalls ohne Einverständnis der Autoren nachträglich implantiert. Die großen Verfilmungen haben Eugene O'Neill, Tennessee Williams und noch Edward Albee zwar auch in theaterfernen Schichten bekannt gemacht, ihren Texten aber letztlich Gewalt angetan. Dem Stück „Geächtet“ lassen sich zum Glück keine Botschaften ablesen, deren Klarheiten beruhigen: Emily nennt sich zum Ende hin selbst naiv, anstatt sich in einer Opfer-Rolle gegen Gewalttäter Amir zu gefallen. Sie bittet ihn, ihr nicht mehr zu schreiben, sie plärrt ihn nicht an. Schade, dass man ihr Porträt trotz Drehbühne allenfalls ahnt, das sie ihm überlässt, um es nicht wegwerfen zu müssen. Sie hat es einem Velazquez nachempfunden, zu Beginn des Spiels arbeitete sie noch daran.
www.landestheater-coburg.de


Joomla 2.5 Templates von SiteGround