Goethe: Faust I; Theater der Altmark Stendal

Faust betreffend, sind alle Eulen längst in Athen, man muss keine mehr hintragen. Faust bleibt für Überraschungen gut und ist der denkbar dankbarste Anlass für Enttäuschungen: Faust, ach den habe ich schon toll gesehen. Jeder hat Faust immer schon toll gesehen, der überhaupt Faust sieht – man kann also locker hinschreiten zu seinem Parkettplatz. Meiner lag diesmal augenfreundlich weit vorn, vor mir eine Reihe Mädchen im Gretchen-Alter, hinter mir, das gibt es noch, eine Dame mit Textbuch, die genau verfolgte, ob das Bühnengeschehen mit Streichungen oder Umstellungen oder gar freien Erfindungen aufwartete. Wenn das Theater der Altmark Stendal, seit Jahren Stammgast im Arnstädter Theater im Schlossgarten, 2:40 Stunden Spiel mit einer Pause aufführt, ist klar: da wurde heftig gestrichen. Ein Faust vom Blatt würde nach Mitternacht enden und da wollen dann selbst die tapfersten Arnstädter längst in ihrem Bett liegen und über die zwei Seelen in ihrer Brust nachdenken oder ihr vergebliches Studium. Die Überraschung des Gastspielabends bei leichtem Schneefall draußen: das ist eine richtig gute Inszenierung mit sauberen Leistungen aller sechs auf der Bühne Agierenden. Das Publikum dankte, sich steigernd, dafür gar mit rhythmischem Beifall.

Regisseur Alexander Netschajew hat im März seinen 50. Geburtstag gefeiert, ist seit 2012 Intendant in Stendal, wo er mit „Kabale und Liebe“, „Iphigenie auf Tauris“ und „Nathan der Weise“ bereits einschlägige Erfahrungen sammelte an klassischen Texten. Nach Arnstadt kommt er, die Premiere war am 2. September 2018, mit einer noch frischen, aber schon eingespielten Inszenierung, mit einem einfachen, aber funktionalen Bühnenbild (Bühne und Kostüme Mark Späth): schwarze Wände, zwei Türen darin, rechts ein erhöhtes Studierpult für den alten Faust, vorn eine erhöhte Fläche, die bei Bedarf eine Wiese sein kann oder ein Bett. Oben rechts ein Fensterchen, durch das die Phiole mit dem Gift gereicht wird, von dem der Titelheld beinahe genascht hätte. Links auf der Bühne Niklas Fischer am Klavier und diversen weiteren Instrumenten und Tonerzeugungsgerät. Ihn nennt das Programm auch für Komposition, er begleitet das Spiel und einmal singt er sogar. Es gibt keine Zueignung in dieser Fassung, die schwankenden Gestalten, vielerorts längst wörtlich zu nehmen angesichts des Durchschnittsalters des Publikums, dürfen sich unangesprochen nahen und sich zu ihren Plätzen begeben. Das Vorspiel auf dem Theater gibt es, teils zu laut, überambitioniert.

Goethe verweigert seinen Lesern den kurzen Überblick über die Rollen, die seine Tragödie bereit hält, man muss sich Seite um Seite durchs Buch schlagen, um zu schauen, welcher Gabriel auf die Verlustliste gesetzt werden muss. Von den Szenen des aktlosen Ablaufs hat Netschajew etliche gestrichen, es fehlen, um zwei nur zu nennen, Auerbachs Keller und die Hexenküche. Erkennbar ist die Absicht, das Gretchen ins Zentrum zu rücken, damit natürlich den Klassiker aller Klassiker in deutscher Sprache zu vereinfachen, ihm Dimensionen und Tiefen zu nehmen, allerdings zugunsten der Spielbarkeit, zugunsten von Dramaturgie und „Plot“, wie das heute auch fürs Theater gern genannt wird. Man sieht an der langen Spielphase, die fast nur den alten Faust zu Wort kommen lässt, was auch hätte sein können: ein unterbrochener Monolog mit Stichwortgebern: ein Hörspiel auf der Bühne. Es gleich zu sagen: Hannes Liebmann, im österreichischen Mürzzuschlag zehn Jahre nach Elfriede Jelinek geboren, ist ein imposanter alter Faust, der nach dem späteren Rollentausch mit Andreas Schulz, der erst Mephisto, dann der verjüngte Faust ist, sogar ein wenig Reminiszenz an Gustav Gründgens mit spielt. Zwischen altem und verjüngtem Faust bleibt seit Goethe ein Riss.

Bei Goethe selbst bleibt offen, warum der in seiner Studierstube vergrabene Alte, der seinen Famulus Wagner durchaus arrogant von oben herab behandelt, schon angesichts des ersten noch vorgegaukelten Bildes einer holden Weiblichkeit in fast notgeile Geschäftigkeit verfällt, dem Geist, der stets verneint, nicht schnell genug folgen kann. Schon bei Goethe bleibt offen, warum das arbeitsam-sittsame Mädchen, kaum als Fräulein angesprochen, das sie in ihrem Selbstbild nicht ist, in ziemlich eindeutige erotische Unruhe fällt und so den Verführungskünsten zum dankbaren Objekt wird. Der gigantisch-überdimensionale Anspruch des alten Faust, zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wird bei Goethe durch einen arg profanen Parforce-Ritt durch arg profane weltliche Vergnügungen abgegolten, erst in Faust II rollt die Dampfwalze der Tiefendimensionen, da ist eine Gretchen-Story mit tödlichem Ausgang nur noch Tragödien-Stadel dagegen. Doch genau deshalb wird eben Faust II extrem viel seltener gespielt und wo beide Teile auf einen Streich auf die Zuschauer losgelassen werden, ist das der Iron Man der Bühnenkunst für Ausgewählte, die ihr Auserwählt-Sein in ein Narrativ über sich selbst wandeln, mit dem sie Feind und Freund beglücken.

Alexander Netschajew lässt in seiner Inszenierung Szenen ausspielen, die andernorts eingedampft oder gestrichen sind. Und sie geraten unter seiner Spielleitung gleich in Richtung Gourmet-Happen: Faust im Dialog mit dem unsichtbaren Pudel, den Niklas Fischer akustisch andeutet in seiner Musik-Ecke. Nicht unbedingt ein Gourmet-Happen, aber in seiner extensiven Exponiertheit mehr als auffällig der Einsatz des Bruders Valentin (Dimitrij Breuer), den das Theater der Altmark benutzt, um eine echte Fechtszene zu spielen, an deren Ende, wir wissen es, Faust zum Mörder seines potentiellen Schwagers wird. Breuer spielt seinen Valentin laut und aggressiv, als müsse er zeigen, dass eine Ehrenmord-Ideologie früher keineswegs an nichtchristliche Religionen gebunden war. Dieser Bruder sieht seine Schwester als Hure, nur weil sie liebt. Er stirbt opernhaft. Wer übrigens von Goethes eigener Abneigung gegen Hunde weiß, versteht nicht nur den Schock, den Peter im Baumgarten an der Tür von Goethes Gartenhaus in Weimar auslöste mit Pfeife im Mund und Pudel an der Leine, der versteht eben auch diese sehr spezielle Szene in Fausts Studierstube anders und darf sich sogar vorstellen, dass der Meister hier einer ziselierten Selbstironie Zucker gab.

Als ich den Faust I zuletzt in Dessau sah, notierte ich mir: „Dennoch kann ich meinen Zweifel nicht unterdrücken, dass eine Figuren-Spaltung in mindestens den alten und den verjüngten, den jungen Faust, das Dilemma nicht löst, vor dem selbst die größten Faust-Darsteller bisweilen standen: sie waren oft schwach nach der Verjüngung, man nahm ihnen die Jugend nicht ab.“ Ich kann meinem Zweifel nichts hinzufügen. Goethe selbst hat hier einen Bruch gelassen, der ausgehalten werden muss. In Stendal gibt es einen alten und einen jungen Faust und im Tausch gewissermaßen einen jungen und einen alten Mephisto. Das gerät nicht zum Fehlgriff, auch wenn offen bleibt, ob die Verjüngung im Körperlich-Äußerlichen zwingend verbunden sein muss mit einer quasi inneren Verjüngung, die einen eben noch gestandene Mann linkisch und steif macht. Das fällt um so mehr auf, als Regisseur Netschajew sein Gretchen (Caroline Pischel) alles andere als mauerblümchenhaft agieren lässt. Dies fröhliche Kind ist weder auf den Mund gefallen, noch zieht sie sich die Höschen mit zwei Kneifzangen hoch. War Pischel als Lustige Person zu Beginn mir zu laut und zu überdreht, auch Dimitrij Breuers Theaterdichter spielte in diese Richtung, war sie spät als Gretchen sehr stark.

Ihr „Ach neige, Du Schmerzenreiche“ am Mikrofon, das gesamte Finale im Kerker zwischen Wahn und Hoffnung, Liebe und Schuld-Trauma, das muss ein Gretchen erst einmal zeigen: Spannweite, Variabilität zwischen den lauten und den ganz leisen Tönen, kein Gedanke mehr an die teilweise Rotnasigkeit auch ohne rote Nase zu Beginn. Die Idee, Darsteller ans Mikrofon treten zu lassen, bewährt sich, die Idee, den alten Mephisto einen implantierten Text singen zu lassen, eher nicht. Die chorischen Auftritte dreier Geister, Engel, nicht immer darf man ohne Textbuch auf dem Knie sicher sein, was man da gerade sieht, geben Kontur und Farbe, wo Monolog-Text pur vielleicht zu sehr fordern würde. Und sie kommentieren bisweilen mimisch-gestisch, was die Verständlichkeit erhöht. Originell die Lösung für „Vom Eise befreit“ als Damen-Duett, warum nicht einmal so? Als Faust in den Text einfallend sagt: Hier bin ich Mensch, klatscht das Publikum. Das Vorspiel im Himmel ist in Teilen später eingeschoben. Als Mephisto das Outfit bringt für den Gang in die Welt und ins Weltliche, hat er für sich eine Lederjacke aus Schlangenhaut dabei, man darf an Marlon Brando in der Verfilmung von „Orpheus steigt herab“ denken: warum denn nicht, bitte schön?

Michaela Fent beginnt als Theaterdirektor im Vorspiel auf der Bühne, ist Raphael, Erdgeist, Bauer, Marthe und die Alte, Wohl jedem, der stets genau merkte, wann sie was war. Als Marthe jedenfalls hatte sie den Einfall, heftig an die selige Elisabeth Volkmann zu erinnern, die mit ihrer deutlichen Zugriffigkeit auch willigere Mephistos in Verlegenheit bringen würde. Auch hier ist Hannes Liebmann stark und gut, der Rollentausch für ihn nahtlos, Andreas Schulz hat es schwerer. Nach dem Operntod Valentins gibt es im Hintergrund eine irrlichternde Walpurgisnacht, die mir glatt entbehrlich schien, die Kreuzessymbolik davor mit Orgeleinsatz und Valentin am Mikrofon hatte dagegen Verführungswert. Die von Max Kupfer verantworteten Video-Einspiele, hörte ich in der Pause von den Gretchen-Mädchen vor mir, kamen gut an. Viele der buchstäblich in den Volksmund übergegangenen Goethe-Verse waren ihnen vertraut. Sie kicherten, als das Gretchen nach Blick ins Schmuckkästlein, das nur verbal zweimal vorkam, ohne „Nach Golde drängt / Am Golde hängt“ nach sich zu ziehen, exzessiv kreischte. Sie schauten sich fragend an, als Faust an Gretchens Kissen schnüffelte. Sein heimliches Eindringen in ihr Zimmer wäre heute Stalking-Fall ohne Happy End.
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