Williams: Süßer Vogel Jugend; Meininger Staatstheater

Ein Freund von mir, der fern auf einer Insel weilt, hätte nach Erlebnis dieses Theaterabends leicht gönnerisch gesprochen: Das würde dir sicher gefallen. Nun hat er ihn, siehe Insel, nicht gesehen, ich dagegen schon. Und ich will gar nicht lange leugnen: es hat mir gefallen, auf Einschränkungen komme ich zu sprechen. Mein Zeitmesser zeigte 22.17 Uhr, als der Premierenbeifall in sein Verebben einschwenkte, der junge Mann, der neben mir saß, war nach der Pause nicht wieder erschienen. Auf dem Weg zum Parkplatz hörte ich Leute über die Länge des Abends reden, vom Gesehenen sprachen sie nicht. Zwei Dinge wären ihnen sicher aufgefallen, wenn sie das Stück im vollen Wortlaut gelesen hätten: am Ende setzt Regisseur Lars Wernecke auf Überdeutlichkeit, nicht lange vorher hat er die größte Grausamkeit des Dreiakters „Süßer Vogel Jugend“ neben die Szene gezogen und so stark abgemildert. Leider verrät das Programmheft nicht, welche Textfassung in welcher Übersetzung bevorzugt wurde, es soll acht verschiedenen Fassungen gegeben haben. Ich beziehe mich auf alle Fälle auf die Übertragung von Hans Sahl, der die „Revised Version“ von 1962 zugrunde liegt. In dieser, und das meinte ich eben, zieht Chance Wayne am Ende nach einem ans Publikum gerichteten Schluss-Wort den Zwischenvorhang zu. Was dann geschieht, weiß man.

Lars Wernecke wollte vermutlich sicher gehen, dass alle, die nichts merkten, dennoch nicht in diffusem Irrglauben nach Hause gehen. Deshalb stand in seiner Fassung Chance Wayne aufrecht auf dem Bett, mit dem der Abend begann, vor ihm Männer mit dem Rücken zum Publikum, von denen einer, Tom Junior im Stück, das Messer zückte: Jetzt wird kastriert. Die andere Szene, um das rasch zu Ende zu bringen, betrifft den Störer, bei Tennessee Williams in der Sahl-Fassung wird er der Zwischenrufer genannt. Was mir weniger vorverurteilend klingt und das ist mir wichtig bei diesem Mann, der auf seine Weise ein Held ist und eben kein Störer oder nur innerhalb eines definierten Weltbildes als Störer bezeichnet werden kann. Im Weltbild des Boss Finley, den er tatsächlich stört. Dieser Zwischenrufer wird, die Spielanweisungen des Autors besagen es sehr deutlich und doppelt, am Boden liegend mehrfach ins Gesicht getreten. Dass er früher schon von Leuten des Predigers Finley schwer verprügelt wurde, sagt er selbst. Das Porträt des Boss Finley und diese schwerste Misshandlung eines politischen Gegners sorgen dafür, dass in das Stück, das am 10. März 1959 in New York seine Premiere hatte, nachdem es drei Jahre zuvor schon einmal in einer vermutlich kürzeren Frühfassung in Florida gespielt wurde, keine Aktualitäten implantiert werden müssen.

Zudem ist zu vermuten, dass nach der Einladung der Leipziger Inszenierung von „Süßer Vogel Jugend“ zum diesjährigen Berliner Theatertreffen weitere Bühnen auf das zwischenzeitlich nahezu vergessene Werk aufmerksam werden und merken, man kann hier aktuell sein, ohne Aktualität zum Kunstprodukt machen zu müssen. Denn, das halte ich für eine sehr gute Idee der Meininger, man kann mit beschämend einfachen Mitteln zu Stuhle kommen: Boss Finley, er wird gespielt von Michael Jeske, gibt in Mimik und Maske den berüchtigten rechten Vordenker Stephen Kevin Bannon, den Medienmanipulator von Donald Trump. Die Rolle vereinigt für heutige Zuschauer (und Leser) die ganze lange Tradition des amerikanischen evangelikalen Fundamentalismus, der im Lauf der Jahrzehnte unter ganz unterschiedlichen Flaggen segelte, mal waren es einzelne Fernseh-Prediger, mal war es eine „Moral Majority“ und treppenwitzartig oft stolperten die Frontmänner über eigene „moralische“ Verfehlungen in den Vereinigten Staaten. Die Argumentation des Boss Finley in seiner Fernsehansprache, einer zentralen Szene im Stück und der Inszenierung, führt wie aus dem Klippschullehrbuch vor, wie Volksverhetzung läuft: Ich distanziere mich von Verbrechen, die geschahen, erkläre aber gleichzeitig, warum ich die Täter in ihrem Tun sehr gut verstehen kann.

Ob das Geschehen um Boss Finley zur Nebenhandlung neben einer Haupthandlung bestimmt wird, wie es geschah in der Rezeption das Dramas, oder ob es, weil es den USA-Imperialismus von seiner hässlichsten Seite zeigt, in ideologisch vorgeprägter Lesart zum eigentlichen Inhalt des Werks erklärt wurde, wie ebenfalls passiert, und man ahnt, in welchem kleinen Land das war, ist letztlich weniger wichtig, als es scheint. Denn diese Handlung kommt vor, ist mit der Handlung um Chance Wayne und Heavenly Finley sehr eng und keineswegs nur oberflächlich verflochten. Zunächst aber beginnt alles im Bett. Der Zuschauer sieht einen jungen Mann auf einem sehr mondänen Bett knien, neben ihm liegt offenbar noch jemand, der zu Beginn des Theaterabends nichts zu tun hat, als sich unter der Bettdecke zu bewegen und furchterregende Geräusche abzusondern. Der Jemand ist eine sie. Sie liegt unter einem ovalen Ausschnitt aus dem berühmten Botticelli-Gemälde „Die Geburt der Venus“ (1485/86 entstanden). Sie ist die Prinzessin Kosmonopolis, die unter diesem Pseudonym reisende alternde Film-Diva Alexandra del Lago. Ulrike Walther nimmt sich der Herausforderung dieser extremen Traumrolle an. Der junge Mann an ihrer Seite, den sie zunächst gar nicht zu kennen vorgibt, ist besagter Chance Wayne (Yannick Fischer), etwas wie ein Gigolo, wie sich rasch erweist.

Mehr als sechzig Jahre nach der Premiere darf doch ein kurzer Blick auf die Abläufe im Stück geworfen werden. Genannte Diva hat genannten Gigolo irgendwo unterwegs aufgesammelt, sie befindet sich noch zu Beginn des Spiels auf der Flucht nach einem vermeintlichen Desaster ihres Comeback-Films. Er ist ebenfalls auf der Flucht, vor allem vor sich selbst, wittert aber in dieser reifen Ex-Berühmtheit eine Chance, vielleicht doch noch ins Filmgeschäft zu kommen. Das Stück beginnt in einer Küstenstadt namens St. Cloud, es ist keineswegs zufällig die Stadt, in der Chance Wayne, mittlerweile 29 Jahre alt, geboren wurde, in der seine Mutter starb, ohne ihn, den Sohn, noch einmal gesehen zu haben. Vor allem aber ist es die Stadt, in der Heavenly Finley lebt, die Tochter von Boss Finley und Schwester von Tom Finley Junior. Ihr gilt trotz aller Eskapaden, die er sich leistete, seine große Liebe, zumindest versteht er es, sich das selbst so felsenfest einzureden, dass er es für die reine Wahrheit nimmt. Ein Interpret glaubte vor Jahren in Chance Wayne einen sprechenden Namen zu erkennen: Abwandlung von „chance waning“, verschwindende oder schwindende Chance. Man darf so etwas. Der Erkenntnisgewinn dabei hält sich in engen Grenzen. Das Stück beginnt auch mit einem Besuch von George Scudder (Björn Boresch) im Hotelzimmer.

Dieser Scudder ist ein seltsamer Chefarzt in Schaftstiefeln (Bühne und Kostüme Cornelia Brey), der Chance einreden will, er müsse unbedingt und umgehend die Stadt verlassen, sonst sei er in großer Gefahr. Er windet sich wie ein unter extremem Druck Stehender, um nicht sagen zu müssen, worum es eigentlich geht. Ähnlich verhält sich auch Tante Nonnie ( Christine Zart), die Schwester von Boss Finleys verstorbener Gattin, die Chance noch immer sehr mag und ihm helfen will. Das Geheimnis wird natürlich trotzdem gelüftet: Chance Wayne hat Heavenly Finley mit einer Krankheit angesteckt, deren Name im Stück peinlichst vermieden wird. Im Programmheft gibt es ganz hinten eine Erläuterung zur Syphilis, woraus man folgern mag, dass es sich um selbige handle. Wie auch immer: George Scudder, der seltsame Chefarzt, dessen Arztsein so gering ausgeprägt ist, dass ihn die offenbar schwer leidende Person unter der Hotel-Bettdecke allenfalls zu einem Seitenblick, nicht aber zu einer Frage oder gar zu einem ärztlichen Hilfeangebot verleitet, hat an Heavenly den operativen Eingriff vorgenommen, der Sterilisation bedeutet. Er will Heavenly heiraten, obwohl er weiß, was er bekommt. Weder Stück noch Spiel lassen sehr deutlich erkennen, was ihn dahin bewegt, es kann nur totale Abhängigkeit von Boss Finley sein, der das Krankenhaus bauen ließ.

Mit kleinen, genau dosierten Gesten zeigt die Meininger Inszenierung, wie diese Abhängigkeiten funktionieren: selbst wenn Tom Junior nur mit der Hand winkt, nimmt der Hotel-Manager Hatcher (Christopher Heisler) eine servile Haltung ein und zieht sich zurück wie ein abgehender Diener. Der seltsame Chefarzt vollzieht ähnliche Mimikry, wenn Boss Finley ihn anfasst. Dafür demonstriert Tochter Heavenly, von Katharina Walther als verhärmtes Wesen mit vorgezogenen Schultern in viel zu großer Jacke gespielt - sie symbolisiert wohl die Anforderungen, denen sie nicht gewachsen ist und vor allem auch gar nicht gewachsen sein will -, wie man körperliche Abneigung in kleinen Meidbewegungen sichtbar macht. Dass sie die Himmlische war für Chance Wayne, ist nicht mehr nachvollziehbar. Dafür aber, welche Anziehung er auf andere Frauen noch nach Jahren ausüben kann. Miss Lucy, mit platinblonder Perücke von Anja Lenßen gespielt, lässt es sehen und hören. Sie ist die Geliebte von Boss Finley, die er verleugnet und benutzt, je nach Situation. Das tut er so ohne alle Rücksicht, Feingefühl ist bei ihm nicht einmal als Spurenelement vorhanden, dass die sogar physisch verletzte Lucy im Spiel mit Eifer den Störer/Zwischenrufer unterstützt, ihm dazu verhilft, überhaupt zu der Wahlkampfveranstaltung vor laufenden Fernsehkameras zugelassen zu werden.

Die großen Auftritte hat natürlich Ulrike Walther. Alles, von der melodramatischen Schmonzetten-Gestik bis zum ganz leisen Ton, von der sarkastisch bis zynischen Sicht auf sich selbst bis zur eiskalten Diva, manchmal ein wenig an eine rothaarige Anna Magnani erinnernd, die einst in „Die tätowierte Rose“ spielte und mit Tennessee Williams eng befreundet war, führt sie vor. Manchmal da und dort ein wenig mehr, als gut gewesen wäre, aber die ganze Rolle der Alexandra del Lago hat von ihrer Anlage her einen Stich in die Karikatur. Da eine Balance zu finden, ist höchste Kunst. Die auch noch ein nachvollziehbares Zusammenspiel mit Gigolo Chance Wayne zu kreieren hat. Denn der macht, wie ihn Yannick Fischer spielt, ja eher nicht den Eindruck des großen Verführers reicher älterer Frauen, es ist mehr ein gehetzter, ein geschlagener, ein hart an der Resignation agierender junger Mann mit fahrigen Gesten, mit Griff zu Aufputschmittel und Alkohol. Wie er vom letzten Zusammentreffen mit Heavenly erzählt, sie ihn im Boot umkreisend, er auf einer Sandbank, da wird greifbar, wie sehr sein Leben ununterbrochene Verdrängung ist, wie sehr er sich selbst belügt. Auch im Gespräch mit Tante Nonnie offenbart er nur, was man in Amerika so gern den Versager nennt. Er mag ein liebenswerter Versager gewesen sein, wie ihn Nonnie wahrnimmt, einer ohne Chance.

Vor allem aber war und ist er einer, der sich unglaublich blind überschätzt, einer, der meint, im weißen Cadillac gewinne man den Ruf, den man auf den eigenen Beinen nicht gewonnen hat. Er ähnelt in dieser Hinsicht, das ist eine der erschreckenden Einsichten, die Tennessee Williams vermittelt, dem Boss Finley, der ihm mit Kastration drohte, falls er wieder in St. Cloud auftauche. Der mit Transparenten „Race Mixing is Communism“ vor die Kameras geht und meint, eine ausgiebige Shopping-Tour versöhne seine unversöhnliche Tochter. Boss Finley beleidigt auch den eigenen Sohn (Georg Grohmann) so brutal, dass der seine Aggression, weil eben nicht gegen den Vater, nur gegen Dritte, gegen einen Dritten, gegen Chance Wayne richten kann, deshalb das Messer in seiner Hand am Ende. Den Störer gibt Renatus Scheibe, sein knapper Text enthält jene Sätze über das Schweigen Gottes, die angeblich Tennessee Williams tiefste eigene Überzeugung ausdrücken. Ich wäre mir da nicht so sicher. Vivian Frey agiert als Stuff vor allem hinter der Bar, die Tritte ins Gesicht von Scheibe bleiben ihm erspart. Heiko Börner als Scotty und Wolfgang Pfister als Bud müssen nicht viel mehr als martialische Body-Guard-Typen sein. „Ich will nur, dass ihr mich in euch selbst erkennt und den Feind, die Zeit, in uns allen.“ Das sind die letzten Worte von Chance und wir meinen: Wäre die Zeit unser Feind, hätten wir schon verloren, ehe wir in die Zeit eintreten.
www.meininger-staatstheater.de


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