Williams: Auf der Flucht; Meininger Staatstheater

Wo Tennessee Williams in seinen Memoiren auf „Fugitive Kind“ zu sprechen kommt, das ist der amerikanische Titel des frühen Stückes, das in Meiningen „Auf der Flucht“ heißt, geht es eher und mehr um eine Sally, die er fickt, ohne seinen Mantel auszuziehen, als um das Werk selbst. Das mit dem Ficken steht genau so da, tut mir also nicht leid. Wenn ich wegen eines mir bis dato völlig unbekannten Williams-Stückes die A 71, Abfahrt Meiningen Nord, verlasse, dann mit absoluter Sicherheit nicht, um vor Ort die Botschaft zu empfangen, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden und alles zusammen vor dem Hintergrund von (wählbar). Alle Vordergründe sind solche vor Hintergründen, sonst wären sie nämlich keine und wenn auf einer Bühne eine ordentliche Geschichte ordentlich erzählt wird, dann neige ich zu Zufriedenheiten, zugegebenermaßen zu abgestuften Zufriedenheiten. Dem (informativen) Programmheft entnehme ich die eher geringeren Zufriedenheiten, weil ich mir ungern Bären aufbinden lasse. Wenn also dort der Österreicher Gerhard Roth zu Wort kommt, der im Juni bei hoffentlich guter Gesundheit seinen 80. Geburtstag feiern wird, mit der Behauptung, er habe im Zug nach Wien die (Plural) Stücke von Tennessee Williams gelesen, dann muss er lügen oder ein äußerst miserables Gedächtnis haben.

Niemand liest, wenn er ein halbwegs normal lesender Leser ist, auch nur eines der keineswegs kurzen Werke des Amerikaners auf der Strecke von Graz nach Wien, es sei denn, er fährt über Kalkutta und Rostow am Don. Niemand sagt auch in Deutschland „Ich schätze, dass ich jetzt in deiner Schuld stehe“. Das sagt man auf amerikanisch aber in einer siebenstelligen Zahl von Film- und Fernsehprodukten, deren deutsche Textfassungen in der Regel nicht von den jeweils größten Übersetzern der Neuzeit, sondern von Leuten verfasst werden, die ein Jahr in England waren oder Australien oder eben in den USA und dann denken, das reiche für die Translation. Reicht aber nicht. Die typisch amerikanische Floskel muss mit einer typisch deutschen Floskel wiedergegeben werden oder gar nicht. Warum nicht einfach: „Stehe ich jetzt in deiner Schuld?“ Zum Beispiel. Meine Notizen während der gut ausgeleuchteten Premiere in den Kammerspielen sollten keine Sammlung solcher Beispiele werden. Deshalb nur noch: „Was es mit Papa macht ...“. Das ist eine modische und dumme Wendung, denn „es“, das machende „es“, ist eine sprachgeborene Fiktion, man könnte auch Mumpitz sagen mit einer Lieblingsfloskel von Marcel Reich-Ranicki, der sich leider nie eine Theaterkritik abrang. Ich sah allerdings auch gestisch-mimische Floskeln aus dem fernen Amerika.

Da man die unter jüngeren und jungen Darstellern und Darstellerinnen inzwischen überall sieht: beide Arme synchron und abgewinkelt nach hinten reißen bei gleichzeitigem Vorbeugen des Oberkörpers und Hochreißen der Augenbrauen, ist man vielleicht gut beraten, es einfach hinzunehmen: schließlich klappten den Diven der frühen Tonfilmzeit auch allen durch die Bank die Augenlider nach unten, sobald sich männliche Star-Lippen im 45-Grad-Winkel seitlich den ihren näherten. Es muss eine ganze Jugend gegeben haben vor 100 Jahren, die glaubte, so küsst man. Nun gut. Zuerst sind da acht Feldbetten, schäbig, metallig, mit den üblichen Sprungfedern unter den schäbigen Matratzen. Man sieht einen gebrauchten Teddy, einen Aluminiumeimer, eine Gitarre auf einem der Betten. Später wird man (oder zuerst) einer Wand mit Türen gewahr, einer Leiter, die sicher eingehängt ist an einer Querstange (so erklimmt man im Rostocker Nobel-Hotel „Hohe Düne“ die oberste Regalreihe mit eigener Zimmer-Bibliothek), die man braucht, um an die oberen Fächer zu gelangen. Die werden kaum genutzt, nur die Darsteller (Plural, eine weibliche inkludiert) klimmen hin und wieder auf und nieder. Dann kommt Gesang, guter Gesang, zu guter Gitarre.

Der Text steht im Programmheft, was nur denen hilft, die so gut Englisch können, ihn auch zu verstehen. Da auch im Fernsehen mittlerweile gefühlt (vier Euro ins Phrasenschwein) 67 Prozent aller Filme von sinntragenden Songs in der Muttersprache von George W. Bush und George Floyd begleitet werden, müssen wir das als üblich abhaken. Ist eben so. Muss man deshalb nicht auch noch toll finden. Man stelle sich vor, in den Vereinigten Staaten würden zwei Drittel aller Reißer auf Leinwand und Bildschirm von französischen Chansons begleitet oder tiefsinnigen Schubertliedern. 1968 hätten wir das Kulturimperialismus genannt. Das aber war in einem anderen Land, wie Hemingway sagen würde. Also dann treten erste männliche Darsteller in Erscheinung, den einen, Olsen, erkennt man eher, weil Vivian Frey schon länger in Meiningen spielt, den anderen muss man nachschlagen, Yannick Fischer ist kürzer da und nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen ehemaligen Fußballspieler. Er hat vor allem zu husten als Carl, einen Blutsturz zu erleiden und zu glauben, dass er tot an Laborratten verfüttert wird von den Ärzten, die dergleichen tun, wie sie eben heute im Auftrag von Bill Gates Corona-Chips intramuskulär verabreichen, damit der Mogul immer weiß, wann welcher Sachse sich auf dem Klo den Arsch mit sechzehn Blatt Klopapier abwischt.

Wir wollen nicht annehmen, dass der junge Tennessee Williams schon mit 26 Jahren glaubte, dass die dümmsten Verschwörungstheorien in den untersten Unterschichten entstehen, auch wenn einmal in der Spielfassung des Abends von schwirrenden Viren die Rede ist, gegen die wir alle noch nicht geimpft sind. Dergleichen dumme Plattheiten oder platte Dummheiten würde ich ritzeratze aus dem Text streichen, ersatzlos, es ist, mit Verlaub: doof. Es geistert eine Gestalt durch den Abend, der ohne Pause eine und eine dreiviertel Stunde dauert, die mit ihrer Stimme allein heimelige Gefühle erzeugt. Das ist Michael Jeske als Abel White, der ein Pyromane ist, von brennenden Frauenhaaren träumt und redet und wirklich beängstigend einher kommt, wenn er mit Streichholzschachteln klappert. Jeske hat nicht nur eine Stimme, er hat ein Organ, altvertraut, den eingeübten Meininger Theatergängern auch Zeichen von Kontinuität im Wandel (sieben Euro ins Phrasenschwein). Als Zentralfiguren haben wir zu beiden Seiten der Spielfläche offenbar die Stieftochter Glory (Carmen Kirschner) des Mister Gwendlebaum (Gunnar Blume), den leiblichen Sohn Leo Gwendlebaum (Jan Wenglarz) und den Verbrecher Terry Meighan (Stefan Willi Wang) anzusehen. Unter neun Rollen nur eine für eine Frau, das musste sogar der Intendant erwähnen: es werde andere Stücke geben.

Da in der als Einführung deutbaren Runde des Pressegesprächs vorab die Homosexualität des Autors Tennessee Williams bereits ausdrücklich erwähnt wurde, muss hier nur dezent erinnert werden, dass ein deutlicheres Interesse an Männern als an Frauen kaum als Ausgeburt von Geschlechterdiktaten irgendwelcher Rollendiktatoren auftritt. Und weil es mir eben einfällt: Ich finde es lobens- und hervorhebenswert, dass die Spielfassung nicht versucht, Zahlen aus dem Jahr 1937, in dem das Stück spielt und entstand, einer zweifelhaften Aktualisierung zu unterziehen. Denn so erfahren wir, dass es Zeiten gab, da man für 15 Cent übernachten konnte (wenn auch in einer üblen Absteige). Dass es Zeiten gab, da man 100 Dollar für viel Geld hielt und sich selbst sogar einreden konnte, ein Mord für hundert Dollar sei etwas wie eine Privatrevolution, ein revolutionäres Ein-Mann-Unternehmen. Hier ist das Stück wirklich aktuell: die hochtrabenden Phrasen des Studenten Leo Gwendlebaum und die verkackten Selbstrechtfertigungen des Räubers und Totschlägers, wenn nicht Mörders, Terry Meighan. Das gibt es bis heute: gewöhnlichen Straftaten werden politische Mützlein über die Ohren gezogen und ein paar Deppen glauben alles.

Ursprünglich hat Tennessee Williams seinem Stück 25 Rollen verordnet, er wollte, wie herrlich war das denn, dem Ensemble „The Mummers“, das die Uraufführung spielte anno 1937, volle Beschäftigung sichern. Heute müssen nicht selten 7 Darsteller 39 Rollen spielen, was individuelle Herausforderungen mit sich bringt, dennoch auch bedauerlich gefunden werden darf. Frage an die Haupt- und Abendspielleitung: kann eine Rolle so angelegt werden, dass eine sehr junge Frau eben noch ihren Grundabstand zu jedem Mann (Missbrauchserfahrung) erklärend vorträgt und dann den Stunden vorher noch völlig unbekannten jungen Verbrecher anspringt und ihm die Beine um die Hüften/Lenden wickelt, wie man es aus Filmen kennt, in denen Leidenschaft simuliert werden soll, also weibliche Leidenschaft, die mit dem Ritual des Hemdzerreißens herkömmlich zu werden drohte? Nein, Carmen Kirschner, die auch immer wieder einmal zu laut war, darf man keinen Vorwurf machen, das muss Geschäft der Regie bleiben: Glaubhaftigkeit der Rolle – eine fossile Theatertatsache, die sich einfach nicht außer Kraft setzen lässt. Wirklich groß in der Substanz ist für mich die Rückkehr des verlorenen Sohnes Leo: resigniert, aber letztlich jetzt tauglich fürs Leben.

Der ewig seine Handschuhe suchende Vater Gwendlebaum (Gunnar Blume) hat mit fast allem, was er sagt, letztlich recht, man muss blind sein, das nicht zu hören (ist als Gag gedacht). Das passt natürlich nicht ins übliche Sympathie-Verteilungsschema, wo den jungen Liebenden und den jungen Systemopfern die Parkettherzen zuzufliegen haben und den hartleibigen Vätern allenfalls eine Dosis Verachtung mit etwas Streu-Hass. Sätze wie „Heute Nacht schläft Gott“ landen im Sammelalbum „Tiefsinn für Anfänger und junge Fortgeschrittene“ und werden entsprechend folgerichtig zitiert. Für alle, die nicht an diesen oder jenen oder gar den Gott glauben, sind solche Sätze ohnehin immer Leerformeln, die Lehrformel spielen. Für den Regisseur und Schauspieldirektor Frank Behnke ist „Auf der Flucht“ so etwas wie der Abschluss einer Trilogie, verriet er vorab, denn er hat in Münster schon zwei frühe Stücke von Tennessee Williams auf die Bühne gebracht. Als vor zwei Jahren die Meininger „Süßer Vogel Jugend“ spielten, war noch Lars Wernecke der Regisseur und Yannick Fischer spielte den Chance Wayne, Vivian Frey den Stuff. Jetzt hoffe ich, dass das Entdecken von selten oder lange nicht gespielten Stücken „moderner“ Klassiker um sich greift an der Werra, mir fielen da diverse Franzosen vor allem ein. Ist absurdes Theater heute nicht gnadenlos aktuell?

Mein Lieblingssatz des Kammerspiel-Abends lautet, hoffentlich halbwegs wörtlich notiert: „Wenn es schneit und ein Mann hat seine Schaufel, dann glaubt er sogar an Gott.“ Auch ein Satz mit Gott, aber ein ganz anderer. Eher einer, der auch von Ödön von Horvath sein könnte, der eine spezielle Kultur von Götter-Sätzen entwickelt hat. Doch auch das war in einem anderen Land. Nicht dazu zu gehören, wie es am Ende in der Meininger Spielfassung heißt, ist nicht Freiheit von allem, was dazu gehört. Wer nicht mehr hinhört, tut den Geräuschen wie ihren Verursachern nicht weh. Namentlich zu nennen bleibt unbedingt natürlich der Mann mit und an der Gitarre: Felix Kruttke. Seine Rolle mutiert bei Tennessee Williams später zu der, die 1960 im Film „Der Mann in der Schlangenhaut“ von Marlon Brando gespielt wurde: Valentine Xavier. Das Filmskript nach dem Stück „Orpheus steigt herab“ trug den amerikanischen Titel „The Fugitive Kind“, womit sich Williams schlicht nur bei sich selbst bedient hat. Die Fußnote zum Schluss: Das Programm nennt „Auf der Flucht“ in herkömmlicher Terminologie „das zweite abendfüllende Stück“ des Jung-Dramatikers. 105 Minuten sind gegen einen Einakter abendfüllend. Die Schaubühne in Westberlin marterte Besucher einst mit Fünf- bis Acht-Stunden-Abenden. In Meiningen hätten die nicht einmal ihre Mäntel ausgezogen.
www.meininger-staatstheater.de

Nachsatz: Der Österreicher Gerhard Roth ist am 8. Februar leider verstorben, kann seinen 80. Geburtstag also nicht mehr erleben.


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