Schiller: Don Carlos, Landestheater Memmingen

Eine Theaterinszenierung auf DVD hat einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, sie ist selbst dann noch eine runde Sache, wenn man geneigt ist, ihr den Beifall zu verweigern. Sie lässt sich, statt des guten Buches von 700 Seiten Umfang, das man schon immer einmal lesen wollte im Urlaub, bequem transportieren. Die mit der Stopptaste zu haltenden Darsteller spielen nicht einfach weiter, während man in seiner Ferienwohnung den Wein aus dem Kühlschrank holen muss.

 „Don Carlos“ kenne ich aus dem Staatsschauspiel Dresden, aus dem Nationaltheater Weimar, aus dem Landestheater Coburg. Zweifach sah ich ihn in Meiningen. Unvergessen die Kleenex-Tücher in Südthüringen, kaum weniger der Spielabbruch in Weimar, dem mein seltsames Gefühl vorherging, dass die armen Darstellerinnen in ihren engen Kleidern auf der steilen Traverse mehr darauf zu achten hatten, nicht zu stürzen, als ihren Text zu sprechen. Und ich bilde mir heute noch ein, dass die Schlitze in den Kleidern bei der vollständigen Aufführung, die ich später sah, deutlich länger waren.

 In Memmingen hat Regisseur Frank Behnke das Personal auf neun Rollen zusammengestrichen, das Ende vorangestellt und Schillers berühmte Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ auszugsweise als chorisches Vorspiel genommen. Das geht schließlich auf mit all den Holperern, die Strichfassungen unvermeidlich mit sich bringen. Sie setzen unvermeidlich auf Textkenntnis, was riskant bleibt, wenn die Königin von der Infantin spricht an einer einzigen Stelle und man eben nicht erfährt, dass dies gewissermaßen die Stiefschwester des Infanten Don Carlos ist. Immer - und daran ist Schiller schuld und niemals die Regie – überrumpelt einen die unvorbereitete Freude, wenn der Marquis Posa auftaucht, der in Memmingen konsequent Rodrigo heißt und nicht Roderich. Was haben die beiden nur aneinander? Wieso nimmt dieser weitgereiste Marquis, der durchaus auch mit der Königin mehr als nur zu flirten bereit ist, an, dass ausgerechnet dieser glanzäugige Brausekopf, der mit 23 noch nichts für seinen Ruhm getan hat, der richtige Mann für die Befreiung Flanderns sein muss?

 Boris Popovic als Don Carlos entspricht am ehesten dem Mantel-und-Degen-Klischee des jugendlichen Liebhabers. Für den die schönen Tage von Aranjuez alles andere als schön waren. Tobias Bode als Marquis Posa braucht eine Weile, eher er eine dann wegen des langen Anlaufs fast überraschende Überzeugungskraft gewinnt. Im Dialog mit der französischen Elisabeth (Renate Knollmann), sein Selbstopfer begründend, hat er seine stärksten Augenblicke. Dagegen will mir sein Auftritt mit König Philipp (André Stuchlik) als zunächst allzu forciert erscheinen. Soviel Mut, Lautstärke und Dreistigkeit dem allmächtigen König gegenüber, in dessen Reichen die Sonne nie untergeht, hat anfangs nicht einmal ein Marquis Posa. Er überragt den König an schierer Körperlänge, was etwas irritiert und im Zusammenspiel mit Don Carlos weniger auffällt. Aber solch einen Darsteller kann die Regie natürlich nicht nur bei Basketball-Dramen besetzen, von denen es wahrscheinlich gar nicht viele gibt.

 Don Carlos liebt seine Stiefmutter, das ist klar. Don Carlos ist sofort bereit, sich zurückzuziehen, wenn seine Stiefmutter auch nur ansatzweise bekennen mag, ihren Gatten, den Vater der Infantin, zu lieben. Elisabeth ist selbst noch sehr jung, sie vertraut ihrer Vertrauten, der Prinzessin Eboli (Anne Fonferek) und bringt ihr tiefes Verständnis entgegen, wenn diese keinen ungeliebten Mann heiraten möchte. Das verrät viel und die Darstellerinnen geben sich alle Mühe, das glaubhaft zu machen. Warum dieser König seine Elisabeth mit dieser Prinzessin betrügt, löst die Darstellung nicht überzeugend auf.

 Jeder Schiller-Kenner weiß, dass letztlich das Stück eine Tragödie des Königs ist. André Stuchlik spielt rasant auf die diese Lesart bedienende Kernstelle zu: Der König hat geweint. Sein Abgang kurz zuvor ist mehr als nur einprägsam. Er hat sich die Tirade mit der Gedankenfreiheit liegend angehört, er hat es ertragen, diesen dreisten Marquis sich ereifern zu sehen, hat ihn einen seltsamen Schwärmer genannt, das passt alles. Ihm war nur eins wichtig, einen Menschen zu haben, nach und neben diesen traurigen Gestalten Domingo (Thomas Jutzler), Herzog Alba (Ulrich Westermann), Graf von Lerma (Fridtjof Stolzenwald). Und als dieser eine ihn scheinbar verrät, wie er scheinbar auch Don Carlos verrät und die Königin Elisabeth, kommen dem König genau die Tränen, von denen Don Carlos seinem Vater gegenüber eingangs warnend-drohend sprach.

 Britta Lammers hat eine weitgehend schwarze Bühne eingerichtet, auf der als hauptsächliche Requisiten Bürostühle geschoben werden. Sie werden gruppiert, wie ein Schutzwall aufgestellt, angeboten und entzogen. Dunkel bis schwarz, zeitlos heutig sind die Kostüme, es spritzt etwas viel Blut nach dem Schuss auf Posa, trocknes Laub und Papiere bedecken den Bühnenboden. Schiller hat es mit Briefen, die natürlich auch in Memmingen nicht fehlen. Peter Höschler als Großinquisitor begrenzt die diabolische Wirkungspotenz der Rolle, die immer spielbar scheint. Er zwingt den König zum Handkuss, den dieser vielleicht verweigert hätte, wenn nicht dieser Verrat vorangegangen wäre. Boris Popovic, den der Großinquisitär nach dem Vorspiel, sein Urteil anzeigend, mit einem Blutkreuz auf dem nackten Körper kennzeichnete, legt am Ende, den Kreis schließend, seine Kleider ab. Sein wiederholter Ruf: Vater! Vater! Vater! ist eindringlich.

 Die DVD überzeugt mich, dass ich auch im Parkett eine runde Sache gesehen hätte. Dort freilich hätte ich nach dem Schlussbeifall nicht auf den Luganer See schauen können.
 Zur DVD: www.krapp-gutknecht.de


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