Uwe Johnson: Der 5. Kanal

Der Zeitzeuge Eckhard Ullrich hat ziemliche Mühe, sich seines Jahres 1964 zu erinnern. Einige der äußeren Fakten – ja: er feierte seinen elften Geburtstag, er beendete sein fünftes Schuljahr, begann das sechste, alles in dem Gebäude, das heute dem berühmten Schauspieler Udo Kier gehört, der es spannend fand oder witzig oder beides zugleich, eine alte Schule zu besitzen, die früher den Namen Thomas Müntzers trug und an der der in Gehren und Umgebung weltberühmte Zeitzeuge Ullrich es nicht zum Liebling aller Lehrer brachte. 1964 musste der Zeitzeuge Ullrich, wenn er vor einem Fernsehgerät sitzen wollte, über den Flur gehen zu den Nachbarn in der Talstraße oder aber zu einem Freund in der Langebergstraße, der Luftlinie fünfhundert Meter entfernt wohnte. Erst 1967 wurde die Anschaffung eines Fernsehers unabwendbar, denn der Fernsehkurs „English for you“ mit Diana Loeser (1929 – 1996) sowie Tom und Peggy als Darstellern war an der Ilmenauer EOS Goetheschule Schulpflichtstoff.

Und dennoch oder gerade deshalb ist die Lektüre des schmalen Bandes „Der 5. Kanal“ von Uwe Johnson, in der edition suhrkamp 1987 als Band NF 336 erschienen, wie eine Heimkehr in alte Zeiten für den Zeitzeugen. Johnson, der 1959 die DDR verlassen hatte via Berlin-West, der die Bundesrepublik mied und im Februar 1984 in der Grafschaft Kent in Südengland starb, seine Leiche wurde erst knapp drei Wochen später in seinem Haus in Sheerness-on-sea gefunden, was nicht eben dafür spricht, dass jemand ständig an ihn dachte und ihn sofort vermisst hätte, war 1964 nicht ganz freiwillig zum Fernsehkritiker geworden. Details lassen sich in der editorischen Notiz am Ende des Buches nachlesen, hier nur soviel: das monatliche Pauschalhonorar, vorab zu zahlen, in Höhe von eintausend D-Mark, muss sicher uneingeschränkt als sehr starkes Argument gesehen werden. Das wirklich besondere an diesen Kritiken aber: sie galten Programmen des DDR-Fernsehen.

Uwe Johnson, 1964 schon ein sehr berühmter und hoch geschätzter Schriftsteller, auch wenn von seiner Tetralogie „Jahrestage“ noch nichts erschienen war, schaute sich Sendungen aus Adlershof an vom Fernsehspiel bis zur Propaganda-Sendung, vom alten Montagsfilm aus der UFA-Mottenkiste bis zum Wirtschaftsmagazin und schrieb knappe Betrachtungen dazu, die der TAGESSPIEGEL veröffentlichte. Hintergrund war der Umstand, dass bis dahin Westberliner, die sehr leicht das Ostprogramm schauen konnten, anders als die Bewohner der alten Bundesrepublik, denen es in vielen Gegenden nicht besser erging als dem Raum Dresden in bezug auf das „West-Fernsehen“, auf kein gedrucktes Programm zurückgreifen konnten, das ihnen verriet, was wann kommt und eventuell interessant ist. Weil kalter Krieg war, gab es natürlich nicht nur Politiker aller Parteien, die gegen den Programmabdruck waren. Das scheinbar unschlagbar gute Argument: Die DDR druckt das Westprogramm ja auch nicht.

Auf die Ebene solcher Sandkastenbuben-Logik wollte sich Uwe Johnson nicht begeben, er hat sich überhaupt nie in diese Niederungen bequemt und war deshalb, um im Bild des kalten Krieges zu bleiben, nicht kampftauglich. Er war nicht kriegsverwendungsfähig und gerade 1964 verärgerte er damit jene deutschen Teilregionen, die von DDR-Flüchtigen demonstrierte Dankbarkeit erwarteten für die offenen bis verschränkten Arme, mit denen sie empfangen wurden. Bei Johnson kam erschwerend hinzu, dass er sich eher als einen sah, der umgezogen war, nicht als einen Flüchtling, der fortan seinen Opferstatus vor sich herzutragen hätte, wie es viele ja tatsächlich taten und damit die Preise verdarben. Wie Johnson öffentlich quertrieb, ist exemplarisch nachzulesen in seinem Text „Boykott der Berliner Stadtbahn“ aus dem Jahr 1964, in Buchform zuerst im Band „Berliner Sachen“. Aus heutiger Sicht kann man hier einen Pioniertext gegen symbolische Politik sehen. Johnson weist nach in rein sachlicher, rein journalistischer Art, dass die von den westdeutschen Gewerkschaften und im Nachtrag auch von der SPD und anderen betriebene Boykott-Politik gegen die S-Bahn die Falschen traf und von den Ärmsten bezahlt wurde. Mit demagogischen Argumenten aus den untersten Populistenschubladen wurde sogar der Verkehrsinfrastruktur Westberlins geschadet, um es den Mauer-Bauern im Osten einmal so richtig zu zeigen.

Dieser Uwe Johnson also, zu Handlangerdiensten nicht zu gebrauchen, übernahm die Aufgabe, für ein rundes halbes Jahr Woche pro Woche fünf Sendungen des Ostens zu besprechen. Am 4. Juni 1964 erschien des erste Text im TAGESSPIEGEL, am 3. Dezember der letzte. Faszinierend an den immer sehr kurzen Beiträgen, keiner nimmt zwei komplette Druckseiten in Anspruch, etliche nur eine, ist nicht der vernichtende Blick auf all den grauenhaften ideologischen Mumpitz aus Adlershof, auf amateurhafte Regie, dumme Argumente, gedankenlosen Kitsch, Verlogenheit und auch Unsicherheit der Wirkungsstrategie. Faszinierend ist, dass Johnson ohne das heute sofort unvermeidliche Gequatsche zur Melodie „Es war (nicht) alles schlecht in der DDR“ das auch herausfilterte, was seiner Meinung nach nicht nur sehenswert, sondern in dieser oder jener Hinsicht sogar vorbildlich war oder hätte sein können. Uwe Johnson machte nicht den Löwenthal für Intellektuelle unter der Kernleserschaft seiner Auftraggeber-Zeitung.

Auffällig ist auch, dass Johnson nicht zu brillieren versucht. Er sperrt sich damit gegen die Urversuchung aller Kritiker, wobei man in Kenntnis seiner Schreibart zu sagen hätte, dass ihm das anders auch nicht zu Gesicht gestanden hätte. Man kann, weil es zum „Boykott der Berliner Stadtbahn“ passt, ergänzend das drei Jahre ältere „Berliner Stadtbahn (veraltet)“ lesen, dergleichen wird gern spröde genannt und schon wäre man beim norddeutschen Charakter Johnsons, das alles aber streckt nur bei Zeilenhonorar, hier darf es ausgeklammert werden. Johnson will, so steht es im ankündigenden Text vom 4. Juni 1964, Adlershofer Meinungen mit seinen eigenen, Adlershofer Kunst mir der im Westen vergleichen. Er nennt sein Herangehen nicht ergebnisoffen, obwohl es so ist, wie sich rasch zeigt, und das ist wohltuend. Noch am 4. Juni behandelt er erstmals den „Schwarzen Kanal“ von und mit Karl-Eduard von Schnitzler. Johnsons Fazit: Schnitzler vertraue darauf, „daß wir die zerschnittenen Filme nicht wiedererkennen, nur weil er sie mit seinem Text verklebt hat“. Schnitzlers Sendung wird Johnson regelmäßig sehen und besprechen.

Johnson erkennt zeitig einen prinzipiellen Denkfehler in Adlershof: „Nämlich dem westdeutschen Bürger, dem man die Meinung von seiner Umgebung mit Filmen ändern will, kann man nicht kommen mit einem Stil, der an sowjetischer Tradition und ostdeutschen Gegenständen geschult ist, sondern mit einem westlich geläufigen.“ Johnson findet Informationssendungen aus Adlershof langweilig: „Es ist aber nicht interessant zu sehen, daß die Rüben wieder nicht verzogen sind. Es ist nicht unterhaltend, daß Kindergärten zu wenig Plätze haben. Es ist nicht bildend, daß die Industrie konservierte Früchte verkauft in Rillengläsern, die nur schwer und unter Splittergefahr für die Augen zu öffnen sind.“ Kommentar: „Die Verwaltung des Staates behelligt die Bürger mit Mißständen, die die Bürger nicht beheben können, da sie durch eben diese Art Verwaltung entstehen.“ Die Nachrichtensprecher bei guten Nachrichten: „Immer lächelt da einer ganz allein in sein Parteiabzeichen.“ Johnson meinte Hans-Dieter Lange. An den ich mich gut erinnere.

Szenischen Dokumentationen begegnete Johnson mit besonderem Misstrauen, denn er wusste im Gegensatz zu den Requisiteuren des DDR-Fernsehen, welche Hüte Damen in Bonn tragen und wie ein westdeutsches Tonbandgerät aussieht. Bei Suhrkamp wäre seinerzeit nachzufragen gewesen, warum Texte ausschließlich aus 1964 im Buch wiederholt falsch auf 1965 datiert werden, vielleicht schaute der Korrektor den 5. Kanal, während er arbeitete. Als Johnson den Sowjetfilm „Ein Menschenschicksal“ nach der Scholochow-Novelle sah, schrieb er einfach nur beeindruckt: „Ein Film auch für die Deutschen.“ Eine Sendung mit dem Titel „Prisma“ nötigte Johnson immer wieder Achtung ab, sie stand auch später noch, ich bestätige es gern, im Ruf, eine kritische Sendung zu sein, ohne Ironie gesagt, wobei der Zuschauer aus der Welt einer doch schon wirtschaftswunderlich weit entwickelten Überflussgesellschaft die Mühen und Turbulenzen des Mangels gleichwohl wie eine Realsatire rezipieren durfte. Doch gerade hier keine Häme bei Johnson. Und am 28. Juni 1964 nannte er die „Aktuelle Kamera“ keine „Nachrichtensendung, sondern ein tägliches Symptom für innenpolitische Verhältnisse“.

1964 war das Jahr des so genannten Deutschlandtreffens in Berlin und Johnson legte Wert darauf, es habe nur in acht von zwanzig Stadtbezirken stattgefunden. Die Abkürzung DT 64 begleitete DDR-Bürger noch bis ans Ende des Staates, der gern der ihre gewesen wäre und sich darin so gründlich irrte. Humor durchgehend entdeckte Johnson in einer Sendung über die Filmfestspiele in Karlovy Vary, merkte aber sofort an, es sei eine Sendung des tschechischen Fernsehen gewesen. Am 5. Juli gibt es die Beobachtung „wie unbefangen Leute auf der Straße der Kamera ein Interview geben“, und das bemerkenswerte Fazit des Vergleichs mit den beiden öffentlich-rechtlichen Programmen des Westens, der Adlershofer Sender „befaßt sich aber mehr als die mit den Verhältnissen seiner Abonnenten“. Die schon genannte Sendung „Prisma“ beispielsweise kümmert sich darum, dass eine kleine Gemeinde ein Ferienlager bekommt. Darüber macht sich Johnson  nicht lustig, es imponiert ihm sogar.

Ohne seinen eigenen dreißigsten Geburtstag bei der Gelegenheit zu erwähnen, schaute sich Uwe Johnson am 19. und am 20. Juli 1964 Sendungen zum Stauffenberg-Attentat im DDR-Fernsehen an. Dem, was die Autoren Karl Gass und von Schnitzler geliefert hatten inklusive Zitaten aus Gerhard Ritters Goerdeler-Biographie, attestierte er Geschick und registrierte die Abwesenheit früheren Geschimpfes, gar den Versuch, Stauffenberg für die Tradition der ostdeutschen Armee zu requirieren: „Insgesamt fiel ein sachlicher Ton auf, oft war er fair.“ Vollkommen verblüfft zeigte sich Johnson angesichts einer Quizsendung mit Herbert Köfer, Titel „Kreuz und quer“, er empfahl sie dem westlichen Publikum wärmstens, weil sie ein erstaunliche Dinge locker wissendes Ostvolk vorführte. Nichts da mit westdeutschem Geographielehrer bei Günter Jauch, der Stettin in der DDR verortete, das hat Johnson nicht mehr miterleben müssen.

Es gab 1964 den Sturz Chruschtschows, zu dem der DDR-Fernsehzuschauer einfach nichts Substantielles erfuhr, es gab kuriose Bezeichnungen für Menschen, die aus der DDR in den Westen geflohen waren: „zeitweilig in Westdeutschland lebende Bürger unseres Staates“. Die Dauerkritik an Schnitzler lautete: Nie werden Phänomene reflektiert im eigenen Land, die denen im Westen verdächtig ähnlich sind, die mit Inbrunst zum Negativbefund verarbeitet werden für das ganze System. Das Ergebnis, dass „sogar die treuesten Kunden Herrn von Schnitzlers gelernt haben, ihm noch bei der Vorführung unbestreitbarer Wahrheiten zu mißtrauen.“ Übers halbe Jahr hin wiederholt sich manches, manches erweitert sich. Und Überraschungen bleiben nicht aus: Es wird im Adlershofer Fernsehen ein Beatles-Film gezeigt, der sogar noch aktuell  im Westberliner Zoo-Palast zu sehen ist. Der Zeitzeuge weiß, dass es einen kurzen Korridor gab, 1964 konzertierten auch Wolf Biermann und Wolfgang Neuss gemeinsam, bis 1965 das kulturpolitische Fallbeil des 11. Plenums des ZK der SED fiel.

Am 15. November 1964 gab es doch noch einen Text mit mehr als zwei Druckseiten (im Buch), „Unnötige Zwischenrufe“ überschrieben. Hier erfährt der Leser, dass keineswegs nur in der DDR jene panische Angst herrschte, mit der Darstellung kritischer Lagen im eigenen Land der Agitation des Klassengegners Vorschub zu leisten. Von mehr als sechzig Anrufen bei einem Westberliner Sender berichtet Johnson fast im Vorbeigehen und schreibt unmißverständlich: „Und dies ist eine Argumentation, vor der man die Wahrheit in Schutz nehmen muß.“ Und im übernächsten Satz: „Es wäre unsinnig, nur deshalb nicht im eigenen Haus für Ordnung zu sorgen, weil der Nachbar herziehen könnte über die Unordnung, die beseitigt wurde.“ Später machte sich ein gewisser Kurt Hager Gedanken über die Implikationen neuer Tapeten in Moskau. Bald danach musste er seine alten Tapeten in Wandlitz verlassen.

Beenden wir den Exkurs zum Fernsehkritiker Uwe Johnson an seinem 80. Geburtstag mit einem Zitat, das schräge Wehmut auslöst: „Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in irgendeiner der Sendungen aus Adlershof etwas Längeres aus der Landwirtschaft gezeigt würde...“ Ach ja, sagt der Zeitzeuge: Wie herrlich waren doch diese lyrischen Berichte von den Getreidefeldern der Republik, da der Reporter mit gedämpfter Lautstärke ins Mikrophon raunte, die Erntekapitäne seien auf hoher Ährensee, der Wind trug lustige Spelzenwolken um die Ohren des diensthabenden Fernseh-Diplomjournalisten und täglich gab es exakte Prozentzahlen der bereits abgeernteten Flächen. Noch zum Ende der DDR, als Uwe Johnson schon fünf Jahre tot war und deshalb das erste Buch mit einer Sammlung kurzer Texte von ihm in einem DDR-Verlag nicht mehr erlebte („Eine Reise wegwohin und andere kurze Prosa“) meinten viele Zeitzeugen, wenn die DDR nichts konnte, aber Landwirtschaft konnte sie. Das erstaunliche Nachwort von Jürgen Grambow übrigens in dieser Aufbau-Ausgabe könnte als Argument für positive Entwicklungen in der finalen DDR missbraucht werden, wenn selbige nicht so rasch aus der Geschichte verschwunden wäre.


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