Arthur Eloesser und Max Osborn gratulieren einander

Heute, da die Zeitgeist-Spatzen von den Dächern, näher hin: aus den Dachrinnen, pfeifen: 50 sei das neue 40, da lesen sich Gratulationen Sechzigjähriger, die einander Schulter und Schulterblatt tätscheln, überliefert aus den alten Zeiten, wie aus der Welt gefallen. Graue Haare mit Würde tragen? Selig das Erinnern: Weißt du noch? Tatsächlich: Arthur Eloesser hat seinen gedruckten Glückwunsch für den verehrten Kollegen Max Osborn, der am 10. Februar 1930 in sein siebentes Lebensjahrzehnt startete, mit eben dieser Frage überschrieben: „Weißt Du noch?“ Gedruckt übrigens im „Unterhaltungsblatt“ der „Vossischen Zeitung“ Nummer 34 vom 9. Februar 1930, das war die Sonntagsausgabe. Der Berliner Eloesser erinnerte den Kölner Osborn an dessen mittlerweile 50 Berliner Jahre, und der Oberbürgermeister der Stadt Köln, ein gewisser Dr. Konrad Adenauer, fand es ebenfalls angebracht, dem „Sohn der Domstadt am Rhein“ höchstselbst und öffentlich zu gratulieren. Auf der Zeitungsseite „Max Osborn zum 60. Geburtstag“ finden sich als weitere Gratulanten: Max Liebermann, Max Slevogt, Gerhart Hauptmann, die Geheimräte Wilhelm Waetzoldt (Generaldirektor der staatlichen Museen) und Ludwig Justi (Direktor der Nationalgalerie) sowie Hans Poelzig (Architekt, Maler Bühnenbildner), illustre Namen der Zeit. 

Und auf der folgenden Seite geht es weiter: Es gratulieren Geheimrat Max Friedländer (Direktor des Kaiser-Friedrich-Museums), Dr. Emil Waldmann (Direktor der Kunsthalle Bremen), Dr. Edwin Redslob (Reichskunstwart), Wassilij Kandinski, Emil Orlik, Karl Scheffler, Professor Otto Pniower, Dr. Wilhelm Hausenstein, die Architekten Heinrich Tessenow und Peter Behrens. Jeder dieser Namen verdiente es, mit einigen Zügen näher charakterisiert zu werden. Hier soll es genügen, auf das breite wie charakteristische Berufsspektrum der Gratulanten zu verweisen, Kollegen Kritiker sind weniger vertreten. Dafür aber bekam einer von ihnen, Arthur Eloesser, den meisten Platz zur Verfügung gestellt. Seinem „Weißt Du noch?“ lässt er aber nur wenige ganz private Erinnerungen folgen: „Weißt Du noch? Als wir Freie Pfungstädter und dann Freie Markgräfler waren?“ Das aber waren keine bis dahin geheimen Bünde, die Erklärung ist viel einfacher: „Als wir den Zynismus oder die Bescheidenheit hatten, uns nicht nach einer Weltförderungidee zu nennen, sondern nach dem Stoff, der uns gerade schmeckte.“ Pfungstädter kam aus einer Brauerei, die später die größte im Hessischen wurde, Markgräfler ist der Wein aus jener Gegend, die bis heute auf jeder Wetterkarte immer durch besonderes Klima, eben ein weinfreundliches deutsches Klima, auffällt. 

Die reine Freude, die das heutige Nachlesen solch alter Gratulation auslöst, schlägt am Ende um und daran ist nicht Arthur Eloesser schuld. Es ist die Zeit, die kam. „Wenn ich nicht wüsste, dass du auch heute nur eine kurze Arbeitspause machst, in die sich schon viele Verehrer teilen müssen, ich würde dich noch mit manchem „Weißt du noch?“ aufhalten. So muss ich weitere Fragen auf zehn Jahre zurückstellen, es sind noch viele übrig. Da werden wir auch noch viel mehr wissen: Was aus Deutschland wurde, was hinter der neuen Sachlichkeit gekommen ist und ob sie die alten Kolonnaden wirklich weggetragen haben.“ Nach der neuen Sachlichkeit kam Blut und Boden, aus Deutschland wurde Nazi-Land, aus den bedeutendsten Kritikern des Landes wurden Gemaßregelte, Ausgeschlossene, Vertriebene, auch Gemordete. Arthur Eloesser hatte das zweifelhafte Glück, die geplante und industriemäßig zu relativem Ende gebrachte Mordorgie an Juden und anderen nicht mehr erleben zu müssen. Er erlebte seinen 70. Geburtstag nicht mehr. Max Osborn erlebte ihn im Exil, Glückwünsche seines alten Freundes konnten ihn nicht mehr erreichen. Und als er seine Erinnerungen aus den Jahren 1890 bis 1933 unter dem Titel „Der bunte Spiegel“ niederschrieb, waren gerade und zu meinem ausdrücklichen Bedauern heute die an Eloesser nur noch spärlich. 

Im Grunde waren es gar keine Erinnerungen mehr, auch seine Enkelin Ruth Weyl wusste der einsamen Erwähnung nichts hinzuzufügen. So halten wir uns lieber an Osborns Gratulation, die 1930 rund sechs Wochen nach der hier zuerst behandelten ebenfalls im Unterhaltungsblatt der „Vossischen Zeitung“ erschien. Eloesser hatte mit Flaubert begonnen, an die beiden Freunde in dessen Roman „Die Erziehung der Gefühle“ erinnert, so jedenfalls der mir geläufige deutsche Titel, den die grassierende Neuübersetzungswut dieser Jahre auch getilgt hat, wie sie aus dem guten alten „Jüngling“ Dostojewskis ohne Not „Der grüne Junge“ machte und dieser Blödsinn wurde im Feuilleton auch noch bejubelt. War launig zu „den Frauen“ übergegangen, die die Frage „Weißt du noch?“ angeblich so gar nicht lieben: „Weil die Erinnerungen der Männer Junggeselleneigentum sind“. Und hatte natürlich auch den Kritikerberuf, den beide ausübten, nicht ausgeklammert. Der „wundervollen Pionierarbeit des Kritikers, zum täglichen Wegräumen und Aufbauen“ gab er das Wort und die Überzeugung folgte, die gemeinsame Passion mache „aus künstlerisch und kritisch Wirkenden schließlich doch eine Partei“. Eloesser gedenkt des gemeinsamen Freundes Felix Poppenberg, der 1915 aus dem Leben schied, er hätte Osborn „sicher etwas weither Geholtes mitgebracht, einen kleinen Buddha mit goldenem Bauch oder einen Dschinn in der Flasche“.

Und des großen Lehrers Erich Schmidt, aus dessen Schule fast alle führenden Vertreter der Berliner Kritik hervorgingen und dessen „Charakteristiken“ für Eloesser auch als Form vorbildlich wurden. „Und nun müssen wir uns doch wohl einen Augenblick die Hand drücken, Veteranen von seiner Garde, erprobt in Belagerungen, Stürmen und Schlachten.“ „Der nicht eitel, nicht diktatorisch war, wie man ihm nachsagte, sondern von einer inneren Bescheidenheit, wie sie sich selten auf der Höhe eines deutschen Katheders behauptet hat.“ Vermerkt sei, das Arthur Eloesser in derselben Sonntagsausgabe in der Beilage „Literarische Umschau“ (vier Seiten weiter hinten) gleich noch eine neue Kleist-Biographie besprach, im Brückenverlag Berlin erschienen: „Das Leben Heinrich von Kleists“ von Karl Federn. (Fußnote: WIKIPEDIA kennt dieses Werk Federns, Stand 28. August 2021) nicht. Am 20. März schließlich konnte auch Arthur Eloesser seinen 60. Geburtstag feiern. Auch ihm widmete die „Vossische Zeitung“ fast eine komplette Seite des „Unterhaltungsblattes“. Den umfänglichen Hauptbeitrag stellte Max Osborn unter die Überschrift „Der geborene Kritiker“. Dazu gestellt hat die Redaktion die Gratulationen von Gerhart Hauptmann und Thomas Mann, den beiden deutschen Literatur-Nobelpreisträgern. Zuvor aber noch eine Meldung vom Folgetag. 

Da vermeldete die Morgenausgabe der „Vossischen Zeitung“ auf ihren Seiten 10 und 11 dies (Zitat vollständig): „Arthur Eloessers 60. Geburtstag. Der Kultusminister Grimme sandte dem Jubilar folgendes Telegramm: „Dem geistvollen und immer anregenden Kämpfer für alles Fortschrittliche und Wertvolle im deutschen Schrifttum zum 60. Geburtstag meinen herzlichen Glückwunsch“. Es depeschierten fern u. a. Minister Severing, Dr. Zechlin, Gerhart Hauptmann, Rudolf Rittner, Else Lehmann, Elisabeth Bergner, Arthur Kraußneck, Rudolf Forster, die Witwe Erich Schmidts, und mit vielen anderen folgende Verbände: Reichsverband der deutschen Presse, Schutzverband deutscher Schriftsteller, Verein Berliner Presse, Verband Berliner Bühnenleiter, Reichsverband bildender Künstler, Deutsche Bühnengenossenschaft, Kleistgesellschaft, die Staatstheater, die Redaktion der „Vossischen Zeitung“ und der Pressechef der Stadt Berlin. Arthur Eloesser musste an seinem Geburtstag nicht ins Theater, die Staatsoper mit „Der Postillon von Longjumeau“ wäre ohnehin nicht sein Metier gewesen, den Job erledigt der zuständige Kollege Max Marschalk. Marschalk (7. April 1863 – 24. August 1940) war selbst Komponist und Bruder der zweiten Frau von Gerhart Hauptmann. Zu dessen Stück „Und Pippa tanzt“ schrieb er die Bühnenmusik. Die Uraufführung im Berliner Lessingtheater am 19. Januar 1906 sah auch Arthur Eloesser und schrieb darüber. 

Wie Eloesser in seiner Gratulation für Osborn, so hat Osborn in seinem Glückwunsch für Eloesser Goethes Namen parat. Doch während Eloesser nur mit einem passenden Zitat aufwartete („Was ist denn gestern? Gestern ist gar nichts.“), holte Osborn zum superlativischen Lob aus: „Wir besitzen unzählige Werke über Goethe, aber ich glaube, die Welterscheinung dieses strahlenden Wunders, die geistige und sinnliche Existenz dieses Dichters, seine Beziehungen zu den Zeitgenossen, zu den Frauen, sein Emporwachsen aus einer ewigen menschlich-göttlich-mystischen Quelle hat niemand vor Arthur Eloesser mit solcher aus Verzauberung und Besonnenheit gesammelten Kraft nachgezeichnet.“ Ähnlich sah das Thomas Mann, nicht umsonst griff er, es ist dokumentiert, immer wieder einmal gerade zum Goethe-Teil der großen zweibändigen Literaturgeschichte Eloessers. Die Idee, Osborns Urteil geringzuschätzen, weil sein Metier eher die bildende Kunst war, sollte man gar nicht erst aufkommen lassen. „... ich scheue mich nicht, dem Mann, der mir aus nämlichem Anlass vor wenigen Wochen an dieser Stelle ein Kränzlein flocht, heute mit gleicher Münze heimzuzahlen. Denn wir sind beide noch durch die alte wissenschaftliche Schulung gegangen, die unter anderem verlangte, was gegenwärtig allerdings nicht mehr überall anerkannt wird, dass derjenige zuvörderst über ein Thema sprechen möge, der am besten damit Bescheid weiß.“ Das waren noch Zeiten! 

Auch Osborn blickt auf vierzig gemeinsame Jahre zurück: „Als Arthur Eloesser einst in unseren Studentenkreis trat, empfanden wir alle, die wir uns im Tumult schwankender Gefühle und Anschauungen herumbalgten: hier kommt einer, der im Gleichgewicht ruht. … er verstand es schon, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, sein Urteil auf festen Boden zu stellen.“ Dann dieser kräftige Satz: „Unmissverständlicher hat die Vorsehung niemals einen Sterblichen zum kritischen Handwerk auserwählt.“ Ergänzend sofort: „Wir besitzen weniger führende Männer des deutschen Schrifttums, deren Entwicklung sich in so bestimmter Linie, so logisch und organisch vollzog.“ Zwei Elemente nennt Osborn, die den „Urstoff“ dafür bildeten: „Das eine ist ein berlinisches von einer Echtheit, deren sich nicht viele rühmen können. Eloesser stammte nicht aus dem abgeglätteten Berliner Westen, sondern aus dem alten Zentrum, von der Gegend des Alexanderplatzes … Das andere Element aber war, mit dem berlinischen nach historischem Recht innig verknüpft, eine angeborene Neigung zu der geistigen Disziplin, der spielenden Erfindung, der Spracheleganz, auch dem Rationalismus der französischen Literatur.“ Osborn erinnert an das Genfer Semester, das Eloesser absolvierte und an den Lehrer Adolf Tobler, der als in Hirzel, Kanton Zürich, geborener Schweizer in Berlin die romanische Philologie vertrat (24. Mai 1835 – 18. März 1910). 

„Aus diesen Elementen erwuchs der Kritiker Eloesser, gewann er die Schärfe des Blicks, die abwartende, objektivierende Empfänglichkeit der Beobachtung, die Gestaltungskraft und den Witz des geschliffenen Ausdrucks. Er besaß die Gottesgabe, im Tumult des künstlerischen Großbetriebes, wo es not tat, den Kopf kühl zu behalten und sich mit dem Panzer des Spottes zu wappnen.“ Osborn kennt und nennt die Werke Eloessers natürlich von der ersten Arbeit über die erste deutsche Moliere-Übersetzung bis zum Elisabeth-Bergner-Buch, von „Die Straße meiner Jugend“ bis zur großen Literaturgeschichte. „Die Darstellung bis zum Tode Goethes, die bereits vorliegt, ist, ich wage das Wort, eines der glanzvollsten Bücher geworden, die die Geschichte unserer Geisteswissenschaften kennt.“ Osborn schließt, den Ball Eloessers aus dessen Gratulation aufnehmend, ebenfalls mit einem Goethe-Zitat: „Die Gegenwart ist die einzige Göttin, die ich anbete.“ Einmal noch, sehr viel später, beide lebten schon Jahre nicht mehr, standen sie dicht beieinander: im Sammelwerk „Juden im deutschen Kulturbereich“, dessen zweite Auflage 1959 eigentlich die erste war: Eloesser hatte die knapp 70 Seiten über Literatur geliefert, Max Osborn fünfzig Seiten über „Bildende Künste“ mit einem Anhang zur Photographie. Am 24. September 2021 könnte es geschehen, dass jemand des 75. Todestags von Osborn gedenkt, vielleicht.

 


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