Milch in Ilmenau
Dass unser aller öffentlicher Geheimrat ein ziemlich langes Gedicht mit dem schlichten Titel „Ilmenau“ geschrieben hat, bisweilen wird es sogar als Sonderdruck im einschlägigen Handel vertrieben, hat sich herumgesprochen. In Ilmenau sowieso, aber auch in Manebach, Unterpörlitz und den Neustädten an der Dosse, der Orla und am Rennsteig, alle anderen dürfen sich angesprochen fühlen. Dass unser aller, unser unvergessener Erzspaßvogel Lothar Kusche, geboren am 2. Mai 1929, da war meine Mutter schon fast sieben Monate alt, gestorben am 20. August 2016, da lebte meine Mutter noch in guter Verfassung, dass also unser Lothar „Milch in Ilmenau“ geschrieben hat, wissen, wie Heinz Knobloch sagen würde, wahrscheinlich nur noch die wenigsten.
„Milch in Ilmenau“ ist ein Feuilleton, es lässt sich folglich nicht näher definieren und ist kurz. Kürze charakterisiert, wie wir im Parteilehrjahr nicht gelernt haben, das Feuilleton. Man muss nicht extra an die Ostsee fahren, es in Ruhe und entspannt im Liegestuhl zu lesen oder auf der Veranda des weißen Ferienhauses in den Dünen, den Alpen. Es füllt eine einzige Seite, eine zugegeben etwas seltsam formatierte Seite in einem fast quadratischen Buch aus dem Jahr 1975. Verlage leisteten sich seinerzeit und bis heute immer noch gelegentlich solche Formate, die im Regal wie Fremdkörper wirken, es sei, man legt sie quer oder hat überhaupt eher malerische als sinnvolle Ordnungssysteme für seine Bibliothek.
Das Buch heißt „Vorsicht an der Bahnsteigkante“ ohne Ausrufezeichen, wie davon abweichend im wirklichen Leben. Auf dem Cover - hieß das 1975 auch schon so? - sieht man den Titel rot, den Verfassernamen rot, die Schienen unten sehen aus, als ob sie noch auf Holzschwellen lägen und alle elf Personen starren nach links. Man darf annehmen, dass der Zug von dort kommen müsste und da damals noch der Sozialismus in der DDR real exisierte, kam er vermutlich auch. Eine Person starrt genau genommen nicht nach links, sondern ist bockig, eine kindliche Person von knapp halber Höhe der arg vollbusigen Mutter.
Da Umschlag und Illustrationen innen im Buch von Elisabeth Shaw stammen, ist männlich sexistische Absicht in der Vollbusigkeit nicht zu unterstellen. Elisabeth Shaw, am 4. Mai 1920 in Belfast geboren, am 27. Juni 1992 in Pankow gestorben, war eine wunderbare Autorin und hat auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin, wie ich lese, nur ein Kenotaph auf dem Grab von René Graetz, weil sie selbst in der irischen See bestattet wurde. Im Buch geht es um dies und das, wie es eben so geht bei Feuilletonistens. Zumal wenn sie auch noch für den Eulenspiegel Verlag schrieben, der Umsatzzahlen garantierte. Auf Seite 61 geht es um „Milch in Ilmenau“. Unten sieht man einen ziemlich unrasierten Herrn an einem Tisch sitzen.
Auf dem Tisch stehen zwei Gefäße, die wie Cocktail-Gläser aussehen, aus den Gefäßen schauen Stäbchen heraus, mit denen man in Amerika vielleicht die Oliven aus dem Martini polken würde, in Ilmenau aber, da war 1975 ganz sicher nicht das Martini-Paradies. Elisabeth Shaws Gefäße könnten also auch die berühmten farbigen Kelcheisbecher sein aus eloxiertem Aluminium. Der unrasierte Mann starrt auf einen Zettel, der auch ein Blatt sein könnte und wer den Text, der oben drüber steht, zuerst liest, weiß, dass das eine Speisekarte sein soll. Ich habe aus meinen jüngeren Jahren noch eine eher vage Vorstellung, wie es aussah in der Milchbar Lindenstraße. Wenn ich da war, dann wegen des Eises.
„Also im schönen Ilmenau im schönen Thüringen besuchte ich eine schöne Milchbar.“ so beginnt Lothar Kusche. Der schreibt natürlich nicht für den Touristenführer, wenn er schreibt: „Und da haben sie auch eine schöne Speisekarte. Bevor man an die Liste der Getränke gelangt, gerät man erst einmal an einen längeren erklärenden Aufsatz.“ Was er dann zitiert, nun ja, man könnte es wieder zitieren nach dem leicht anrüchigen Motto: Seit Fünfuhrfünfundvierzig wird zurückzitiert, aber letztendlich ist das die Milch von gestern, 50 Jahre alt. Man war damals wohl frisch aus einem Kurzlehrgang Agitation und Propaganda zurück, Marketing gab es noch nicht diesseits des Aluminium-Vorhanges. Das Ende aber von nur siebzehn teilweise nicht bis hinten gefüllten Druckzeilen, das soll hier der Nachwelt vor die Füße geschleudert werden: „Da sie weder Pudding noch Milchsuppe auf der Karte angeführt hatten, bin ich sofort wieder gegangen; mir war an jenem Tag nicht danach zumute, mit meinem Magen Experimente anstellen zu lassen, obwohl es ja vielleicht möglich sein mag, dass man Milch auch trinken kann.“
Ich weiß nun, warum zeitweise jeder zweite emeritierte Ilmenauer Hochschulprofessor mit dem Gedanken spielte, ein Buch über Goethe und Ilmenau zu schreiben, kein einziger befristeter Assistent aber je auf die Idee kam, über Lothar Kusche in Ilmenau zu promovieren.