Raue Luft des Imperialismus

Das kommende Jahr wird in aller Stille einen Tag enthalten, an dem ich mehr als nur ganz kurz in mich zu gehen beschlossen habe. An diesem Tag im Frühling, es wird ein Tag in Eisenstadt im Burgenland sein, gar nicht sehr weit hinter der deutschen Grenze, werde ich mir selbst sagen: Jetzt hast du seit dem so genannten Mauerfall genau zwei komplette, vollständige Kalenderjahre mit zweimal komplett 365 Übernachtungen im ausländischen Ausland verbracht. Nur ehemalige DDR-Bürger können nachempfinden, was das tatsächlich, in der Tiefe, an der Oberfläche, hinten und vorn, oben und unten, bedeutet. Wenn Ochs und Esel den Lauf der DDR tatsächlich nicht aufgehalten hätten, wäre ich 1993 mit einem bescheidenen Antrag an meinen Staat herangetreten, untertänig und noch bescheidener, und hätte den Wunsch in Schriftform vorgetragen, zum Besuch eines Verwandten zweiten Grades, Status Bruder der Mutter, für noch viel bescheidenere drei Tage zu seinem siebzigsten Geburtstag gnädigst reisen zu dürfen, zu diesem Behuf die staatlich opferbereit bereit gestellten 15 Westmark in Empfang nehmen zu hoffen, um in der rauen Luft des Imperialismus nicht auf milde Gaben angewiesen sein zu müssen dürfen sollen.

Wenn die Verschwörung der genehmigenden Götter entschieden hätte, mich zur Benutzung eines Interzonenzuges grenzüberschreitend dahingehen zu lassen, hätte ich drei Jahre später offenen Maules beglotzen können, was mir dank Ochs, Esel und Politbüro dann doch zeitiger, brachialer und unausweichlich vor Augen zu kommen von der Weltgeschichte verordnet wurde. Ein Teil der ostdeutschen Menschheit raffte nach einem ersten Blick in westdeutsche Baumärkte das vorhandene sowie das nicht vorhandene Geld zusammen zum Zwecke des Erwerbs eines Grundstückes und des Baus eines eigenes Heimes auf eigenem Grundstück. Manche schafften es vorher noch, eine bis drei Zwei- bis Dreitagesbusreisen zu absolvieren, dann war die Solvenzmasse bis ans Lebensende festgeschrieben für den Erwerb vererbbaren Grundeigentums mit latenter Immobilitätsgarantie und Familienstreitpotential durch alle Instanzen.

Unsereiner dagegen, daran gewöhnt, sämtliche Ersparnisse des Jahres plus X in eine sagenhaft lange und sagenhaft unvergessliche alljährliche vierwöchige Ungarnreise investiert zu sehen, setzte seine Prioritäten anders. Vorsichtig bereisten wir noch einmal das Land der Stacheldrahtschnippler mit Österreich-Grenze, schämten uns, mit unserer fetten Westkohle plötzlich reich dort zu sein wie Krösus vor Steuern, schämten uns der von hinter uns aus dem Westen anrollenden Billigreiser, die im Fernsehen zu viele Reportagen über den billigen Sex in Budapest gesehen hatten, schämten uns, vor den Freunden dort nun anscheinend zu sein wie diese schamlosen Beamtenkinnbartträger mit ihren solargebratenen Baumeltittgattinnen und beschlossen, vorerst nie wieder im Keleti auszusteigen, um auf hundert Meter von tausend Devisenbettlern angequasselt zu werden.

Doch schon im selben Jahre wagten wir uns, siehe „San Marino forever“ in gleicher Rubrik, in die große weite Welt hinaus. Wir sangen nicht „Hänschen klein“, aber wir hatte drei Tage Maulsperre. Das allererste Mal Europabrücke, aus der gehüteten Postkartensammlung ein bekannter Anblick, das allererste Mal der Brennerpass, lag da doch tatsächlich schon Schnee, und dann, und dann. Den Jahreswechsel danach erlebten wir im östlichsten Osten, wo Punkt Mitternacht aus tapferen Anfängen ein bis heute vollkommen untapferer MDR gestampft wurde mit Ulrike Wolf und Udo Reiter oder wie auch immer. Und schon den nächsten Jahreswechsel versüffelten wir weit von mitteldeutschen Gewandhauskonzerten entfernt an der seeländischen Nordsee im Nachbarlande Holland. Inzwischen haben wir vier Jahreswechsel dort verfeiert, haben zu allen Jahreszeiten fast alles gesehen, was man gesehen haben sollte, dazu viel, das man gesehen haben muss, falls man dem Soll nicht zu viel Macht über sich einräumt. Ein Siebentel der mehr als 700 Übernachtungen jenseits des gesamten Gesamtdeutschland entfällt auf das flache Königreich, nicht sehr viel weniger inzwischen auch auf die katholische Abspaltung, die der Welt gezeigt hat, man kann 536 Tage ohne gewählte Regierung auskommen.

Einen Jahreswechsel dort mitten in der Provinz Namur erproben wir jetzt erstmals und wir werden mit bulgarischen Bekannten, die in Brüssel arbeiten, zusammen sein, was weder unter Erich Honecker noch unter Todor Shiwkow zu den realistischen Perspektiven gezählt worden wäre damals. Ich werde vom bulgarischen Kulturzentrum Unter den Linden in Berlin erzählen, wo ich einmal Keramik kaufte und immer staunte, wie umfangreich die Gesammelten Werke Todor Shiwkows im Schaufenster wirkten, während mir die Gesammelten Werke von Erich Honecker irgendwie bis an sein selig-unseliges Ende vorenthalten wurden. Ich wurde immer nur mit albernen Interviews in der Saarbrücker Zeitung abgespeist, wo Erich den Pfiffigen spielte. Was bei einem ungelernten Dachdecker auch damals schon peinlich wirkte. Freundlich nachgedruckt von „Neues Deutschland“, „Freies Wort“, „Das Volk“, „Volkswacht“ und wie die regionalen Kracher alle hießen.
 
Wir sonnten uns zu Füßen des Wilder Kaiser, erlebten eine österreichische Schwimm-Meisterschaft, als wir das Wort noch nicht mit drei M schreiben mussten. Wir erklommen den Vesuv, wir ließen uns Ostsee und Nordsee gleichzeitig um die Füße spülen, wir aßen ein Wiener Schnitzel in Wien, die teuerste Pizza unseres Lebens in Südnorwegen und brieten frische zarte Fische auf Gotland. Auf Procida sahen wir die Karfreitagsprozession und Zitronen, mit denen man Festungsmauern hätte einwerfen können. Wir sahen Bretagne und Normandie, die Pyrenäen und Burgund, wir durchwanderten Bordeaux und fotografierten Totenköpfe in den Katakomben von Paris, zu denen wir von unserem Hotel am Boulevard Brune zu Fuß laufen konnten. Wir sahen die Stadien von Barcelona, das Kröller-Müller-Museum und das Musee d'Orsay.

Das Dünsten lebendiger Taschenkrebse in Mandal, das Würzen von Filets vor dem Räuchern auf Bornholm, in Blekinge schaute uns ein Reh auf den Frühstückstisch und dann immer wieder, immer neu die Schweiz. In Liechtenstein gibt es eine fürstliche Briefmarkensammlung, in Monaco Kakteen von Manns- und Fraushöhe, in Andorra zollfreie Edelgetränke und in San Marino, siehe oben. Wir haben luxemburgische Elblinge nach Hause gebracht und Weinbau in Südengland fotografiert. Wir sind auf dem Kalterer See Pedalo gefahren und haben am Ortasee Pasta gegabelt. Nun rückt die Zeit immer näher, da wir sagen werden, jetzt hält uns gar nichts mehr. Wir werden nur noch nach Hause kommen, um die Wäsche zu waschen. Um die Sonderangebote für rüstige Rentner zu studieren. Habe ich tatsächlich einmal gesagt, das Reisen sei mir nicht so wichtig, einer Dame gegenüber, die beinahe Bundespräsidentin geworden wäre, nachdem sie meine Stellvertreterin war unter dem Dach des Kulturbundes der DDR?


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