Tagebuch

6. Januar 2021

Ob die drei unbegleiteten jungen Könige mit den seltsamen Königsnamen Caspar, Melchior und Balthasar eigentlich auf dem Weg zu ihrem verabredeten Gummiboot an der Küste Libyens waren, als sie an jenem Stall vorbeikamen, über dem ein Sternlein leuchtete, ist nicht sicher überliefert. Jedenfalls schauten sie hinein und alles andere ist bekannt. Am 6. Januar 1941 starb in Sanary-sur-mer Franz Hessel, gesundheitlich irreversibel geschädigt nach seiner Internierung in einem der südfranzösischen Lager, in denen auch andere deutsche Emigranten eingesperrt waren. Zehn Jahre davor wurde E. L. Doctorow geboren, von dem jedes neue Buch gefeiert wurde, solange er lebte. Kaum war er tot, ebbte das feuilletonistische Interesse an ihm heftig ab. Als Franz Kelleter für Kindler Kompakt die „Amerikanische Literatur. 20. Jahrhundert“ auszuwählen hatte, entfiel ihm Doctorow völlig, von dem sogar die DDR Notiz genommen hatte: ohne Marktdruck aus den USA.

6. Januar 2021

Ob die drei unbegleiteten jungen Könige mit den seltsamen Königsnamen Caspar, Melchior und Balthasar eigentlich auf dem Weg zu ihrem verabredeten Gummiboot an der Küste Libyens waren, als sie an jenem Stall vorbeikamen, über dem ein Sternlein leuchtete, ist nicht sicher überliefert. Jedenfalls schauten sie hinein und alles andere ist bekannt. Am 6. Januar 1941 starb in Sanary-sur-mer Franz Hessel, gesundheitlich irreversibel geschädigt nach seiner Internierung in einem der südfranzösischen Lager, in denen auch andere deutsche Emigranten eingesperrt waren. Zehn Jahre davor wurde E. L. Doctorow geboren, von dem jedes neue Buch gefeiert wurde, solange er lebte. Kaum war er tot, ebbte das feuilletonistische Interesse an ihm heftig ab. Als Franz Kelleter für Kindler Kompakt die „Amerikanische Literatur. 20. Jahrhundert“ auszuwählen hatte, entfiel ihm Doctorow völlig, von dem sogar die DDR Notiz genommen hatte: ohne Marktdruck aus den USA.

5. Januar 2021

Der 100. Geburtstag von Dürrenmatt ist fast schon wieder vorbei, ebenfalls der 90. von Joachim Knauth, der immerhin auch Dramatiker war, wenngleich nicht annähernd mit der Wirkung des Schweizers. Interessant, wenn Zeit gewesen wäre, für mich an diesem Tag: Andrej Platonow, der vor 70 Jahren in Stalins Sowjetunion starb. Als ich dieser Tage den Bestand sichtete, den mein Archiv zu ihm enthält, stieß ich auf einen skandalösen Umstand: den der deutsch-deutschen Rezeption eines modernen Klassikers der russisch-sowjetischen Literatur: Mehr Ignoranz, mehr Ahnungslosigkeit, mehr dreistes Verschweigen dessen, was in der DDR zu und für Platonow geleistet wurde, ist kaum vorstellbar. Noch 20 und mehr Jahre nach der Einheit Deutschlands bejubelt das Großfeuilleton, das westlich ist und bleibt, das Erscheinen von Büchern, die in der DDR längst da waren, Urmutter des falschen Jubels an der falschen Stelle war Ilma Rakusa 1990.

4. Januar 2021

Glückliches Thüringen! Heute 12 Uhr waren immerhin schon 810 Menschen gegen Corona geimpft, was einer Quote von 0,4 pro 1000 Einwohner entspricht. Zum Vergleich: Mecklenburg-Vorpommern hat die Quote 7,1, das 18fache. In Bayern waren 66.258 an der Nadel, 53.841 in Nordrhein-Westfalen. Wir reden nicht von Israel, wo mehr als eine Million ihrem vorbestraften Ministerpräsidenten den Pieks nachahmte. Dafür stand gestern der Rückstau all jener Jenaer, Erfurter und Weimarer, die unbedingt nach Oberhof und wieder zurück wollten, in Ilmenau fest. Jetzt, wo wir nicht mehr die Alpen platt fahren dürfen, holen wir uns den Virus am heimischen Hang. Plärrte doch eine Vogtländerin in die Westfernseh-Kamera. Mosgn rongger, Lädn off, wänn mir Schischbringg, dann gänn a dä Lädn off. Deshalb liegt das Vogtland vorne, zum Glück nur am Rand von Thüringen, aber nah genug. Mosgn rongger! Kein Wort über Ferdinand von Schirach!

3. Januar 2021

Gestern füllte die „Literarische Welt“ eine ganze Seite mit Dürrenmatt, heute füllte die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ eine ganze Seite mit Dürrenmatt, wir werden sehen, wie viele Seiten in dieser Woche noch folgen werden. Mittendrin dann auch ich übermorgen, wobei ich lieber doch nicht auf „König Johann“ zurückgreifen werde, sondern auf: Überraschung. An diesem Sonntag begeht W. Michael Blumenthal seinen 95. Geburtstag, die „Berliner Zeitung“ erinnerte in ihrer Silvester-Ausgabe daran. Er lebt also tatsächlich noch, der ehemalige Finanzminister unter Jimmy Carter, der von 1997 bis 2014 Direktor des Jüdischen Museums in Berlin war. Seine Großmutter war die ältere Schwester von Arthur Eloesser und in seinem Buch „Die unsichtbare Mauer“ hat er aus genau diesem Grund ein ganzes Kapitel über ihn, weshalb ich dies Buch überhaupt nur kaufte. Falls er noch lebt, feiert heute Horst Redeker seinen 90. Geburtstag, einst mein Ästhetik-Professor.

2. Januar 2021

Der Anfang von gestern und vorgestern könnte auch der Anfang von heute sein, aber dies ist schon Sonnabend, der zweite Tag des Jahres, die alten Kalender sind in die Ablage gewandert oder im Papiercontainer gelandet. Weil gestern vor 250 Jahren die erste Nummer von „Der Wandsbecker Bote“ erschien und ich vor fünf Jahren vergeblich versucht hatte, etwas zu Matthias Claudius in die weite Netzwelt zu setzen, startete ich heute einen zweiten Versuch, diesmal über den Aufhänger Eloesser. In der „Vossischen Zeitung“ fand ich die Information, dass der Stadtrat in Weimar im März 1929 auf Antrag der Nationalsozialisten eine Theatersteuer für alle Bürger über 18 Jahre in Höhe von 6 Mark beschlossen haben soll. Die Stadtverwaltung wollte nur 3 Mark, der Beschluss fiel gegen die Stimmen der Linksparteien, die damals offenbar als Gruppe auch schon so genannt wurden. Wir Thüringer eben. Der Presseausweis für 2020 wanderte in meine Ausweissammlung.

1. Januar 2021

Wann zuletzt bin ich an einem Neujahrsmorgen in meinem Ilmenauer Bett erwacht, geweckt vom scharfen Schlagschatten, den mein unbekannter Nachbar aus der Kopernikusstraße an meiner Wand erzeugt, wenn er seine Flakscheinwerfer einschaltet, mit denen er am Morgen sein Wohnzimmer beleuchtet? Wir waren allein, haben aber nach Mitternacht ein wenig mit dem Smartphone etwas wie Bewegtbild-Telefonie betrieben, weil nur 50 Prozent der Gesprächsteilnehmer bei Skype sind und es war nett und hoffentlich einmalig. Im Outlook fanden sich einige nette Neujahrswünsche, aus Halle ein Gespräch mit einer Stadträtin, die ich seit 53 Jahren kenne. Sie schützt Bäume, ich habe vor fast vierzig Jahren welche gepflanzt mit Bürgern der DDR, die schon Professor waren oder später sich in solche verwandelten. Mit Christa Kozik bin ich tatsächlich fertig geworden, stellte zwei alte Sachen von mir zu ihr ans Ende meines Medienblicks. Und las mich ein wenig fest dabei.

31. Dezember 2020

Wann zuletzt bin ich an einem Silvestermorgen in meinem Ilmenauer Bett erwacht, geweckt vom scharfen Schlagschatten, den mein unbekannter Nachbar aus der Kopernikusstraße an meiner Wand erzeugt, wenn er seine Flakscheinwerfer einschaltet, mit denen er am Morgen sein Wohnzimmer beleuchtet? Wir sind allein und werden allein sein, wir werden einen Wachauer Wein trinken und gegen Mitternacht zu einem Crémant de Loire übergehen, den wir seit langem jedem Champagner vorziehen. Wir unternehmen auch an diesem letzten Tag des Jahres unseren täglichen Rundgang, Murmeltiere grüßen uns unterwegs leider nicht. Kurz nach 18 Uhr veranstaltet unsere Tankstelle ein waschechtes Höhenfeuerwerk, nicht übertrieben lang, aber dennoch sehr schön. Alle drei Zeitungen des Donnerstages lagen wie in guten Zeiten bereit. Eine davon hat einen Beitrag zum morgigen 80. Geburtstag von Christa Kozik, den ich nutzen werde, um ebenfalls ein paar Zeilen zu verzapfen.

30. Dezember 2020

Sterberekorde unter den Covid-Toten in Deutschland. Mediale Saure-Gurken-Zeit zwischen den Feiertagen gab es früher: Jetzt gibt es Impfungen. Man kann ganze Nachrichten-Magazine mit Impf-Bildern füllen: die erste Oma da, der erste Opa dort, da der Ministerpräsident selbst, dort eine junge Professorin. Auf den Färöer Inseln wurde versehentlich zuerst ein Schaf geimpft, pardon, das war natürlich Satire. Vor 25 Jahren starb Heiner Müller, der sich sicher weiter von allem amüsiert gefühlt hätte. Fünfzehn Jahre vor ihm starb Volker von Törne, der von der schönen neuen Welt so gar nichts mehr mitbekommen hat. Mein einziges Buch von ihm heißt „Ohne Abschied“, es sind Gedichte. Dann habe ich auch „Rezepte für Friedenzeiten“, da sind noch Nicolas Born und F. C. Delius mit drin. Früher hielt ich mich an die Westimporte, die im Sieb geblieben waren. Aber das war in einem anderen Land. Der erste Tag ohne Arthur Eloesser vor dem Frühstück, sehr seltsam.

29. Dezember 2020

Drei Stunden „Werk ohne Autor“ gestern. Grandioser Film. Wie sich die Sehweisen der Nazis auf entartete Kunst und der DDR-Kommunisten auf die Moderne in den fünfziger Jahren glichen. Wie die Düsseldorfer Moderne allen Vorurteilen beider Seiten Argumente lieferte und sie bestätigte. Wie die Kunstschwafler des Westens ihre jammervolle Ahnungslosigkeit für die Geschichtsbücher in Worte fassten: Kunst ohne biografischen Hintergrund: nach drei Stunden Biografie als Hintergrund. Brigitte Kronauer wäre heute 80 Jahre alt geworden, Monty Jacobs starb vor 75 Jahren. Sein „Ibsens Bühnentechnik“, 1920 im Sibyllen-Verlag Dresden erschienen, liegt auf dem Stapel meiner Ibsen-Bücher ganz oben. Seine Sammlung „Deutsche Schauspielkunst“ gehört zu meinen oft und oft benutzten Büchern. Neuerdings begegnet er mir fast täglich in der „Vossischen Zeitung“ als M. J. oder auch mit vollem Namen. Mehr Bücher als 2020 las ich zuletzt 2008 zu Ende. Sieht gut aus.

28. Dezember 2020

Ganze drei der 160 frühen Feuilletons, die Tina Krell von Arthur Eloesser sammelte, muss ich nur noch lesen, es hat sich über Wochen hingezogen. Zugleich wird die Zahl der Feuilletons, die wir selbst sammeln, von Tag zu Tag größer, vor allem Theaterkritiken finden wir. Zu Stücken und Autoren, von denen ich nie etwas hörte, ebenso wie zu den großen Namen der Jahrhundertwende um 1900. Mit meinem Theodore Dreiser bin ich tatsächlich fertig geworden, um sofort einen Sprung in eine ganz andere Zeit zu tun: zu Matthias Claudius. Nach zwei Anläufen zu ihm führt vielleicht der dritte zu einem Ziel. Werner Weber hat den hübschen kleinen Band in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur herausgegeben, der Platz neben dem DDR-Reclam-Band gefunden hat. Liest man, was Literaturwissenschaftler über das „Abendlied“ schrieben, muss man sie, anders als Sisyphos mit seinem Stein, als unglückliche Menschen sehen. Sie leiden unter Deutungszwang.

27. Dezember 2020

Es gab Jahre, da wir an diesem dritten Feiertag, der nie einer war, zur Ilmenauer Festhalle strebten, um dort den so genannten Ex-Pennäler-Ball zu frequentieren. Die Abiturjahrgänge waren nach Tischen vorsortiert, die stärksten Gruppen kamen immer aus den jüngsten Jahrgängen. 1973, als alle eben die Armee hinter sich hatten, war der 27. Dezember fast ein Klassentreffen. Später wurden es weniger und weniger, einmal waren wir auch mit zwei Jahrgängen in einer Familie vertreten: 1971 und 1996. In diesem Jahr wäre der Ball ohnehin ausgefallen, wie alles ausfiel. Keine Melancholie deswegen. Es gibt immerhin eine Zeitung an der Tankstelle, wir gönnen uns einen längeren Gang durch die Dunkelheit, wir telefonieren mit Dresden. Nein, wir bleiben bei unserem Entschluss, so schwer er uns gefallen ist. Ich greife der Abwechslung halber zu einem Theodore Dreiser, beginne sogar, etwas zu seinem morgigen 75. Todestag zu schreiben. Früher hätte ich das spontan genannt.


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