Tagebuch

3. März 2021

Die Panik von gestern hat sich gelegt. Die Blockade unserer Parkflächen fand eine Erklärung, die fehlende Information für die Anwohner fand eine Erklärung, ich rief selbst in Föritz an und sprach mit einer freundlichen Frau, die sich entschuldigte. Wir bekommen Glasfaserkabel vors Haus gelegt. Das Internet wird danach noch schneller, also schneller, also schnell, nachdem es lange langsam war. Wir begannen einst in dieser Wohnung noch mit Modem, ältere Bürger werden sich erinnern. Das war die Zeit, als sich Boris Becker freute, drin zu sein, wobei nicht abzusehen war, was er bei seinem Drinsein alles zeugte. Die Firma aus Föritz ist mit erstaunlichen Massen von Männern angerückt, Frauen sind keine dabei, das generische Dingsbums muss also nicht aus dem Halfter gezerrt werden. Reminiszenzen an jenen realsozialistischen Baubetrieb, der das Gelände um den Kindergarten in den Händen hatte: man saß sechs von acht Stunden in der Baubude bei Regen.

2. März 2021

Unser Mietvertrag für die neue Wohnung in der Keplerstraße datiert vom 1. März 1991, da hätten wir gestern also ein Etagenfest feiern können. Eingezogen sind wir da natürlich noch nicht, wir begannen aber, täglich einen oder mehrere Wäschekörbe voller Bücher aus der Kopernikusstraße am Kindergarten vorbei zu schleppen und alles im künftigen Arbeitszimmer zu stapeln. Was in der DDR unmöglich war trotz Anrechtsschein auf ein Arbeitszimmer: plötzlich war es möglich und wir hatten gar die Wahl zwischen mehreren Fünf-Raum-Wohnungen. Wir konnten der Genossenschaft beitreten, ohne Gräben schaufeln zu müssen vorher, was mir früher den Genossenschaftsgedanken schwer vergällt hatte. Das Schaufeln von Gräben gehörte und gehört zu meinen Erinnerungen an diese Nationale Volksarmee, die ihre jungen Männer mit kleinen Spaten ausstattete, Feldspaten genannt, mit denen das Graben noch widerlicher ausfiel als mit den größeren Spaten. Nie wieder!

1. März 2021

„Ich freue mich schon so auf den Frühling, das Einzige, was man nie satt kriegt, solange man lebt, was man im Gegenteil mit jedem Jahr mehr zu würdigen und zu lieben versteht.“ Schrieb Rosa Luxemburg am 14. Januar 1918 an Sophie Liebknecht, ihre „liebste Sonitschka“. Dass ihr nur noch ein Frühling blieb, einer im Gefängnis sogar weiterhin, ahnte sie sicher nicht. Mit ihren „Briefen aus dem Gefängnis“ bin ich fertig und verstehe sehr, warum trotz pompöser Aufmärsche in jedem Januar in der DDR diese polnische Jüdin irgendwie suspekt war. Sie fiel weder vor August Bebel noch später vor Lenin in Ehrfurchtsstarre. Sie war nicht Lenin minus X, X jeweils zu definieren nach Hauptlinie der Partei. Als Student der Humboldt-Universität hatte ich 1978/79 das Vergnügen, im Fach Geschichte der Philosophie eine Etappe nach Lenin vorgesetzt zu bekommen, die mit Luxemburg begann, obwohl die vor Lenin starb und auch noch Karl Korsch immerhin behandelte.

28. Februar 2021

Bis heute hat es gedauert, „Juden auf der deutschen Bühne“ zu Ende zu lesen, der gute Eindruck hielt sich bis zum Schluss: ich habe einen für mich neuen Arnold Zweig kennengelernt. Vor der Frage, was von oder über Rosa Luxemburg ich danach beginne, stand ich nicht lange: ich besitze ein schmales Büchlein aus dem Jahr 1946, doppelt gezeichnet vorn mit dem Eigentumsvermerk Osw. Ullrich. Das Büchlein heißt „Briefe aus dem Gefängnis“. Wer es kennt, braucht nicht das ewig missverstehende Geschwafel von der Freiheit der Andersdenkenden, das sofort aufdampft, wenn der Name irgendwo fällt, als hätte sie all die Hohlköpfe der Weltgeschichte gemeint haben können, die das Denken trotz Lippenbekenntnissen nicht den größerköpfigen Pferden überlassen wollten. Auch den Pferdinnen, muss man heute ergänzen. Hat Rosa eigentlich bisweilen das N-Wort benutzt, war sie wie Astrid Lindgren also Rassistin? Wie Karsten Laske dafür nicht? Die Forschung ist am Ball.

27. Februar 2021

Immer, wenn dieses Datum erreicht ist, macht es mich älter. Das wäre ein blöder Satz, denn auch jedes beliebige andere Datum macht mich älter, so lange ich noch nicht den Zustand von Rosa Luxemburg erreicht habe: noch ungeboren 150 Jahre alt zu sein. Ich teile den Tag mit Franz Mehring, welchem heute zum 175. Geburtstag zu gratulieren wäre. Ob er sich über ein Smartphone freuen würde, weil er dann Rosa Luxemburg in seine Whatsapp-Gruppe aufnehmen könnte, hat die Forschung noch nicht erörtert, ich jedenfalls habe mich gefreut, was nichts damit zu tun hat, dass ich unlängst mein Dampf-Handy in den Elektroschrott werfen musste, weil der Betreiber es mir abgeschaltet hatte wegen hartnäckiger Nichtnutzung. Jetzt aber werde ich es nutzen: ich werde mir die Pflanzenerkennungs-App herunterladen, um hinfort jeden Mispelzweig identifizieren zu können. Ansonsten steht Gelber Muskateller kalt von Ilse Mazza und etwas Roter zum Nachspülen.

26. Februar 2021

Die dicke Rosa-Luxemburg-Beilage der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist genial redigiert. Unter der Überschrift „Eine Sozialistin wird 150“ beginnen Dagmar Enkelmann und Daniela Trochowski so: „Am 5. März 2021 – so nimmt die Forschung an – wurde Rosa Luxemburg geboren.“ Das muss man erst einmal können: den Geburtstermin so exakt voraussehen. Dafür sind die Verfasserinnen (kein Mann dabei, schon gar kein alter weißer) eben Verfasserinnen. Was für eine Forschung ist es denn, die Geburtstermine für seit 100 Jahren Tote annimmt? Harmlos dagegen das Sammelwerk „Juden im deutschen Kulturbereich“, das noch in der zweiten Auflage von 1959 Luxemburg gleich zweimal ein Jahr älter machte. Immerhin wissen wir nun, dass eine Ungeborene bereits so viel geschrieben hat, dass es für sieben Bände in neun Büchern reicht, die bald auch digital zu lesen sein werden. Shaftesbury, heute vor 350 Jahren geboren, hätte sich scheckig gelacht: oder doch geweint?

25. Februar 2021

Eine erste recht dicke Rosa-Luxemburg-Beilage purzelte heute aus einer Zeitung, die ich im Regelfall an Donnerstagen im Kasten habe, weil sie den Freitag im Titel führt. Der Dichter und Verleger Lawrence Ferlinghetti ist einen Monat vor seinem 102. Geburtstag gestorben, er war, wie doppelt zu lesen in meinen heutigen Blättern, eine Beatnik-Legende. Man sieht an dieser nicht näher kommentierten Formulierung, dass auch die Nachruf-Verfasser dem Durchschnittsalter bestimmter Schildkröten bei Hagenbeck und in anderen Zoos bedenklich nahekommen. Was um Himmels willen war ein Beatnik? Derweil wird selbst der junge Hüpfer Franz Xaver Kroetz heute schon 75 Jahre alt und wenn man an seine Skandale denkt mit „Stallerhof“ und dergleichen, denkt man in der ehemaligen DDR auch an die lustige Zeit zwischen dem 7. und dem 8. Parteitag der SED, da gab es noch Kybernetik und Systemtheorie. Das ist heute so exotisch wie die DDR selbst.

24. Februar 2021

Weil heute schon der CICERO für März im Briefkasten liegt, darf ich ihm attestieren, wohl das vorerst letzte größere Feuilleton-Stück über einen Roman einer Dame mit dem leidlich seltsamen Namen Hengameh Yaghoobifarah zu präsentieren. Man muss diesen Roman nicht mehr lesen, weil alle, aber auch wirklich alle sich für nennenswert haltenden Feuilletons ihn in einem Umfange ins Blatt gezerrt haben, dass einem der Atem stocken sollte. Alles nur einer saugeschickt lancierten taz-Kolumne wegen? Wer faselt noch von medialer Unabhängigkeit, wenn alle im Gleichschritt traben und das Schreibmädel sich vermutlich in zwei Fäustchen kichert, wie sie dem Schweine-Markt eins wischte. Ein suchmaschinenfester Name reicht nicht, das Verfahren mit natürlich nicht inszeniertem Skandal dagegen ist alt wie eine kalifonische Korkeiche. Lieber hätte ich über Oskar Loerke oder Ludvik Askenazy geschrieben, 80 Jahre tot der eine, 100. Geburtstag der andere. Und Hengameh?

23. Februar 2021

Coronafern von uns und folglich auch ohne uns feiert heute unsere Lieblings-Tina einen Geburtstag, dessen Rundung sie selbst als gewöhnungsbedürftig bezeichnet. Wir zeigen tiefes Verständnis für diese Sichtweise, weil wir selbst diese Rundung bereits hinter uns haben und der nächsten Rundung massiv näher rücken. Wir haben uns angewöhnt, einen gewissen Grundoptimismus an den Tag zu legen, dessen Gegenteil wir denen überlassen, die daraus ein Geschäftsmodell entwickelt haben. Was helfen uns die Zahlen, wenn wir sehen, dass das vor nicht langer Zeit impftrübe Thüringen jetzt zum Impf-Spitzenreiter mutiert, während die Inzidenz für sieben Tage fast doppelt so hoch ist wie bei den Inzidenz-Spitzenreitern. In meinem Archiv habe ich nach John Keats geschaut, der vor genau 200 Jahren starb und siehe: ich besitze nur Material aus der Neuen Zürcher Zeitung zu ihm und das gute alte Leipziger Reclam-Buch mit den Briefen. Und vor zehn Jahren starb Gustav Just.

22. Februar 2021

Je frühlingshafter das Wetter am Nachmittag, desto weiter unsere Gänge, der heutige begann mit dem Blick auf eine mit Kreide geschriebene Tafel: das „Schlemmerstübchen“ verabschiedet sich. Ruhestand für die Betreiber, für uns wieder ein Ort weniger, wohin wir gelegentlich gern essen gingen, als wir noch essen gehen durften. Drin winkte es, als wir durch die Scheibe schauten, es ist eben auch traurig. Ein Mann im Rollstuhl, der früher unser Nachbar war, 30 und mehr Jahre ist es her, begrüßte uns auf dem Fuß- und Radweg oberhalb der Bahngleise. Ein Wesen, das nicht Mann und nicht Frau sein will und den Namen Lann Hornscheidt trägt, will einem Millionen-Sprachraum eine neue und völlig idiotische Kunstsprache aufdrücken, die allem, was Literatur war seit Walter von der Vogelweide, den Garaus machen würde. Es finden sich Menschen, die das unterstützen. Bis die den Sieg errungen haben werden, darf noch gedichtet werden, danach ist jeder Vers hinfällig.

21. Februar 2021

„Nicht schon wieder Schiller!“ schrillt die Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung heute. Man sieht kanarienvogelgelbe Reclam-Hefte aus Stuttgart, beschmiert und verziert sind einige mit offenbar überall üblichem Schüler-Unfug. Man kann die Autorennamen sehen: Lessing gleich zweimal, einmal Fontane, einmal Schiller („Maria Stuart“), einmal Sophokles, „Antigone“, kaum zu erkennen, schließlich ein Goethe, ein Wilhelm Hauff, identifizierbar auch der nicht ohne alle Mühe. Unter genannter Überschrift steht noch: „Im Homeschooling kehren auch die Schrecken der Schullektüre zurück“ und es gibt einen Verweis auf das Feuilleton. Dort füllt dieses, wie sein Name schon sagt, mehr als eine ganze Seite. „Wer Kinder hat, darf manche dieser Meisterwerke im Homescooling jetzt wieder lesen. Andere sind froh, das nie mehr tun zu müssen.“ Der Grauen des alten Westens: meine Eltern wären nie auf die Idee gekommen, meine Schul-Pflichtbücher zu lesen.

20. Februar 2021

Zwei Jahre ist es her, da ich mir, als Kostprobe gewissermaßen, „Der Herrscher“ vornahm, das ist eines der kürzesten Stücke von Eugéne Ionesco, ich las es und dann kam so vielerlei dazwischen, dass nicht einmal für ein paar Notizen Zeit blieb. Es geht um einen Herrscher, der keinen Kopf hat, wohl aber einen Hut, „das ist leicht darzustellen“, schrieb Ionesco in seine Regiehinweise. Der einst modische Ansager des Stückes verrät: „Er braucht keinen, denn er hat Genie!“ Mehr braucht man kaum zu sagen, wenn es um absurdes Theater geht. Dennoch habe ich mir den heutigen siebzigsten Jahrestag der französischen Uraufführung von „Die Unterrichtsstunde“ zum Anlass genommen, ein ungeplant langes Stück Text zu fabrizieren, mehr als 3500 Wörter an einem Sonnabend, schon am zeitigen Morgen begonnen, nicht lange vor Mitternacht beendet. Und nebenbei noch mehr als 10.000 Schritte gelaufen. Eine lange Runde, die wir wegen Schnee und Nässe bis heute mieden.


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