Tagebuch

1. Mai 2021

Und heute, man ahnt es kaum, sind wir runter vom Podest, ich habe einen Impftermin am 8. Mai, den ich dann mit mehr Grund als Tag der Befreiung werde begehen können. Ich muss halt nur zu einer Zeit, wo ich normalerweise langsam, aber sicher meinen Fernsehsessel zurechtrücke, um den Krimi meiner Wahl zu sehen, im Impfzentrum Meiningen antreten. Das wird mir die Chance geben, den Ort zu sehen, in dem meine Eltern, lang ist es her, ihr Lehrerstudium absolvierten, wobei sie sich kennenlernten. Den Ort auch, wo wir meinen Schwiegervater hie und da im Krankenhaus besuchten. Heute können wir die Autobahn benutzen. Damals war es noch umständlicher. Neu im Spazierplan des Jahres der Weg via Berufsschulzentrum am Kirchhoff-Bau der TU vorbei bis zum Schützenhaus und dann ins Teichgebiet. Das sind wir natürlich schon öfter gegangen, aber 2021 noch nicht. Den Impftermin per WhatsApp eitel hinausposaunt in die in die uns befreundete Welt.

30. April 2021

Das Schöne an gut programmierten Smartphones und damit verbundenen Fitness-Armbändern ist: sie erinnern aufdringlich unaufdringlich an Geburtstage, die man auf keinen Fall vergessen darf. Es sind jene Geburtstage, die auch händisch schon in alle Kalender eingetragen sind, die verschiedene Wände der Wohnung zieren. Und dann erwische ich das Geburtstagkind an seinem 68. Geburtstag auch noch und wir machen einen Plausch über dies und jenes. In unserem Alter lautet eine Frage an die jeweils anderen: Bis du schon geimpft? Natürlich nicht, wie auch. Wir leben in Thüringen, der Ilm-Kreis hat heute zum zweiten Mal den dritten Platz in der Inzidenz-Hitparade inne, was er in all den vielen bisherigen Corona-Monaten seit vorigem Jahr nie schaffte. Greiz ist raus aus den Rängen, die eine Medaille bringen. Dafür sind wir gestern beinahe getestet worden, obwohl wir uns gar nicht testen lassen wollten. Dafür aßen wir je zwei Kugeln Eis aus dem Becher ohne Maskerade.

29. April 2021

Falls ich in den 68 Jahren meines Lebens nichts verpasst habe, dann würde ich meinen, dass die „Neue Nationalgalerie“ in Westberlin nie eine von vielen neuen Galerien in Westdeutschland war, denn Westberlin war nie Teil von Westdeutschland, brauchte aber nach dem Mauerbau allerlei, was nun der Osten allein hatte. Immerhin, eine neue Museumsinsel legte man nicht erst an. Die Berliner Zeitung von heute müsste es besser wissen, weil sie ja nie der Tagespiegel war, dem man gewisse Ahnungslosigkeiten vielleicht unterstellen könnte. Dafür schreibt Christian Schubert aber einen Leserbrief aus Köpenick und einen aus Friedrichshain und die Berliner Zeitung druckt beide ab, was schon wieder niedlich ist. Für Liefers und Co. setzen sich mittlerweile auch diverse vernünftige Leute ein, darunter ein Boris Palmer, den die Grünen wohl irgendwann vor die Tür setzen werden. Ob die SPD diesen Rundfunkrat-Trottel entlässt, dessen Name zu vergessen ist? Man ahnt es nicht.

13. März 2021

Berlin: Wolfgang Kohlhasse wird heute 90 und ist plötzlich in manchen feinen Feuilletons der bedeutendste aller Drehbuchautoren nach dem Kriege. Gestern hatte Hermann Hettner seinen 200. Geburtstag und ist vergessen. Immerhin: ein dickes Buch mit dem Titel „Schriften zur Literatur“ benutze ich gelegentlich, auch in seinen Briefwechsel mit Gottfried Keller schaute ich nicht selten hinein. In Berlin sehen wir nach längerer Pause wieder einmal die Dahlmannstraße. Nur an der 32 kann man noch ungefähr erkennen, wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auch die 29 aussah, in die das Ehepaar Arthur und Margarete Eloesser 1908 einzog, um nach 25 Jahren wenig freiwillig zum Lietzenseeufer zu wechseln. Am Ende des Tages zeigt mein Schrittzähler mehr als 16.000 Schritte an, das ist natürlich Rekord in diesem Jahr. Warum die Züge auf dem Hauptbahnhof nie in der angegebenen Wagenreihung einfahren, weiß ich nicht. Dafür sind sie heute maurerpünktlich.

12. März 2021

Unser Bundestrainer will nach der Europameisterschaft nicht mehr Bundestrainer sein. An solchen Tagen wird das Wort Respekt aus der Vorratskammer geholt, wo es stets in Griffweite steht und glänzt, weil es ein wenig abgegriffen ist wie Julias Brust in Verona, an die alle tatschen. Noch ist an Gender-Lehrstühlen die Frage nicht aufgeworfen, ob nicht neben dieser Julia ein Romeo-Pimmel aus Messing glänzen müsste wegen der Gleichstellung. Wir ahnen noch nicht, was eines Tages an den Diversen-Skulpturen glänzen wird, ich werde es wohl nicht mehr erleben. Morgen fahren wir in aller Frühe in die Bundeshauptstadt, wo wir Verwandte ersten Grades besuchen werden. Wir haben Sitzplätze reserviert für die Hinfahrt wie auch für die Rückfahrt, weil es mit dem Übernachten halt nicht so geht, wenn unsere zweieinhalb Lieblings-Hotels zwangsweise geschlossen haben. Wir werden noch vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Mit leichterem Gepäck als auf der Hinreise.

11. März 2021

Der gute Vorsatz, Bücher zu Ende zu lesen, in denen ich bisweilen vor Jahren begann und dann das Lesezeichen stecken ließ, wird nicht dadurch schlechter, dass ich ihm selten mit voller Konsequenz nachgehe. Immerhin: die „Erläuterungen und Dokumente“ zu Max Frischs „Andorra“, grün und schmal aus dem Stuttgarter Reclam-Verlag, die sind heute endlich ins Regal gewandert, zu denen, die dort immer stehen, so lange sie nicht auf einen Lesestapel wandern. Janosch, der heute 90 Jahre alt wird, hat uns im ZEIT-Magazin lange begleitet, ehe er seinen Abschied einreichte. Wenn vor zehn Jahren nicht ein Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima geflutet hätte, kämpften unsere Grünen noch immer gegen die Atomkraft und die armen Kohlenbergwerke wären noch nicht zum finalen Rettungsschuss freigegeben. Wenn Atom und Kohle weg sind und der Strom nur noch aus der Steckdose kommt, werden wir ein gutes Gewissen haben, das Klima wird sein wie jetzt auch.

10. März 2021

Jubiläen haben etwas. Wahrscheinlich haben sie in ereignisarmen Zeiten sogar noch mehr als etwas. Gestern vor einem Jahr die ersten deutschen Corona-Todesfälle, heute vor fünf Jahren soff der liebe Leitzins auf null Prozent ab. Inzwischen verlangen Banken bereits eine milde Spende über alle Gebühren hinaus, wenn sie unsere Möpse aufbewahren. Gestern wurde Christian Friedel 42 Jahre alt und wir sind immer noch traurig, dass sein Dresdner Macbeth im Corona-Meer ersoff. Ich werde ihn wohl, bis meine Leselampe ausgeblasen ist, immer im Bademantel über die Staatsschauspiel-Bühne schlurfen sehr, das war ein „Käthchen von Heilbronn“! Aus dem gestern zu Ende gelesenen Büchlein „Dramaturgisches. Ein Briefwechsel“ von Max Frisch und Walter Höllerer diese kleine Kostprobe: „Wer von der Literatur erwartet, dass sie das Weltbild bestimme, wird also von einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl nicht verschont bleiben.“ Nichts erwarten erspart Enttäuschung.

9. März 2021

Je vollständiger ein Kalender ist, der mögliche Schreibanlässe sammelt, ich beginne immer so etwa im August des Vorjahres mit seiner Aufstellung, um so heftiger überwiegt das Bedauern mögliche Selbstzufriedenheit, zumal wenn man auf seine alten Tage noch waschechte Forschung betreibt gegen ein geringes Entgelt. Also: ich lasse die Träne zu Boden tropfen, die ich dem gestrigen 80. Todestag von Sherwood Anderson nachweinte und hätte mich so schön über meine Missstimmung verbreiten können, dass die „Berliner Zeitung“ damals meinen Brecht-Bezug ausrottete. Was ja vielleicht auf Gisela Herrmann höchstselbst zurückzuführen war. Wer Honeckers Schwiegersohn als Diplom-Gutachter hatte, muss solche Talsohlen durchschreiten, lichten Horizonten entgegen. Später strich mir ein Chef aus Bielefeld eine Kritik an der Dresdner Bank, wie gar keine war, aus dem Text, weil das unsere Hausbank war. Meinem Staatsbürgerkundelehrer hätte ich das nie geglaubt.

8. März 2021

Passend zum Internationalen Frauentag, an dem einzig die Berliner zu Hause bleiben dürfen, ist der heutige Namenstag der Tag des Johannes. Die Vereinigung der Genderlehrstühle sollte einen Aufruf starten, dieser einseitigen Bevorzugung eines Cis-Mannes an gerade solchem Feiertag ein Ende zu machen. Immerhin steht der Internationale Frauentag nicht mehr unter dem westdeutschen General-Verdacht, eine Erfindung kommunistischer Gewalttäter vorwiegend männlichen Geschlechts zu sein, selbst die gute alte Clara Zetkin findet hier und dort diskriminierungsfreie Erwähnung. Zur Sicherheit heißt es jetzt Weltfrauentag, bleibt aber am 8. März erhalten, während die lieben Kleinen, die unter der Diktatur am 1. Juni Bockwurst essen mussten auf Staatskosten, jetzt bis September warten müssen, dann ist nämlich Weltkindertag. Manche feiern gleich zweimal: was auch nicht schlecht ist. Erstaunliche Bilder unseres aufgerissenen und bald wieder geschlossenen Bürgersteigs.

7. März 2021

Nun steht „Rosa Luxemburg 150“ im Netz. War mehr Arbeit, als ich dachte vorher. Ich fand aber während dieser Vorarbeit eine Menge interessante Texte, vor allem in der alten „Weltbühne“, die mehr und mehr zur wunderbaren Originalquelle wird. Vor 50 Jahren gab es im WDR erstmals die „Sendung mit der Maus“, die uns erst ein paar Jahre später Woche für Woche zu begleiten begann. Wir fanden die wunderschönen Lieder immer am besten und natürlich die Erklärungen zur Sache. Das war das jahrelange Ritual: Montag bis Mittwoch Sesamstraße, Donnerstag die Sendung mit der Maus und am Freitag Hallo Spencer. Wenn man seine Kinder im Abstand von sechs Jahren in die Welt setzt, hat man sogar systemübergreifend das Vergnügen, Kontinuität zu wahren, obwohl sonst alles den Bach runter in die Freiheit geht. Zwei Westprogramme und drei Dritte hätten uns gereicht, aber dazu kam noch Lederhosensex auf Sat1 und Tutti-Frutti auf RTL, was jede Revolution lohnte.

6. März 2021

Den mehr als 12.000 Schritten gestern folgen heute zweitausend weniger, ich bin aber immer noch zufrieden. Das vierte Mal in einer Woche leuchtet auf dem Armband die frohe Kunde: Schrittziel erreicht. Das stachelt tatsächlich den Ehrgeiz, wie ich es nie geglaubt hätte. Unsere gemeinsamen Runden am späteren Nachmittag sind fast schon rituell, die üblichen Verdächtigen, die aus ihren Fenstern schauen und winkend grüßen, werden wohl eher an unserem Verstand zweifeln als unsere Ausdauer bewundern: Bei Wind und/oder Wetter laufen wir. Zum Glück sind unterschiedliche Strecken im Programm. Die emsigen Arbeiter sind sogar am Sonnabend aktiv, es scheint eine sehr eingespielte Logistik hinter allen Abläufen zu stecken, die Meckerer der ersten Tage sind längst nur noch neugierige Zuschauer. Vor 40 Jahren erschoss Marianne Bachmeier den, wie es juristisch sauber heißt, mutmaßlichen Mörder Klaus Grabowski ihrer siebenjährigen Tochter. Wurde verfilmt.

5. März 2021

Die Frau im Zeitungsladen staunt immer über meinen Kaufeifer, letztlich will ich aber nur fürs Archiv auch Originale haben, die Ausdrucke, falls man denn nicht von einer Bezahlschranke ausgebremst wird, die ausgerechnet von den armseligeren Blättern am höchsten gehängt werden, strapazieren meinen uralten Drucker über Gebühr. In einem jahrelang friedlich auf einem meiner sich zum Leidwesen meiner Frau mehrenden Stapel ruhenden Buch, Titel „Revision. Denker des 20. Jahrhunderts auf dem Prüfstand“ finde ich einen Beitrag von Peter Glotz, dem meine besonderen Sympathien niemals galten, schon allein deshalb, weil er als Gründungsrektor in Erfurt an einer sehr wenig nötigen Konkurrenz für die Ilmenauer Hochschule beteiligt war. Hier aber, zu Luxemburg, war er sehr klug, sehr eindrücklich. Mein Text zu ihrem 150. Geburtstag braucht doch noch etwas, es wird sie ohnehin nicht stören, ich aber habe lieber ein gutes als ein schlechtes Gefühl dabei.


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