Tagebuch

25. November 2023

Beinahe hätte ich heute über Anthony Burgess geschrieben, in der irrtümlichen Annahme, er sei am 25. November 1993 gestorben. Ist er aber nicht, da war er nämlich schon drei Tage tot. Immerhin, ich darf auch heute verraten, dass ich „A Clockwork Orange“ nie vollständig ansehen konnte, es gehörte in Zeiten der in jeder zweiten Garage aufblühenden Videotheken nach 1990 zu den ersten Werken, die ich mir auslieh. Es nervte mich, ich fand die allgemeine Begeisterung, die ja vor allem auf Stanley Kubrick gemünzt war, der aus dem Buch einen Film gemacht hatte, übertrieben, und zwar heillos. Aber das kannte ich schon von der „Rocky Horror Picture Show“, im Westen Kultfilm, für mich nur verklemmter Mumpitz mit Strapsen. Wobei ich Susan Sarandon bis heute mag. Von Burgess gibt es auch eine Hemingway-Biographie, die ich im September 2011 las und eine „Kleine Kulturgeschichte des Liegens“, Titel „Wiege, Bett und Récamier“, die ich bis heute noch nicht las.

24. November 2023

Und heute Schnee. Erst krümelig als Graupelschauer, während ich in täglicher Bravheit Altglas zu den Containern trage, was den Grundstein legt an Schritten via 10.000. Später dann Flocken wie im Schöpfungsplan für Winteranfänge vorgesehen. Wir werden morgen Schnee fegen müssen. Unsere hochverehrten Grünen klatschen am lautesten, wenn die Abschaffung der Schuldenbremse gefordert wird. Geld ausgeben, das nicht da ist, war immer ein rosarotes Phänomen. Der ganze Sozialismus ging nicht zuletzt zugrunde, weil er ständig nicht vorhandenes Geld ausgab. Kann man Sozialismus auch in einem Land aufbauen, hieß einst die falsch mit Ja beantwortete Frage. Jetzt versucht Grün-Rot, den Kapitalismus eines einzelnen Landes zugrunde zu richten, dem immerhin die Möglichkeit bleibt, das Land zu verlassen. Der Bevölkerung wird das kaum gelingen. Sie muss dableiben. Die Nachhaltigkeitsschwätzer vererben Schuldenberge, dieses Erbe kann man leider nicht ausschlagen.

23. November 2023

Nach einer gewissen Zeit werden auch eigene Tagebücher zu fremden. Ich könnte demnach, würde ich ein Buch schreiben mit dem Titel „In fremden Tagebüchern unterwegs“, durchaus bei mir selbst wildern, nachdem ich aus zahlreichen Tagebüchern, die ich besitze, den gedruckten, den von Hand geschriebenen, kräftig zitiert hätte. Am 23. November 1998 etwa produzierte ich in Ilmenau meine allererste Mac-Seite, der gute alte Linotype-Kasten wurde demontiert und mir wuchs das Programm QuarkXPress so ans Herz, dass ich ihm lange nachtrauerte, als ich später an hauseigene Redaktions-Systeme gezwungen wurde, die unfassbar teuer waren, nichts erleichterten, dafür aber wenigstens mit dem Internet verbunden erschienen. Lang ist es her. Ich sehe, dass das Programm in der 2023er Version immer noch gängig ist, könnte es sogar bei mir laufen lassen. 1990 schrieb ich noch alles mit Schreibmaschine, mechanisch mit Breitwagen, an die elektrische ließ ich mich sanft zwingen.

22. November 2023

Heute lobe ich mich einmal selbst, wenn mich sonst schon niemand lobt. Am 22. November 2013 stellte ich einen Text ins Netz mit dem Titel „Aldous Huxley: Reisebilder“. Ich postierte ihn in die Rubrik JAHRESTAGE, denn es war der 50. Todestag von Huxley, woraus für heute messerscharf folgt: es ist der 60. inzwischen. Ich finde meinen alten Text noch immer ziemlich gut und bin aus diesem Grund nicht traurig über mich selbst, wenn ich für einen neuen eben gerade keine Zeit finde. Ich denke ein wenig an meinen alten Freund Reinhard Escher, dessen 20. Todestag sich in aller Stille näher schleicht, der mir einst „Ape and Essence“ in die Hände drückte, leihweise natürlich nur, es war ein rares Ding damals. Wahrscheinlich habe ich das auch schon irgendwo geschrieben, ich nehme die Wiederholung in Kauf. Vor 50 Jahren hatte ich meinen ersten Tag allein in meiner Bibliothekszweigstelle, Sektion MARÖK, ganz oben im Block G, die volle Telefonverantwortung.

21. November 2023

Besäße ich weiße Archiv-Handschuhe, müsste ich sie stets überstreifen, um mein Exemplar von „Verrohung in der Theaterkritik“ sorglos zwischen die Finger nehmen zu können. Die Klammer-Heftung stammt aus dem Jahr 1902 und ist rostig, die Ecken und Kanten, so weit man von solchen sprechen kann, sind bestoßen. „Zeitgemäße Betrachtungen“ nannte Hermann Sudermann seine 56 Seiten umfassende Polemik, der Rücken ist bereits abgefallen, liegt nur lose dabei. 60 Pfennig wollte der Verlag J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, so der korrekte Name, fürs geheftete Exemplar einst haben, mich hat die Erstausgabe ein paar Pfennige mehr gekostet. Aber ich las im Lauf der Jahre so viele mehr oder minder vernichtende Kritiken zu Sudermanns Werken, dass es mir als Akt ausgleichender Gerechtigkeit erschien, auch seine Stimme zum Thema zu besitzen. Er starb am 21. November 1928, da war meine Mutter 40 Tage alt, kam immerhin auf 71 Lebensjahre.

20. November 2023

Zu späterer Stunde gestern, den Tatort hinter mir, den Regen draußen auf dem Fensterbrett, stieß ich beim Abschreiben einiger Zitate aus einem Buch, das ich vor mehr als 43 Jahren las, auf das Wort Anorak. Schau doch mal, was das eigentlich ist in den Augen unabhängiger Suchmaschinen, sagte ich mir und siehe: jüngeren Menschen wird erklärt, dass das ein Old-scool-Wort ist. Wer es benutzt, ist demzufolge alt, was ich nicht leugnen kann. Die dünnere Variante des Anoraks heiße Windjacke, die dickere und längere Parka. Parka-Träger beneidete ich als junger DDR-Mensch früher, die Träger von Windjacken nie und wenn mir jemand gesagt hätte, dass das Wort von den Inuit stammt, hätte ich glatt gestutzt: Wie schmuggelte sich Eskimo-Vokabular in die gut gesicherte Republik der Arbeiter und Bauern und der mit ihnen verbündeten Schichten? Ich werde dem Problem weitere Lebenszeit nicht widmen. Komm nu, Werner, sagt mein Namensvetter im Film, die Zeit ist kuaz.

19. November 2023

Aus gewöhnlich gut unterrichteten Berliner Kreisen, die in vollständiger Familienrunde das Spiel Deutschland gegen Türkei verfolgten, verlautet, dass selbst Stadion-Betreiber nach erfreulichen Anfangsminuten abkackten, die Kombination von Bratwurst und Bier, sonst im Olympia-Stadion lange bis längste Schlangen erzeugend, lockt unsere Freunde vom Bosporus nicht. Die kommen zu ihrem Heimspiel zu Fuß, mit der S-Bahn oder auch mit ihren Autos aus ganz Deutschland, was an ihren Kennzeichen, weshalb sie so heißen, gut kenntlich wird. Da es von ihnen innerhalb unserer schlecht bewachten Außengrenzen mehr gibt als Sachsen, fast so viele wie Niedersachsen, ein Mehrfaches aller Saarländer, darf die Welt als in Ordnung abgehakt werden. Die Zahl derer, die Deutschland noch immer als nennenswertes Fußball-Land sehen, verhält sich reziprok zur gefühlten Durchschnittstemperatur unter dem Vorsitz des Klimawandels. Auf nach Österreich, auf nach Wien.

18. November 2023

Es ist „Tag der offenen Tür“ im Kindergarten nebenan. Wir sind vorgewarnt worden, unser Auto bis 13 Uhr möglichst nicht zu bewegen, sonst könnten die Besucher auf den Gedanken kommen, dass die Schilder „Mietparkplatz“ für sie nicht gelten. Die Vorwarnung kam nicht aus dem Kindergarten, natürlich nicht. Natürlich kommen in die Keplerstraße seit Jahren auffallend viele Analphabeten, die einfache Schilder nicht lesen können. Wer also glaubt, es gäbe in Deutschland gar keine der Schrift Unkundigen, der sollte es hier auf einen Test ankommen lassen. Diese Bürger nehmen auch keine Notiz von der begrenzten Parkzeit da, wo das Parken erlaubt ist. Dort gibt es Strafzettel sogar für Anwohner, wenn das Ordnungsamt Ausgang hat. Manche Anwohner greifen stracks zum Mittel der Nötigung. Man könnte an ihre Flächen den Warnhinweis anbringen: Achtung, bissige Besitzer. Das Schild müssten Übeltäter dann allerdings auch erst wieder lesen, was eine anstrengende Übung ist.

17. November 2023

Das erste Buch, das ich mir von Doris Lessing kaufte, hieß „Afrikanische Tragödie“, es erschien in der Reihe „Taschenbibliothek der Weltliteratur“, in der der Aufbau-Verlag Berlin und Weimar manch feines Buch herausbrachte. Viel ist später nicht mehr nachgekommen: „Die Memoiren einer Überlebenden“, „Unter der Haut“ und zuletzt ein Band „Gespräche“. Sie war fast 88 Jahre alt, als sie den Nobelpreis für Literatur erhielt, das Fernsehen zeigte sie auf einer Treppe sitzend und anders als bei manch anderer Zuerkennung gab es keine ernsthaften Proteste. Drei Jahre davor sah das bei Elfriede Jelinek anders aus. Dennoch hielt ich über Jelinek damals einen Vortrag, nicht mehr über Lessing. „Nichts ist langweiliger für eine intelligente Frau als endlose Zeit mit kleinen Kindern zu verbringen.“ Darf man bei WIKIPEDIA über sie lesen. Joyce Carol Oates besuchte sie 1972 in London für ein Interview. Am 17. November 2013 starb Lessing in London: 10 Jahre weg seither.

16. November 2023

Am 16. November 1998 war ich im Rahmen meiner schon fünften Brüssel-Reise wie immer zu Gast bei der NATO. Es gab eine neue Pressefrau namens Steffi Babst, Jahrgang 1964, offiziell „German Information Officer“, es gab einen hohen General Wittmann, von dem ich erstmals das Wort Friedensdividende hörte, „und es ist auch wieder eine vorlaute Oma da, die die Geduld der Referenten auf die übliche Probe stellt“. So mein altes Tagebuch. 25 Jahre vorher endete der 73er Schriftstellerkongress, die Arbeitsgruppenleiter berichteten aus ihren Arbeitsgruppen, Max Walter Schulz nannte Gabriele Eckart „Jahrgang 1953“, obwohl sie doch Jahrgang 1954 ist und deshalb bald 70 wird, wie ich es schon bin. Am 16. November 1943 bestieg Georg Hermann den Transport vom KZ Westerbork in Holland gen Auschwitz-Birkenau, wo er als einer von 531 Männern, Frauen und Kindern sofort ins Gas geschickt wurde. Als Todestag gilt allgemein der 19. November 1943.

15. November 2023

Am 15. November 1973 diskutierten die Arbeitsgruppen innerhalb des Schriftstellerkongresses, es gab deren vier. Geleitet wurden sie von den Herren Gerhard Holtz-Baumert, Max Walter Schulz, Günter Görlich und Rainer Kerndl (wie unbelastet alle vier waren, kann man bei Joachim Walther nachlesen). Sie hießen „Literatur und Wirklichkeit“, „Literatur und Geschichtsbewusstsein“, „Literatur und Leser“ sowie „Literatur und Kritik“. Bei Max Walter Schulz diskutierte Gabriele Eckart mit, damals eine junge Philosophie-Studentin, die kürzlich ihr neues Buch „Schrappel“ mit Geschichten und Gedichten herausgebracht hat, die sehr autobiografisch in die damalige Zeit zurückleuchten. „Wir müssen unsere eigenen Widersprüche gewissermaßen lieben“, sagte sie 1973, was wohl in kaum einem Ohr erhofften Klang erzeugte. Wer liebte schon Widersprüche, nur weil sie die Entwicklung angeblich vorantrieben? Man erfand eigens nichtantagonistische Widersprüche.

14. November 2023

Vor 50 Jahren, am 14. November 1973, las ich den allerersten Leserbrief zu einem Gedicht, das von mir gedruckt worden war. Aus Budapest kam ein Brief, abgestempelt am 10. November, in dem Ildi meine Geschichte aus der „Armeerundschau“ lobte, die ich ihr stolz wie ein Kleinspanier geschickt hatte. Ich begann in einer Dissertation zu lesen, die ein Horst Oswald verfasst hatte, Titel „Literatur, Kritik und Leser. Eine literatursoziologische Untersuchung“. Der Leserbriefschreiber hieß Hans-Peter Rietz. Am 14. November 1973 begann in Berlin auch der VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, von dem ich mir später das zweibändige Protokoll kaufte. Die beiden Vorgänger-Kongresse waren noch als Deutsche Schriftstellerkongresse ausgewiesen, der VI. mit dem unsäglichen Hauptreferat von Max Walter Schulz, das ich Anfang Januar 1977 mit Entsetzen las. 1973 referierte dann Hermann Kant, meine Randglossen fielen weniger üppig aus.


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