Tagebuch

16. Februar 2022

Seine Goethe-Biographie war eine der ersten, die ich komplett zu Ende las. Mein Exemplar gehört zur 4. Auflage von 1977, am 20. August 2008 trug ich sie in mein Lese-Register ein. Zu seinem 60. Geburtstag brachte der Leipziger Reclam-Verlag das Buch „Zu Goethe und anderen“ heraus, die anderen waren Wickram, Klinger, Forster, Hölderlin, Thomas Mann und Johannes R. Becher. Der Greifenverlag Rudolstadt nahm 1961 sein Buch „Literatur unserer Zeit“ als Band 8 in seine Reihe „Wir diskutieren“ auf, womit meine Bestände erschöpft sind. Im Archiv finde ich eine Rezension der „Wochenpost“ zur Neuauflage seines Büchner-Romans „Hoffnung hinterm Horizont“ und einen Nachruf aus „Neues Deutschland“ von 13. Juni 1989. Hans Jürgen Geerdts, der heute hundert Jahre alt wäre, ist in Danzig geboren. Dass er 1940 NSDAP-Mitglied wurde, verhinderte nicht, dass er vier Jahre später wegen Wehrkraftzersetzung vor ein Militärgericht kam. Was er aber überlebte.

15. Februar 2022

Mag sein, dass die Werbung früher dem Leben hinterherhinkte, heute hinkt sie voraus. Ein Abend mit Fußball im Fernsehen lässt uns zum einen erkennen, dass die traditionellen Geschlechterrollen hier noch funktionieren: Tampons und Mascara kommen deutlich seltener vor als Rasierapparate und Elektroautos. Elektroautos haben Autos inzwischen vollkommen aus der Werbung verdrängt, völlig anders als im wirklichen Leben. Im wirklichen Leben kümmern sich Turban tragende Männer mit Bärten bis zum Brustbein vermutlich nie bis niemals um das Windeln ihrer Kleinstkinder, in der Werbung tun sie es und traumhübschen Babys, denen gönnt man natürlich unsere Pampers. Heute in einem Jahr wird Elke Heidenreich 80 Jahre alt, wozu ihr natürlich erst zu gratulieren ist, wenn es so weit ist. Bis dahin freuen wir uns, dass sie noch lebt und wissen nicht, was sie so treibt. Hoffentlich schreibt sie nicht Romane, sie könnte sich ja nicht selbst empfehlen in diesem oder jenem Format.

14. Februar 2022

Kaum zu glauben, wenn man es heute liest: das Privatfernsehen war an seinen Anfängen zu einem bestimmten Hochkulturanteil verpflichtet, damit Männer-Magazine und Lederhosen-Sex nicht die volle Dominanz behaupten konnten. Einer, der das Hochkultur-Alibi bereitwillig und ausdauernd lieferte, war Alexander Kluge, der heute 90 Jahre alt wird und den ich in diesen frühen Jahren, als die DDR ihren Bürgern das Graben von Kabelgräben für Antennenanlagen erlaubte, die dann die farbige neue Welt in die farblosen Wohnhäuser brachten, sehr gerne sah. Das heißt: man sah ihn nicht, man hörte ihn nur, wie er seinen Gästen die Antworten soufflierte, die sie geben sollten. Alles war schwer avantgardistisch, was man halt toll fand damals, auch ich. Sehe ich heute zufällig mal was dieser Art, schalte ich umgehend weg, wenn auch nicht ganz so schnell wie bei Anja Reschke. Das Format ist verschlissen. Kluge reicht mir nicht mehr, ich stehe auf Klüger, also Ruth Klüger.

13. Februar 2022

Nachdem ich gelesen habe, was Doris Dörrie so liest, immer parallel, wie sie verrät, was ich auch tue, merke ich, dass ich mich dann doch nicht dafür interessiere, was sie liest. Sie empfiehlt etwa Emmanuel Carrère, den sie einen richtig interessanten alten weißen Mann nennt, was man von einer alten weißen Frau natürlich erwarten darf. Wobei alte weiße Frauen des Jahrgangs 1955 natürlich gar keine alten weißen Frauen sind, sondern heiße Feger mit etwas mehr Hautelastizität in diesen oder jenen Regionen. Ich, der ich heute in 14 Tagen einen wenig runden Geburtstag feiere, bin überwiegend mit alten weißen Männern beschäftigt. Das liegt daran, dass die Vertreter der deutsch-jüdischen Literatur leider weder von den Rändern des Ngorongoro-Kraters noch aus den Tiefen der Anden-Täler stammen. Also weder der indigenen Bevölkerung noch Indi-Musikern zuzuordnen. Was mich wenig beunruhigt. Viele waren komischerweise Theaterkritiker und zwar sehr, sehr gute.

12. Februar 2022

Auch wenn ich gestern erstmals im nun schon gar nicht mehr so neuen Jahr im Theater war, die Prozedur wie gehabt: Impfnachweis, Maske während der gesamten Vorstellung, widme ich mich heute einem Kollegen, den ich, mit Verlaub, für einen der ganz Großen halte, der aber, wie so viele andere auch, zu den vollkommen Vergessenen gehört. Es ist Willi Handl, mit vollem Namen Siegmund Wilhelm Handl, am 12. Februar 1872 geboren, am 26. Mai 1920, nur 48 Jahre alt, gestorben. Er lieferte allein der „Schaubühne“ von Siegfried Jacobsohn 114 Beiträge, das gäbe ein solides Buch, und die „Neue Rundschau“ des S. Fischer Verlages profitierte von September 1907 bis zum November 1919 kräftig von ihm, das gäbe ein zweites solides Buch. Es ist Unfug zu sagen, Kritiken seien Verfallsware, die wirklich guten kann man immer auch dann lesen, wenn man weder das betroffene Stück sah, noch Autor und Darsteller kannte. Willi Handl also, ich lese ihn sehr gern.

11. Februar 2022

Wenn ein Mann 102 Jahre alt wird, ist das noch seltener, als wenn eine Frau 102 Jahre alt wird. In den Zeitungen werden solche Ereignisse gefeiert, wenn er, sie Frau, die nächsten Angehörigen einverstanden sind. Datenschutz ist heute mächtiger als andernorts der Papst oder der Mann, der uns  Chips einspritzen lässt gegen Corona. In unserem Fall aber ist der Datenschutz hinfällig, der Mann feierte seinen 102. Geburtstag quasi öffentlich sogar in einer Gaststätte namens „Zum Steinbruch“, in der auch ich gelegentlich zugange bin, wenn es um Klassentreffen oder deren Vorbereitung geht. Meine Familie bewahrte über Jahrzehnte ein Werk dieses Mannes in ihrer Wohnung: Zwei Massiv-Holz-Bücherregale, gut verglast mit starken Glasscheiben, von denen trotzdem eine das Zeitliche segnete irgendwann. Zuletzt lagen alle Jahrgänge von „Das Magazin“ darin von 1954 bis 1991, deren letztes Heft ich gestern ausschlachtete. Möbeltischler Fritz Reinhardt, alles Gute und Dank.

10. Februar 2022

Georg Restle, der für die ARD seine Restle-Rampe namens „Monitor“ betreibt, lässt ein Mädelchen einen Beitrag an- und absagen mit dem Satz, dass in Schwerin die Politik in einem herrschaftlichen Haus betrieben wird. Dazu sieht man ein von einer Drohne, im Öffentlich-Rechtlichen vielleicht sogar aus einem echten Hubschrauber, gefilmtes Schweriner Schloss. Als ich dort schlief, war ich Teilnehmer des Poetenseminars 1975, die SPD noch eine West-Partei und Manuela Schwesig, die jetzige Ministerpräsidentin, trug noch ihr Windelpaket oder war frisch davon befreit. Damals ahnte ich nicht, dass man dereinst einer Neu-Ost-Regierung ihren Sitz vorwerfen wird, weil, wie wir alle wissen, die westlichen Landesregierungen in der Regel in den Frühstücksbaracken ihrer Zooparks oder den Beratungsräumen der hauptstädtischen Mülldeponie zusammentreten, um gegen Russland zu rüsten. Journalismus, wohin treibst du, Journalistinnen, was faselt ihr? Wo habt ihr das gelernt?

9. Februar 2022

Das Schöne am Weltuntergang ist, dass er nur so lange allgemeines Interesse beansprucht, wie er bevorsteht. Wenn er da ist, lässt das Interesse radikal nach mangels Interessenten, falls er sich nicht hinzieht wie der Klimawandel. Der Weltuntergang hat einige Optionen, wie er in Erscheinung treten möchte, die am wenigsten gefürchtete ist die, dass die Sonne erkaltet. Näher ist nach dem Ende von Atom und Kohle, bald auch von Gas, der Abschied von der Elektrizität. Dann können wir in den sozialen Netzwerken nicht einmal mehr mitteilen, dass unser Heizkissen streikt. Derweil haben im Grenzgebiet der baltischen Staaten einige Rentner keine Angst vor Krieg, weil sie, wie im ARD zu hören, nicht mehr eingezogen werden können. Das dachten bei uns auch viele, ehe der Volkssturm erfunden wurde. Die wenigen lettischen SS-Leute, die noch deutsche Pensionen beziehen, werden wohl nicht mehr gegen Putin kämpfen, ihnen fiele die DDR-Kalaschnikow aus zittrigen Händen.

8. Februar 2022

Sollte eines fernen Tages die postakademische Eckhard-Ullrich-Forschung auf mein Exemplar von Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“, Jahrgang 1907, stoßen, dann wird der vermutlich junge Master-Aspirant auf Seite 289 erkennen: Oh, der hat den ersten aller Beiträge von Theodor Lessing für die „Schaubühne“ haargenau an dessen 150. Geburtstag gelesen. Ich werde mich in meinem Urnengrab dann zwar schlecht auf die Seite rollen können mangels Seite, aber ich werde sagen: Ja, so war das: Von 42 Lessing-Arbeiten für Jacobsohn, gedruckt in insgesamt 58 Heften, es waren eben bis zu fünfteilige Arbeiten darunter, las ich die erste am 8. Februar 2022, dem 150. Geburtstag des merkwürdigen Mannes. Und das hatte ausschließlich den Zweck, noch zusätzliches Material für eine im Entstehen begriffene eigene Auslassung zu liefern. Die ist noch nicht fertig, aber sie wächst und gedeiht. Was sich von meinem Giro-Konto nicht sagen lässt: unbezahlte Rechnungen hemmen.

7. Februar 2022

Soweit Augenblicke ansprechbar sind, wissen wir seit Goethe, dass es wenig ratsam ist, ihnen mit „Verweile doch!“ zu kommen. Was dem Augenblick als solchem vergleichsweise an seiner hinteren Front vorbeigeht, interessiert einen Kollegen mit rückwärtigem Schwanz und dem Geruch von schwefelhaltigem Duschgel umso mehr: Seelen-Beute ist angesagt. Teufel, noch eins! Wie komme ich darauf? Man muss ja nicht im uralten Griechenland herumsuchen, wo diese Philosophen über Flüsse philosophierten, in die man nicht zweimal steigen kann, um dann von den noch größeren Schlaumeiern zu hören: auch einmal klappe nicht. Folgerung: Die Flüsse der alten Griechen waren die Augenblicke des alten Goethe. Wenn Goethe ganz nebenher versucht hätte, in Bad Berka eine Liga zum Schutz des Baumziesels zu gründen gemeinsam mit Lehrer und Pastor, müssten wir dann zu den jeweiligen Goethe-Jubiläen der weltweiten Baumzieselforschung neue Impulse verschaffen?

6. Februar 2022

„Musik der Welt“ heißt das schmale Bändchen, der abgeplatzte Rücken ist geklebt. Innen lese ich eine „Meinem lieben Mitarbeiter“ beginnende Widmung von einem Herrn Felix Wernow aus der Sedanstraße 4 in Dresden (Datenschutz mal beiseite). Der beschenkte Mitarbeiter hieß, wenn ich die Handschrift richtig entziffere, Hermann von Tückum. Das Büchlein, das ihn trösten sollte in der schweren Zeit von November 1918, ist von Alfred Mombert. Es erschien als Nummer 181 in der Insel-Bücherei und befindet sich genau deshalb als Sammelstück in meiner Bibliothek. Sonst ist mir der Dichter Mombert stets fremd geblieben. Heute ist sein 150. Geburtstag, am 8. April jährt sich zum 80. Male sein Todestag. Er starb im schweizerischen Winterthur an den Folgen einer Haft im südfranzösischen Konzentrationslager Gurs. Richard Dehmel widmete ihm sein Gedicht „Äonische Stunde“ Jahre früher, starb er doch selbst schon am 8. Februar 1920: „Du himmlischer Zecher!“

5. Februar 2022

Neben der Diskurs-Band Tocotronic, deren Frontmännin sich seit 30 Jahren die Haare übers linke Auge (mit dem rechten sieht man besser!) zwirbelt, nur die Trainingsjacken mit den Ärmelstreifen sind nicht mehr up to date (oder war das eine andere Band?), nimmt sich ein gewisser Ulrich Ditzen wie nichts aus, also wie fast nichts. Unter seinem Namen Hans Fallada war er früh berühmt. Als er lange tot war, erlebte er eine Renaissance, wie sie selten über das lesende Deutschland schwappte. Ständig gab es neue Briefbände, ständig gab es neue, vollständige Ausgaben, man konnte zeitweise glauben, Fallada sei der meistverstümmelte Autor der Neuzeit gewesen. Dabei weiß eine sehr große Gruppe von Bürgern sämtlicher Geschlechter, wie Bücher aussähen, wenn nicht so genannte Lektoren ihnen Schliff überhaupt oder wenigstens noch einen finalen Feinschliff verpassten. Wie auch immer: heute vor 75 ist Hans Fallada gestorben. Ihn zu lesen ist immer noch gut genutzte Zeit.


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