Tagebuch

23. August 2023

Heute vor genau 90 Jahren starb in Berlin der Pfarrerssohn Otto Franz Gensichen im nicht ganz zarten Alter von 86 Jahren. Ich las nie etwas von ihm, dafür einiges über ihn. 1859 begann er in Landsberg an der Warthe seine gymnasialen Jahre, siebzig Jahre später wurde dort Christa Wolf geboren in ihrer Frühform als Christa Ihlenfeld. Gensichen musste nicht vor sowjetischen Truppen flüchten, die ihr späteres Befreierwerk mit einigen Untaten verbanden. Er leitete kurz das Berliner Wallner-Theater, war Kritiker, schrieb Romane und Erzählungen. Weil er auch für die Bühnen schrieb, geriet er ins Blickfeld von Theodor Fontane. Der kritisierte zwischen 1871 und 1885 „Minnewerben“, „Was ist eine Plauderei?“, „Euphrosyne“, „Die Märchentante“, „Frau Aspasia“ und „Lydia“. Und schrieb zu „Lydia“ sehr bestimmt: „Der Dichter soll von der Menschheit sprechen und unter Umständen allerdings auch von sich selbst. Aber nie von seinem Metier.“

22. August 2023

Früher, also ganz früher, als die Welt noch in Unordnung war, konnte ich die meisten Weltrekorde in der Leichtathletik und im Schwimmen hersagen. Ich kannte alle Sieger der Friedensfahrt, führte Statistiken der Etappensieger, wusste, wer bei zwei Olympischen Spielen in Folge Gold in welcher Disziplin gewonnen hatte. Einen gab es im Diskuswerfen, der gewann Gold bei vier Olympiaden: Al Oerter, der eigentlich Alfred Adolf Oerter hieß, was für einen 1936 Geborenen kein übertrieben ehrenrühriger Name war. Heute höre ich des Abends mit mäßigem Interesse den diensthabenden Sportreporter in Budapest mit zufriedenen Athleten deutscher Zunge reden, die einen sehr guten fünften oder noch besseren sechsten Platz errangen. Sie wissen genau, warum es nicht geklappt hat. Das ist immerhin mehr als bei unseren Fußballerinnen und Fußballern, die nichts wissen, aber bald wieder angreifen wollen. Schon fünfundzwanzig Länder haben ihre Medaillen, Deutschland nicht.

21. August 2023

Am 21. August 1968 unterzeichnete ich keinerlei Protestnote, hängte kein Transparent aus meinem Kinderzimmerfenster. Ich saß einfach nur in der Redaktion der Zeitung, die mir einen Ferienjob gegeben hatte, war 15 Jahre alt und stolz darauf, etwas schreiben zu können, was zwei Tage später gedruckt zu lesen war. Am 21. August 1997 überstimmte mich der Familienrat. Ich wollte gern zum Limfjord, der Rest der Familie an den Strand von Hune, Nordjütland. Dort war endlos Sandstrand, superbreit, den man mit dem Auto befahren durfte. Wir erlebten die größte Marienkäferinvasion unseres bisherigen Erdenlebens in ungleicher Verteilung: auf der windabgewandten Seite unseres Autos die Krabbler in Divisionsstärke, auf der anderen kein einziger Käfer. Am 21. August 2002 sahen wir zum dritten Mal innerhalb von nur sieben Jahren Vaduz, kamen von Wildhaus in der Schweiz her und genossen den verblüffenden Rubens-Bestand des Liechtensteiner Kunstmuseums.

20. August 2023

Das Zeit-Magazin hatte eine Zeit lang hinten eine Seite, auf der Menschen sämtlicher aktuell als existent angesehener Geschlechter erzählen durften, was sie gerettet hat. Auffällig oft waren die Geretteten Urheber von neuen Büchern, Filmen, Musiken, die beworben werden mussten und es auf diesem Weg ohne Griff in den Werbe-Etat auch tun konnten. Jetzt gibt es eine Seite „Was ich gern früher gewusst hätte“. Schleichwerbung reduziert, dafür Perlen an Weisheit. Saskia Esken zum Beispiel fand: „Selbstvertrauen ist viel wichtiger als Fleiß.“ Endlich sagt es mal eine, war meine Reaktion beim Lesen: Endlich sagt mal eine, was den Westen Deutschlands mehr als alles andere kennzeichnet: fleißig war man spätestens seit 1968 nicht mehr, aber man hatte Selbstvertrauen. So viel, dass man uns sogar sagen durfte, wie es war bei uns, weil wir das nicht wussten oder eben leider nur erlebt hatten. Wie wird man eigentlich Informatikerin, wenn man sein Studium abbrach?

19. August 2023

Ken Loach, der englische Uralt-Regisseur, der immer, wenn wir hier völlig taumelbegeistert den Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 feiern, Geburtstag hat, ärgert sich jeden Morgen bei seiner ersten Tasse Tee über die BBC-Berichterstattung „zum Vorteil des rechten Flügels“. Das ist England. Hier ärgern wir uns keinesfalls jeden Morgen bei unseren immer drei Gläsern Tee zu vier Toast über öffentlich-rechtliche Berichterstattung zum „Vorteil des linken Flügels“. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass wir uns nur noch in außergewöhnlichen Fällen mild erregen, was uns dann doch gegen alle die in Vorteil bringt, die in Dauererregung ihr Leben genießen. Wir zahlen unsere Gebühren, auch wenn wir täglich während des gesamten Fernsehsommers nicht wesentlich mehr als zwanzig Minuten konsumieren, um dann auf unseren so genannten Streaming-Dienst auszuweichen. Von Loach gab es übrigens gestern „Sorry We Missed You“ auf 3Sat: öffentlich-rechtlich werbefrei.

18. August 2023

Das gestern unter dem Datum von morgen in meinem Briefkasten gelandete Anzeigenblatt setzt die in Berlin begonnene wunderbare Geschichte von der Metamorphose des Wildschweins fort: war es dort eine Löwin, die sich als Schwein verkleidet hatte, ist es im Hainich das Huftier, welches sich als Schwein mit Ohrmarke tarnt. Wobei Tarnung nur die viertle Wahrheit ist, denn das Schwein tappt in die Fotofalle und glotzt auch noch in die Kamera. Meine Pflanzenerkennungs-App zeigt mir seit dem Neustart zu Anfang des Monats mit vorher unerreichter Schnelligkeit und zuverlässig die seltsamsten Kameraden am Wegesrand: Cotinus coggygria, Gewöhnlicher Perückenstrauch, durchaus ungewöhnlich; Rosa rugosa, die Kartoffelrose; Solidago canadensis, Kanadische Goldrute. Pflanzen mit Migrationshintergrund werden, da hat die Biologie entschiedenen Nachholbedarf, vollkommen unbedenklich als invasive Arten gekennzeichnet, sogar zur Ausrottung freigegeben.

17. August 2023

Wie verhindere ich, dass eine Bank meine Konten sperrt, bei der ich noch nie ein Konto hatte? Drei Banken haben mittlerweile bei mir vorgesprochen auf dem Weg eines Elektrobriefes, wie Matthias Biskupek das vermutlich nennen würde, der statt Facebook immer gern „Fatzkebuch“ schrieb, wie ich mich dunkel erinnere. Wenn nicht, ist die Welt auch nicht mehr verändert, als klebte ich mich an die Botschaft der Insel Nauru, wo ich vermutlich hängen bliebe bis zum jüngsten Tag. Herta Müller, heute 70, erscheint in meiner Suchmaschine mit der ersten Zusatzfrage: Wie heißt der bekannteste Roman von Herta Müller? Ich antworte: Hat sie denn einen geschrieben? Gar mehrere? Ein Buch von ihr hieß, falls mich meine Erinnerung nicht trügt: „Der Fuchs war damals noch nicht gegen Tollwut geimpft“. War ein Scherz, liebe Anwälte. Ich habe nichts gegen Herta, wobei die Herthas meines Lebens alle mit th geschrieben wurden und Tanten waren. Das war aber dunno annemals.

16. August 2023

Noch ist der allgemeine Mein-Bedarf nicht abgeklungen. Die Meldung, dass es nennenswerte Teile der vierten Klassen in unseren Grundschulen nicht bis zur Fähigkeit des Lesens gebracht haben, erzeugt einen Meinungsschluckauf landab, landauf. Niemand fragt, wie diese Kinder überhaupt in die vierte Klasse kamen. So etwas fragt nur eine alte Ostbirne wie ich, 1959 eingeschult und Jahr für Jahr mit dem Umstand konfrontiert, dass uns einige verließen, weil sie sitzen geblieben waren und einige neu dazu kamen, weil wir sie aus der jeweils oberen Klasse erbten. Heute sitzen wir alle bei den Klassentreffen und freuen uns: die Sitzenbleiber neben den Promovierten, die Ingenieure neben den Fleischverkäuferinnen, wobei wir nun alle Rentner sind. Meine Mutter, eine sehr gute Unterstufenlehrerin, auch eine sehr gute Horterzieherin, war eisern der Meinung: wer am Ende der ersten Klasse nicht lesen kann, muss in die Hilfsschule. Unsere Hilfsschulen waren ziemlich gut.

15. August 2023

Mit dem heutigen Tag bin ich ein seltenes Tier geworden. Ich habe sämtliche, ich betone: sämtliche Theaterkritiken von Theodor Fontane gelesen. An gedruckten Buchseiten innerhalb der Großen Brandenburger Ausgabe waren das 2182, nur punktuell las ich in den weiteren 908 Seiten, die den Titel „Kommentar“ tragen. 45 Seiten in diesem vierten Band behandeln den Theaterkritiker Fontane, was ich bei Gelegenheit auch tun werde. Diese Seiten stammen von Debora Helmer und resümieren ein so gewaltiges Stück Arbeit, dass vor ihr nur der virtuelle Hut gezogen werden kann. Wer hinfort Theaterkritiken zu sammeln sich vornimmt, kann eigentlich hinter dieses Erreichte nicht zurückfallen. Dennoch wird er, wird sie oder werden alle vier es tun müssen. Ahnungslose bezweifeln ohnehin, dass derartige Sammlungen von Wert seien, manche glauben allen Ernstes, Auswahlen seien die bessere Lösung. Das ist, wie Fontane sagen würde, eine verdrießliche Ansicht.

14. August 2023

Vor fünf Jahren stürzte sie ein, diese Brücke in Genua. Keine zwei Jahre später war der Ersatz an gleicher Stelle wieder befahrbar. Bei uns wurde eben eine Brücke nach zehn Jahren Bauzeit wieder dem Betrieb übergeben, der heute beginnt. Vier Jahre länger hat es gedauert, in dieser Zeit wären demnach im lottrigen Italien zwei eingestürzte Großbrücken funktionstüchtig ersetzt. Für das Geld, das unsere Brücke am Ende mehr kostete, hätte ich einen vierstöckigen Neubau für mein Archiv mit Arbeitsplätzen für Studierende und Arbeitsplätzen für Archivierende einrichten und dazu noch 30 Millionen spenden können für notleidende ukrainische SUV-Fahrer in Ilmenauer Nebenstraßen, damit sie ihr Drittwagen nicht unglücklich macht sowie ihre lieben Mitflüchtlinge. Das ehemalige Zentralorgan Neues Deutschland gibt es immer noch, auch wenn in Ilmenau schon drei Wochen in Folge am Donnerstag kein Exemplar mehr ankam: Umsatzverlust der Händler bleibt überschaubar.

13. August 2023

Nix mit Mauer heute. Maxim Biller hat einen Roman über seine Mutter geschrieben. Das verrät mir ein Nachrichtenmagazin aus Hamburg. Ich habe nichts gegen Bücher über Mütter, es darf durchaus auch die eigene sein. Aber ein Roman? Gut, ich habe eben erst eine gewisse Grunddistanziertheit zum Roman als solchem bekannt, das macht mich verdächtig. Aber: Über Rada Biller las ich in der Vergangenheit schon dies und jenes, vor allem jenes, und jetzt denke ich: wenn schon, denn schon. Aber ein Roman? Laut Besprecher kommen in dem Roman wirkliche Personen vor, was schonmal nicht sonderlich überrascht. Nur haben die wirklichen Personen nicht ihre wirklichen Namen, denn sonst könnte es diesem Roman ergehen wie einem anderen von Biller, der ihn aus der vorhandenen Feuilleton-Berühmtheit vorübergehend in eine diese transzendierende Berühmtheit drückte. Richtig: „Ezra“ hieß das Opus. So genannte Schlüsselromane spekulieren auf Insider, eher eine Kleingruppe.

 

12. August 2023

Ich bin eine vernachlässigbare Größe. Einer von denen, an denen ohnehin nichts gelegen ist. Das wäre eine deprimierende Erkenntnis, wenn ich sie nicht direkt von Gotthold Ephraim Lessing auf mich bezogen hätte. Über Wielands „Agathon“ schrieb er: „Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht, dass es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die er darüber verlieren möchte, an denen ist ohnehin nichts gelegen.“ Ich gönne jedem Buch die Bezeichnung Roman, wenn es dadurch mehr Leser bekommt. Bei uns werden ganze Buchpreise ausschließlich für Romane vergeben. Der Zirkus führt alljährlich zu einer Longlist, aus der eine Shortlist wird, die wiederum das Rezensionsprogramm der Feuilletons fast übers Jahr ausfüllt. Eher würden zwei Kamele aufrecht auf ihren Hinterbeinen nebeneinander durch ein Nadelöhr gehen, als dass ich ein Buch läse, weil es ein Roman ist. Ich lese allenfalls mal einen Roman, obwohl er ein Roman ist.


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