Tagebuch

7. März 2022

Sollte ich so lange leben, wie mein heute frisch abgeholter Führerschein in Kartenform gültig ist, wäre ich älter geworden als mein Vater, der nie geglaubt hätte, so alt zu werden, wie er wurde. Meiner Mutter, die nie 80 oder gar 90 werden wollte, gefiel zum Schluss sogar der Gedanke, 100 zu werden, nicht schlecht. Dass eines Tages Menschen mit Hirn im Kopf statt Grütze, Dostojewski vom Lehrplan der Universität Mailand absetzen oder ein dickes Fernsehmädchen aus dem Mutterland des Kulturimperialismus Tolstois „Krieg und Frieden“ aus ihrer Bibliothek verbannt, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich hatte einen 1960 geborenen Chefredakteur, der nach einem Zählfehler meiner damaligen Sekretärin verkündete, Dummheit sei nicht strafbar. Heute glaube ich, dass Dummheit strafbar ist, sie kann sogar direkt in Volksverhetzung münden. Selbst Gogol ist kein Ukrainer, es kann sein, dass ich nie wieder „Der Revisor“ sehen darf! Heiliger Ilja Muromez!

6. März 2022

Immerhin drei Bücher von Alexander Osang stehen im Regal direkt neben der rechten Seite meines PC-Arbeitsplatzes. Im Jahrgangsordner 1962 sind nicht wenige seiner Reportagen gesammelt, er gehört zu diesem Jahrgang, wird am 30. April 60 Jahre alt. Ein heuriger Hase ist er schon lange nicht mehr. Was aber tut er in seinem Endlostext zum Botschafter der Ukraine in Deutschland, zu Andrij Melnyk, für den Spiegel? Er geht über die Geschichte mit seinem Vornamenspaten Andrij Melnyk ebenso leicht hin wie über die Geschichte mit Stepan Bandera. Als der vormalige Präsident der Ukraine, Juschtschenko, ihm 2010 den Titel „Held der Ukraine“ verlieh, protestierten Russland und Polen, das Europa-Parlament und das Simon-Wiesenthal-Zentrum. Bandera war Antisemit in einem Maß, dass hier allein der Gedanke, nach ihm Straßen zu benennen, einem Verbrechen nahe käme. Melnyk hat an seinem Grab in München Blumen niedergelegt. Osang lese ich nicht mehr.

5. März 2022

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die keine mehr ist, seit sie am Sonnabend erscheint, ist nunmehr eine Wochenzeitung. Das heißt, sie wandert nicht am Montag in die Remittenden-Kiste, sondern wird noch bis Freitag verkauft. Wenn’s hilft. Nachdem gestern Iring Fetscher 100 Jahre alt geworden wäre, was nur den Deutschlandfunk interessierte, würde heute Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt, was vor allem in der schwulen Community ein Date ist. Die Literarische Welt füllt eine ganze Seite mit ihm und diese Seite ist nicht von Tilman Krause. Auf meinem Lesetisch finde ich eine Notiz mit diesem Spruch: „Der Gitarrenhimmel ist vorchristlich, es gibt viele Götter in ihm, wenige Göttinnen.“ Über dem Spruch steht der Name Tal Wilkenfeld. Ob ihr Name mit dem Spruch wirklich zu tun hat oder gar von ihr selbst ist, weiß ich nicht. Am Bass ist sie jedenfalls unschlagbar gut. Und singt längst auch. Morgen wäre Günter Kunert 93, ich nur säumig als ein später Gratulant.

4. März 2022

Sollte man jetzt seinen Dostojewski, seinen Tolstoi, seinen Turgenjew aus dem Fenster werfen oder nur alle Neu-Übersetzungen von Swetlana Geier? Oder reicht es, wenn man seinen Viren-Scanner von Kaspersky kündigt und zu den Programmen zurückkehrt, die einem letztens nicht halfen bei der Cyber-Attacke vermeintlicher Microsoft-Helfer? Wie doof auch immer das klingt, dergleichen wird derzeit öffentlich gedacht, gefragt und gemacht. Die nächsten vier wichtigen Buchpreise werden an ukrainische Autorinnen gehen, das lässt sich jetzt schon heftig vermuten. Putin hat, was immer er will und wollte, der weltweiten Rüstungsindustrie ein traumhaftes Konjunkturpaket aufgelegt, zum Glück sind wir im Großraum Bodensee heftig mit von der Partie. Wir erlebten heute schon mal den probeweisen Stromausfall, mitten im Text am PC, im Tropfen der Kaffeemaschine, im Saugen des Staubsaugers, nicht nur auf dem Klo wurde es dunkel und im Kühlschrank, nur kurz, aber lehrreich.

3. März 2022

„Waffen aus Deutschland für die Ukraine“ ist ein höchst merkwürdiges Label für sowjetische Luftabwehrraketen aus Uralt-Beständen der vor mehr als 30 Jahren abgewickelten NVA. In der Bundeswehr dürfen sie nicht mehr zum Einsatz kommen, wegen Materialmängeln, heißt es. Sind sie rostig geworden oder gehen sie gelegentlich nach hinten los? Wir wissen es nicht. Was ich weiß an diesem dritten März: vor genau 20 Jahren, Sonntag, war mein Vater zur zweiten Nachfeier meines 49. Geburtstages Gast in unserer Wohnung, er schaffte die Treppen noch mit äußerster Mühe und kam danach nur noch sehr selten, bald gar nicht mehr. Aus der von ihm, mir und meiner Mutter in vielen Jahren zusammen getragenen Sammlung von Märchenbüchern griff ich mir heute eins heraus mit dem Titel „Wie Iwan die Sonne besuchte“. Erschienen 1989 im Verlag Dnipro Kiew, Untertitel „Ukrainische Heldenmärchen“. Darin schlägt ein Drache sechs Brüder, ehe ihn „Rollerbse“ tötet.

2. März 2022

Noch summseln Muskeln und Sehnen milde nach der gestrigen fünften Physiotherapie, dafür höre ich jetzt besser, wenn es klingelt. Der 80. Geburtstag von John Irving beschäftigt mich nicht mehr, als dass ich ihn eben erwähne, es hagelt in den kommenden Tagen 100. Geburtstage, die ich auch höchstens erwähnen werde, obwohl es mich sehr reizen würde, hie und da ein Fußnötchen zu setzen. Aber das Leben ist kein Wunsch-Pony oder wie das heißt. Ich habe nach diesem schönen Geburtstagswochenende ein neues Verhältnis zur allgemein negativ besetzten Floskel „mit den Wölfen heulen“, abgesehen davon, dass es schwerfiele, gegen die Wölfe zu heulen. Ich sah auch Luchse, einen sehr nahe, und er wischte sich mit der Pfote wie jedes herkömmliche Hauskätzchen über die Ohren beim Putzen. Ich liebe solche Bilder. Bietet sich die seltene Gelegenheit, einem Kapivara die Hand auf die Schulter zu legen oder einem Tapir, dann nenne ich mich glücklich.

1. März 2022

Nachtrag: Sage einer was gegen die gelbe Post. Die Schlüssel sind da in einem passenden Kästlein, vermutlich hat das Hotel öfter solche Hilfsdienste abzuwickeln. Ich erstatte das Porto in Form von Briefmarken, von denen ich noch etliche zu Hause vorfinde, freilich nicht in den heute passenden Werten, aber man kann ja mehrere benutzen. Hätten wir nicht zwei Schlüsselbünde, wäre die Lage in den Familienlüften vermutlich brenzliger geworden, so war ich lediglich von einem Schrank im Keller getrennt, was als Kollateralschaden klar harmloser ist, als wenn beim Serben-Bombardieren eine Schweizer Botschaft getroffen wird. Es gibt, lernen wir in diesen Tagen, neben den freiheitlich-demokratischen Kollateralschäden, die halt vorkommen, auch solche, die Diktaturen anrichten und niemals vorkommen dürfen. Nachdem kurzzeitig zu Festnetz und WLAN noch unser aller Internet ausstieg, ist nun wieder alles in Ordnung, ich tätige tapfer Rückrufe, lösche unerwünschte Mails.

28. Februar 2022

Nachtrag: Eigene Blödheit gibt man ungern zu, das ist nicht nur bei Spitzenpolitikern so. Ich also griff, als ich den Beifahrersitz verlassen wollte, zielsicher ins Nichts: kein Schlüsselbund da. Früher hatte ein Kollege alle vier Tage solche Erlebnisse, er ist freilich Jahrgang 1948, da fallen einem schon eher mal die Schlüssel ins Klo oder ins Wasser, man betankt seinen Diesel schneller mit Super, seinen Benziner eher mit Diesel. Nun aber ich, fünf Jahre jünger, wenngleich auch nicht mehr so dynamisch wie zu Zeiten, als das als Sowjetunion getarnte Russland Afghanistan überfiel und die Ukraine noch unter den eigenen roten Bauchfedern wärmte. Da musste erst ein gewisser Gorbi das Halbparkett der Geschichte betreten und den Weg frei machen für den ganz anderen Bruderkrieg. Ich also jetzt lasse meine Schlüssel im Nachtkastel liegen, doch ist zum Glück noch kein Zimmer-Service da gewesen, ihn zu finden. Ich bekomme ihn auf dem Postweg nachgesandt.

27. Februar 2022

Nachtrag: Mein Lebensalter erreicht heute erstmals die Quersumme 15, wir stießen um Mitternacht mit einem Crémant de Loire an, bis die Flasche leer war, was wir auch im jetzigen Alter noch ohne große Mühe bewältigen. Wenn die Arschgesichter dieser Welt es durchsetzen, dass auf Wein und Sekt ein Warnhinweis steht, dann wünsche ich mir diesen: Wein erhöht Ihre Umgänglichkeit und kann zu unkontrollierten Freundschaften führen. Wir fuhren auf Wunsch des einzelnen Jubilars zum Wildpark Schloss Tambach, wo uns ein voller Parkplatz überraschte, eine Schlange an der Kasse und später ein herrliches Wolfsrudel, in welchem mit Glockenschlag zwei Mitglieder anfingen zu heulen, dass es eine wahre Pracht war. Wir kamen einigen Hirschen mit großen Geweihen so nahe, dass es die nächste wahre Pracht war. Wir bedauerten all jene, die zu Hause versuchten, mir zu gratulieren und ein totes Telefon vorfanden, nicht alle haben meine Handy-Nummer, was gut ist.

26. Februar 2022

Nachtrag: Der Weg über die Ausfahrt Eisfeld Süd ist deutlich besser zu fahren als der, den uns das Navi empfahl vor einigen Wochen. Ich habe im Getränkemarkt, den wir erst sahen, als wir auf dem Heimweg waren am 2. Januar, und das war ein Sonntag, schon wieder ein paar neue Sorten Bieres gefunden, freundliche Franken wie immer. Wenn es solche gäbe, müsste man diese ehrliche und nie aufgesetzte Freundlichkeit der Franken zu ihrem Rasse-Merkmal erklären, aber mit den Rassen, das wissen wir, ist das so ein Sache, nur Hühner, Hunde und Katzen haben welche oder keine und die ist dann auch eine, wenngleich keine frei gewählte. In der Therme sind wir zeitig genug, dreimal geimpft sind wir immer noch, brauchen jetzt keinen zusätzlichen Test mehr, weil Impfung Nummer drei schon hinreichend lange zurück liegt. Jetzt kommen wir auch zum Aufguss, es sind deutlich mehr Leute erlaubt, es gilt nunmehr das Schachbrett-Prinzip. Es kleben keine gelben Punkte mehr.

25. Februar 2022

Eigentlich wollte ich heute entspannt in einen kurzen Urlaub fahren, ferner Krieg und nahe Telekom vergällen mir das Vergnügen. Also kann ich auch nur nebenbei erwähnen, dass der mysteriöse Autor B. Traven heute 140 Jahre alt werden würde, wenn das denn ginge. Die Mehrzahl all der vielen Bände Traven, die bei meinen Eltern im Regal standen, sind in Sachsen-Anhalt gelandet, kein halbes Dutzend und die berühmte Biografie von Recknagel stehen bei mir. Mit meinem Vater sah ich sehr jung „Der Schatz der Sierra Madre“ im Gehrener Kino, mit Humphrey Bogart in der Regie von John Huston. Während ich dies schreibe, werde ich entspannter, also weiß ich, was ich tun muss, obwohl ich noch heute früh angesichts der Publikation einer leibhaftigen Professorin, die scheußliche Sätze schreibt und einen saugroben sachlichen Fehler drucken lässt, schon fast auf der Palme saß. Das ist nicht der beste Satz für Kritiker, in den kurzen Urlaub fahre ich nun trotzdem.

24. Februar 2022

Krudes Zusammenfallen der Ereignisse. Russland marschiert oder rollt in der Ukraine ein, bei mir marschiert ein junger Mann von der Telekom ein, um zu schauen, wie denn mein schnelles Internet funktioniert. Es liegt an und keiner hat uns informiert, obwohl wir seit einem halben Jahr warten. Als er weg ist, geht unser Festnetztelefon nicht mehr und bald danach steigt die WLAN-Verbindung aus, das ist hoffentlich nicht schon Putins Rache. Unser Bundeskanzler sagt immer wieder, es liege alles auf dem Tisch. Ich folgere daraus, dass auch deutsche Geschichtsvergessenheit und deutsche Dummheit auf dem Tisch liegen, ahne aber nicht, wieviel Platz sie dort einnehmen. Die Nachrichten teilen mir mit, dass ich als erste Kriegsfolge 2 Euro für mein Benzin bezahlen muss, woran mein friedliebender Staat via Mineralöl- und Mehrwertsteuer saftig mitverdient, wie bei allen Arten von Preiserhöhungen. Werden Sanktionen „Russland kaputt“ schaffen, was niemandem gelang bisher?


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