Tagebuch

20. März 2022

Pünktlich zum heutigen 152. Geburtstag von Arthur Eloesser bin ich mit einer Darstellung seiner Arbeiten zum Goethejahr 1932 fertig geworden, leider wieder etwas länger, sie wird zu Goethes Todestag übermorgen ins Netz gestellt. Zum Frühlingsanfang verirrte sich tatsächlich so etwas wie Frühlingswetter nach Ilmenau, nachdem gestern sogar noch ein paar Flöckchen fielen. Wir stellten unser benzingetriebenes Fahrzeug auf den kostenlosen Parkplatz am Friedhof und wanderten in Richtung Festhalle. Für einen bescheidenen Unkostenbeitrag von 15 Euro pro Person, das sind für immer noch viele zwei Schachteln Zigaretten, besichtigten wir die Ausstellung „Körperwelten“ mit der imposanten Nebeneinanderstellung einer gesunden und einer Raucherlunge, die man aufpumpen konnte. Die Farbe der gesunden Lunge irritierte mich heftig. Der Anblick diverser Tumore erzeugt eher den falschen Eindruck, dass die gar nicht so schlimm aussehen, wie sie sind, rein farblich nur.

19. März 2022

Wenn, in aller Regel, am Samstag das Anzeigenblatt mehr oder minder beschädigt im Briefkasten liegt, darin die vielen bunten Prospekte der verschiedenen Märkte in der Umgebung, dann sehen wir in die meisten gar nicht hinein, weil wir dort nicht kaufen, in einige schon, weil wir dort kaufen. Heute sind die Prospekte schon Makulatur, wenn sie im Kasten liegen. Denn Mehl und Öl, wie zu sehen, zum Schnäppchen-Preis, wird es gar nicht geben können. Vielleicht sollten Medien und Minister andeutungsweise darauf hinweisen, dass Eierlikör und belgisches Konfekt Mangelware werden könnten oder doppelt so teuer. Beides schmeckt deutlich besser als Mehl und Öl, muss auch gar nicht erst energieaufwendig gebraten werden. Immer klarer wird, dass die Russen eigentlich seit Jahrhunderten nichts anderes tun, als Nachbarn zu überfallen. Das wird uns Deutsche insbesondere sehr trösten, denn wir überfielen selten jemanden, warum auch. Nur weil es Untermenschen waren?

18. März 2022

Zwei Tage brauchte ich, meinen heutigen Gruß zum 90. Geburtstag von John Updike in die Fassung zu zwingen, die ich ins weltweite Web plumpsen lasse. Ich nahm fast alle meine vielen Updike-Bände in die Hand, von einigen musste ich Staub blasen, hinter allen lag der übliche Regalstaub, dem unser Dyson aus dem Leben hilft. Ich grabe mich durch die Theaterkritiken von Alfred Polgar, lese Theodor Fontanes Kritiken zu „Emilia Galotti“. Mein Dauerbrenner Arthur Eloesser führt mich zu „Goethe in Tennstedt“, wo ich vor sechs Jahren schon einmal Fühlung nahm und schrieb. Man nennt es Arbeit. Fast 70.000 Wörter brachte ich bisher zu Eloesser bereits zu Papier, insgesamt 28 Texte, ein Ende ist nicht abzusehen. Jan-Josef Liefers erfreut uns mit seinem Film zu Erich und Margot Honecker in Lobetal. Ich sehe Tochter Sonja (gespielt) und Enkel Roberto. Und mich in Sonjas Wohnung in der Leipziger Straße am Glastisch sitzen, vielleicht gar auf Honeckers Platz.

17. März 2022

Die letzten Literatur-Beilagen zur Buchmesse in Leipzig gibt es heute. Sie zu holen, verordnen wir uns den täglichen Gang bis in die Stadt und zurück, die 10.000 Schritte fallen dabei locker ab. Wir treffen Bekannte, denen wir sagen, wir seien unterwegs, etwas Lügenpresse zu kaufen und Mehl zu hamstern, es gibt aber gar kein Mehl mehr und nach dem Sonnenblumenöl verschwindet nun auch das Rapsöl aus den Regalen. Am Busbahnhof passieren wir einen Rollator-Schieber mit Begleitung, der zwei große Pakete Küchenrollen transportiert. Wir vermuten, dass er sie zu Hause in der Mitte spalten wird, vielleicht hat er sich eine ukrainische Küchenrollen-Säge gekauft bei Amazon und will sich nun sein Klopapier selbst schneiden, vielleicht kocht er sich zu Hause auch eine Küchenrollen-Suppe mit Mehlschwitze, angebräunt in brauner Butter. Wir sehen einen Amsterdam-Krimi, in dem belorussische und ukrainische Mädchen und Frauen Opfer von Menschenhandel sind: in Holland.

16. März 2022

Natürlich stapelt niemand Rapsöl im Keller, meine weiblichen Korrektoren sind mir sofort auf meine ahnungslosen Schliche gekommen: die Rede muss von Sonnenblumenöl sein. In einer umgehend anberaumten Vorort-Begehung überzeugte ich mich vom Vorhandensein des Rapsöls wie von der Abwesenheit des Sonnenblumenöls, ich erblickte Klopapier, aber kein Mehl und ich sah Keimöl, von dem ich nicht weiß, was das ist. Am Abend sah ich Christina Links im Fernsehen, was mir angenehmste Erinnerungen hochdämmern ließ. Sie saß und sprach in einer Sendung über die russische Schriftstellerin Ludmilla Ulitzkaja. Ich schaute in meinen Ordner „Sowjetunion/Russland Tu – Z“ und siehe, ich bin bis 1998 zurück ganz ordentlich ausgestattet. Mein Gedächtnis machte Ulitzkaja sechs Jahre jünger, als sie ist, das wird sie mir verzeihen, falls sie je von mir hören oder gar lesen sollte. Sie war zehn Jahre alt, als Stalin starb, ich sieben Tage, was gegen mich spricht.

15. März 2022

Hamstern als Wort ist streng genommen eine Beleidigung für jene pelzigen Nager, die sich einen Vorrat anlegen für Zeiten, in denen Nahrung knapp ist. Das ist ihr Job. Wir dagegen, Einwohner Mitteleuropas, die sich zeitweise erfolgreich einredeten, das Volk der Dichter und Denker zu sein mit einer Ausstiegsklausel ins Volk der Richter und Henker, der Untermenschen-Feinde, mutieren fast anlasslos zu Klopapier-Regalplünderern. Wir schleppen weg, was wir immerhin noch bezahlen. Die nächste Stufe ist das Wegschleppen ohne Zahlung. In Kriegszeiten steht darauf die Todesstrafe und Kriegszeiten sind weniger weit weg, als wir glauben, wenn wir Mehl und Rapsöl im Keller stapeln oder in der Speisekammer. „Solange es Raufasertapete gibt, brauche ich kein Klopapier“, sagt ein Mann mit einer Schaufel in der Hand, den ich frage, ob Stahlbauer heute auch Erdarbeiten verrichten. Mit „Neues Deutschland“ kann man sich den Arsch nicht mehr abwischen: zu teuer.

14. März 2022

Wenn wir F35-Tarnkappen-Bomber kaufen, die in den Vereinigten Staaten von Amerika sozusagen im Regal stehen, brauchen wir keine eigenen Bomber zu entwickeln, was viel zu lange dauert. Die fliegen dann auch gar nicht, wie wir wissen, und, viel wichtiger, wie unsere SPD-Kriegs-Ministerin sagt: das sichert unsere nukleare Teilhabe. Das hat einst nicht einmal Adenauer geschafft: eigene Atombomben. Auch jetzt sind es leider immer noch fremde Bomben, die wir im Fall der Fälle werfen dürfen mit unseren Lieferbar-Bombern. Der Preis ist überschaubar, erhöht nur die Gefahr, selbst beworfen zu werden. Da wir uns schon die Hosen voll schissen bei Strahlen aus Tschernobyl, müssten wir jetzt eigentlich aus allen verfügbaren Fenstern springen. Die Bundesregierung kann nicht ausschließen, dass. Karl Lauterbach warnt nicht vor Waffenkäufen. Sein Warnpotential ist spezialisiert. Bundeskanzler Scholz besucht den nächsten Friedensnobelpreisträger in Ankara.

13. März 2022

Mediatheken haben einen unschätzbaren Vorteil: man kann seinen Krimi zur gewohnten Zeit in Augenschein nehmen, auch wenn die ARD der Meinung ist, man müsse den 685. Brennpunkt seit Erfindung des Brennpunkts als Dauerbrenner unbedingt vorher sehen, in dem alles noch einmal gezeigt wird, was man eben schon sah, nur in die Länge und Breite gezerrt. Es tut mir leid, aber die Fall-Zeit von Bomben interessiert mich so wenig wie einst in der DDR der Start der Mähdrescher in den frühen Morgenstunden der Ernteschlacht. Ich verstehe, dass alle in unseren Sendern zu Wort kommenden Ukrainer und Ukrainerinnen uns drängen wollen, Entscheidungen zu treffen, die einen Weltkrieg objektiv näherbringen. Warum er am Ende da ist, wenn er da ist, ist mir fast vollkommen gleichgültig. Fast vergesse ich, dass heute vor genau 250 Jahren in Braunschweig „Emilia Galotti“ uraufgeführt wurde, Lessing fehlte im Parkett, weil er Zahnschmerzen hatte, Geschichte auch das.

12. März 2022

Selbst der gute alte Jack Kerouac kommt nur noch ins Feuilleton, wenn es wenigstens eine neue Übersetzung von ihm gibt, der 100. Geburtstag allein reicht nicht hin. Meinen Kerouac-Bestand erwarb ich (bis auf die Ausnahme aus DDR-Produktion) in einer Buchhandlung in der Ilmenauer Lindenstraße, lang ist es her. Beat Generation hießen die Kerle damals, hatten auch ein paar Lyriker in ihren wenig geschlossenen Reihen. Das wären heute alles alte weiße Männer gewesen, die Oprah Winfrey nicht einladen würde, wie sie einst noch den immer weißer werdenden Michael Jackson einlud, lang ist es her. Die ersten Buchmesse-Beilagen habe ich gebunkert. Wenn ich nicht nur eine polnische Großmutter hätte, sondern auch noch ukrainische Wurzeln, hätte ich vielleicht sogar eine Chance, eingeladen zu werden in irgendeine Runde, wo mich alle mitleidig und voller Verständnis angucken würden. Polnische Großmütter reichen derzeit nicht für Höhenflüge, Oma Malinowska.

11. März 2022

Wenn die Buchmesse ausfällt in Leipzig, heißt das nicht, dass auch die Beilagen zur Buchmesse ausfallen, die von einigen Zeitungen lange vorher geplant und vor allem mit Anzeigen der reichen Verlage garniert werden. Mir fällt neuerdings erst im letzten Moment ein, dass ich zwar keine Reise nach Leipzig planen muss, die mit dem Auto jetzt ohnehin teurer wäre als meine erste Reise nach San Marino vor 30 Jahren, wohl aber Zeitungen bestellen. Früher schaute man in den Beilagenplan der jeweiligen Blätter und wusste, was wann kommt. Heute ist das Finden der Pläne bei manchen Zeitungen schwieriger als das Finden eines Schuldigen, wenn kein Putin zur Verfügung steht. Vor genau 300 Jahren starb John Toland, von dem ich seit nicht ganz 300 Jahren die „Briefe an Serena“ besitze, erschienen in der Reihe „Philosophische Studientexte“ des Berliner Akademie-Verlages. Mechanischer Materialismus hieß das auf DDR-Deutsch. Trotzdem nicht einfach so zu verachten.

10. März 2022

In meinem zweibändigen Friedrich Schlegel aus dem Aufbau-Verlag steckt ein Lesezeichen bei Lessing, allerdings nicht bei Theodor, sondern bei Gotthold Ephraim. Mit dessen „Emilia Galotti“ bin ich derzeit täglich verabredet, was mit kommendem Sonntag zu tun hat. Vom Krieg in der Ukraine höre ich, dass die Menschen dort nach zwölf Tagen genervt sind. Das wirft nicht nur die Frage nach unserer vom Langzeitfrieden verdorbenen Kriegsberichterstattung auf. Sondern auch die Frage, wie es wohl den Menschen im dreißigjährigen Krieg ging nach zwölf Jahren Krieg: weitere zwölf Jahre standen bevor und dann waren immer noch sechs Jahre übrig. Meine Tankstelle zeigt mir, dass die Altgrünen vor Jahren falsch lagen, als sie schlappe fünf Mark pro Liter für eine gute Idee hielten, sechs Mark heißt das Thema und: Nieder mit der Wirtschaftsnation Deutschland. Es muss uns nicht gut gehen, anderen geht es auch nicht gut. Zukunft wird allgemein weit überschätzt.

9. März 2022

Komischer Zufall: Weil gestern der Dramatiker Heinar Kipphardt 100 Jahre alt geworden wäre, von dem ich einst „Shakespeare dringend gesucht“ las und etwas später auch noch „Der Hund des Generals“, schaue ich heute in ein Buch aus der Reihe Theater heute, es ist die Nummer 16 und trägt den Titel „Deutsche Dramatik in West und Ost“. Ich sehe die Postkarte eines Antiquariats-Netzwerkes vor Seite 13. Dort beginnt der Abschnitt über Heinar Kipphardt mit dem Satz: „Heinar Kipphardt könnte als Gegenfigur zu Peter Hacks erscheinen: dieser verzog 1954 von München nach Ost-Berlin, jener ging 1960 von Ost-Berlin über Düsseldorf nach München.“ Am 23. November 2017 hatte ich das Buch zuletzt in Arbeit, lange her also. Mit Friedrich Schlegel, dem morgen der 250. Geburtstag zu bescheinigen sein wird, bin ich bis heute nicht warm geworden, der Umgang mit Theodor Lessing aber führt nach Hannover, wo beide geboren wurden, ein Berührungspünktchen.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround