Tagebuch

12. Februar 2022

Auch wenn ich gestern erstmals im nun schon gar nicht mehr so neuen Jahr im Theater war, die Prozedur wie gehabt: Impfnachweis, Maske während der gesamten Vorstellung, widme ich mich heute einem Kollegen, den ich, mit Verlaub, für einen der ganz Großen halte, der aber, wie so viele andere auch, zu den vollkommen Vergessenen gehört. Es ist Willi Handl, mit vollem Namen Siegmund Wilhelm Handl, am 12. Februar 1872 geboren, am 26. Mai 1920, nur 48 Jahre alt, gestorben. Er lieferte allein der „Schaubühne“ von Siegfried Jacobsohn 114 Beiträge, das gäbe ein solides Buch, und die „Neue Rundschau“ des S. Fischer Verlages profitierte von September 1907 bis zum November 1919 kräftig von ihm, das gäbe ein zweites solides Buch. Es ist Unfug zu sagen, Kritiken seien Verfallsware, die wirklich guten kann man immer auch dann lesen, wenn man weder das betroffene Stück sah, noch Autor und Darsteller kannte. Willi Handl also, ich lese ihn sehr gern.

11. Februar 2022

Wenn ein Mann 102 Jahre alt wird, ist das noch seltener, als wenn eine Frau 102 Jahre alt wird. In den Zeitungen werden solche Ereignisse gefeiert, wenn er, sie Frau, die nächsten Angehörigen einverstanden sind. Datenschutz ist heute mächtiger als andernorts der Papst oder der Mann, der uns  Chips einspritzen lässt gegen Corona. In unserem Fall aber ist der Datenschutz hinfällig, der Mann feierte seinen 102. Geburtstag quasi öffentlich sogar in einer Gaststätte namens „Zum Steinbruch“, in der auch ich gelegentlich zugange bin, wenn es um Klassentreffen oder deren Vorbereitung geht. Meine Familie bewahrte über Jahrzehnte ein Werk dieses Mannes in ihrer Wohnung: Zwei Massiv-Holz-Bücherregale, gut verglast mit starken Glasscheiben, von denen trotzdem eine das Zeitliche segnete irgendwann. Zuletzt lagen alle Jahrgänge von „Das Magazin“ darin von 1954 bis 1991, deren letztes Heft ich gestern ausschlachtete. Möbeltischler Fritz Reinhardt, alles Gute und Dank.

10. Februar 2022

Georg Restle, der für die ARD seine Restle-Rampe namens „Monitor“ betreibt, lässt ein Mädelchen einen Beitrag an- und absagen mit dem Satz, dass in Schwerin die Politik in einem herrschaftlichen Haus betrieben wird. Dazu sieht man ein von einer Drohne, im Öffentlich-Rechtlichen vielleicht sogar aus einem echten Hubschrauber, gefilmtes Schweriner Schloss. Als ich dort schlief, war ich Teilnehmer des Poetenseminars 1975, die SPD noch eine West-Partei und Manuela Schwesig, die jetzige Ministerpräsidentin, trug noch ihr Windelpaket oder war frisch davon befreit. Damals ahnte ich nicht, dass man dereinst einer Neu-Ost-Regierung ihren Sitz vorwerfen wird, weil, wie wir alle wissen, die westlichen Landesregierungen in der Regel in den Frühstücksbaracken ihrer Zooparks oder den Beratungsräumen der hauptstädtischen Mülldeponie zusammentreten, um gegen Russland zu rüsten. Journalismus, wohin treibst du, Journalistinnen, was faselt ihr? Wo habt ihr das gelernt?

9. Februar 2022

Das Schöne am Weltuntergang ist, dass er nur so lange allgemeines Interesse beansprucht, wie er bevorsteht. Wenn er da ist, lässt das Interesse radikal nach mangels Interessenten, falls er sich nicht hinzieht wie der Klimawandel. Der Weltuntergang hat einige Optionen, wie er in Erscheinung treten möchte, die am wenigsten gefürchtete ist die, dass die Sonne erkaltet. Näher ist nach dem Ende von Atom und Kohle, bald auch von Gas, der Abschied von der Elektrizität. Dann können wir in den sozialen Netzwerken nicht einmal mehr mitteilen, dass unser Heizkissen streikt. Derweil haben im Grenzgebiet der baltischen Staaten einige Rentner keine Angst vor Krieg, weil sie, wie im ARD zu hören, nicht mehr eingezogen werden können. Das dachten bei uns auch viele, ehe der Volkssturm erfunden wurde. Die wenigen lettischen SS-Leute, die noch deutsche Pensionen beziehen, werden wohl nicht mehr gegen Putin kämpfen, ihnen fiele die DDR-Kalaschnikow aus zittrigen Händen.

8. Februar 2022

Sollte eines fernen Tages die postakademische Eckhard-Ullrich-Forschung auf mein Exemplar von Siegfried Jacobsohns „Schaubühne“, Jahrgang 1907, stoßen, dann wird der vermutlich junge Master-Aspirant auf Seite 289 erkennen: Oh, der hat den ersten aller Beiträge von Theodor Lessing für die „Schaubühne“ haargenau an dessen 150. Geburtstag gelesen. Ich werde mich in meinem Urnengrab dann zwar schlecht auf die Seite rollen können mangels Seite, aber ich werde sagen: Ja, so war das: Von 42 Lessing-Arbeiten für Jacobsohn, gedruckt in insgesamt 58 Heften, es waren eben bis zu fünfteilige Arbeiten darunter, las ich die erste am 8. Februar 2022, dem 150. Geburtstag des merkwürdigen Mannes. Und das hatte ausschließlich den Zweck, noch zusätzliches Material für eine im Entstehen begriffene eigene Auslassung zu liefern. Die ist noch nicht fertig, aber sie wächst und gedeiht. Was sich von meinem Giro-Konto nicht sagen lässt: unbezahlte Rechnungen hemmen.

7. Februar 2022

Soweit Augenblicke ansprechbar sind, wissen wir seit Goethe, dass es wenig ratsam ist, ihnen mit „Verweile doch!“ zu kommen. Was dem Augenblick als solchem vergleichsweise an seiner hinteren Front vorbeigeht, interessiert einen Kollegen mit rückwärtigem Schwanz und dem Geruch von schwefelhaltigem Duschgel umso mehr: Seelen-Beute ist angesagt. Teufel, noch eins! Wie komme ich darauf? Man muss ja nicht im uralten Griechenland herumsuchen, wo diese Philosophen über Flüsse philosophierten, in die man nicht zweimal steigen kann, um dann von den noch größeren Schlaumeiern zu hören: auch einmal klappe nicht. Folgerung: Die Flüsse der alten Griechen waren die Augenblicke des alten Goethe. Wenn Goethe ganz nebenher versucht hätte, in Bad Berka eine Liga zum Schutz des Baumziesels zu gründen gemeinsam mit Lehrer und Pastor, müssten wir dann zu den jeweiligen Goethe-Jubiläen der weltweiten Baumzieselforschung neue Impulse verschaffen?

6. Februar 2022

„Musik der Welt“ heißt das schmale Bändchen, der abgeplatzte Rücken ist geklebt. Innen lese ich eine „Meinem lieben Mitarbeiter“ beginnende Widmung von einem Herrn Felix Wernow aus der Sedanstraße 4 in Dresden (Datenschutz mal beiseite). Der beschenkte Mitarbeiter hieß, wenn ich die Handschrift richtig entziffere, Hermann von Tückum. Das Büchlein, das ihn trösten sollte in der schweren Zeit von November 1918, ist von Alfred Mombert. Es erschien als Nummer 181 in der Insel-Bücherei und befindet sich genau deshalb als Sammelstück in meiner Bibliothek. Sonst ist mir der Dichter Mombert stets fremd geblieben. Heute ist sein 150. Geburtstag, am 8. April jährt sich zum 80. Male sein Todestag. Er starb im schweizerischen Winterthur an den Folgen einer Haft im südfranzösischen Konzentrationslager Gurs. Richard Dehmel widmete ihm sein Gedicht „Äonische Stunde“ Jahre früher, starb er doch selbst schon am 8. Februar 1920: „Du himmlischer Zecher!“

5. Februar 2022

Neben der Diskurs-Band Tocotronic, deren Frontmännin sich seit 30 Jahren die Haare übers linke Auge (mit dem rechten sieht man besser!) zwirbelt, nur die Trainingsjacken mit den Ärmelstreifen sind nicht mehr up to date (oder war das eine andere Band?), nimmt sich ein gewisser Ulrich Ditzen wie nichts aus, also wie fast nichts. Unter seinem Namen Hans Fallada war er früh berühmt. Als er lange tot war, erlebte er eine Renaissance, wie sie selten über das lesende Deutschland schwappte. Ständig gab es neue Briefbände, ständig gab es neue, vollständige Ausgaben, man konnte zeitweise glauben, Fallada sei der meistverstümmelte Autor der Neuzeit gewesen. Dabei weiß eine sehr große Gruppe von Bürgern sämtlicher Geschlechter, wie Bücher aussähen, wenn nicht so genannte Lektoren ihnen Schliff überhaupt oder wenigstens noch einen finalen Feinschliff verpassten. Wie auch immer: heute vor 75 ist Hans Fallada gestorben. Ihn zu lesen ist immer noch gut genutzte Zeit.

4. Februar 2022

Wenn ich also das Internationale Olympische Komitee wäre, dann würde ich Olympische Spiele nur noch nach Deutschland vergeben. Dort reißen sich die Städte geradezu um die Ausrichtung und es werden auch keinerlei Uiguren in Arbeitslager gesperrt, also in Deutschland. Menschenrechte und Pressefreiheit sind perfekt organisiert vom Bundespresseamt. Die Zeiten, da wir „Wir sind Papst!“ jubelten, gehören der Vergangenheit an, wir fordern im Gegenteil heute, der Papst möge sich Asche aufs Haupt kippen lassen, solange es noch Asche gibt, siehe fossile Brennstoffe. Nie aber haben wir gejubelt „Wir sind IOC!“, obwohl wir allen Grund gehabt hätten. Bei Olympischen Spielen in den USA, Mutterland des Indianer-Wohlstandes, der Mexikaner-Liebe und der Alten Weißen Männer, wäre alles in Gefahr: Wir würden Fracking unterstützen, die Eroberung von Grenada nachträglich rechtfertigen. Wozu überhaupt noch Olympia, wo wir doch ohnehin nichts mehr gewinnen dort?

3. Februar 2022

Noch bin ich gut drei Wochen von meinem Geburtstag entfernt und schon trage ich mein Geschenk am Arm. Alles nur, weil mein Fitness-Armband an der vermutlichen Sollbruchstelle seinen Geist aufgab. Das war der dritte Abschied nach irreparablem Armbandschaden. Das neue Gerät nun hat uns zwar gestern Nerven gekostet, bis es lief, bis es synchronisiert war mit meinem Smartphone und bis es nicht mehr ständig summte und brummte, um mir albernste Nachrichten zu signalisieren. Seither aber läuft es. Während das alte selbst einen Gang zur Mülltonne großzügig belobigte als hervorragenden Workout, ist das neue karger, es sagt einfach: Los!, wenn ich mich länger nicht bewegt habe, was vorkommt, wenn ich vor meinem Computer sitze und riesige Werke über die Doktorarbeiten anderer Menschen verfasse. Dafür stehe ich, während ich dies schreibe, schon vor dem Jahresrekord an Schritten, auch meine bewältigten Treppen werden nun registriert: Rekorde!!

2. Februar 2022

Mehr Arzttermine innerhalb einer Woche hatte ich zuletzt, als ich in einem Krankenhaus lag und das ist dann ja doch schon wieder zwölf Jahre her. Ich lebe in der merkwürdigen Überzeugung, es gehe mir besser, wenn ich weiß, warum es mir nicht gut geht. Unter anderem leide ich darunter, dass ich nicht abschalten kann, wenn ich die öffentlich-rechtlichen Sender die Rolle vom George W. Bush übernehmen sehe, die Achse des Bösen zu bekämpfen. Heute stellt eine Nachrichtensendung das Wort „inzwischen“ vor eine bekannte Zahl. Demzufolge hat Russland 120.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Die Zahl ist, wie gesagt, keineswegs neu, aber das „inzwischen“ ist geeignet, dem gedächtnisschwachen Konsumenten einen andauernden Prozess zu suggerieren, der gar nicht stattfindet. Mir fällt dann immer ein: „auch mit bereits regulären Truppen“. Das war, als 5.45 Uhr zurückgeschossen wurde. Schmerzen muss man aushalten, ich bin da ein braver Patient.

1. Februar 2022

Vor 50 Jahren starb Karl Grünberg. Wohl trug ich das Datum in meinen Kalender ein, wohl schaute ich auch nach, wann der Name schon einmal bei mir fiel, man kann es prüfen über die Suchfunktion auf meiner Seite. Wirklich nahe kam er mir aber erst wieder, als Gisela Wagner, die Tochter von Karl Schrader, der sich ab 1945 Paul Körner-Schrader nannte, auf ihn zu sprechen kam, als sie mit mir über meine Bemerkungen zu „Die silbernen Kugeln“ telefonierte, dem späten Kinderbuch ihres Vaters. Grünbergs „Brennende Ruhr“ las ich im August 1967, kein halbes Jahr nach meiner Jugendweihe, unmittelbar anschließend „Es begann im Eden“. Es folgten „Sturm auf Essen“ von Hans Marchwitza, „Dr. Sorge funkt aus Tokio“ von Julius Mader und „Eugen Leviné“ von Michail Slonimski. Sage einer etwas gegen meine Sozialisation. Sie hat nicht verhindert, dass ich heute Leserpost von Theaterbesucherinnen bekomme, die meine Sicht, nicht die des Publikums, teilen.


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