Tagebuch

1. Januar 2022

In ruhigen Zeiten nennt man das einen guten Vorsatz. Wir sind in Bad Rodach, nachdem wir vor Jahresfrist erstmals seit ewigen Zeiten Silvester ausfallen lassen mussten. Ein Teil ist auch diesmal ausgefallen: es gab kein Frühstück, weil das Hotel geschlossen blieb, nur unsere Ferienwohnungen waren zugänglich. Geimpft am 18. Dezember, als wir in Ilmenaus alter Schwimmhalle ganz ohne Voranmeldung uns „boostern“ ließen, müssen wir hier in Bayern immer noch 15 Tage warten, ehe wir ohne zusätzlichen Test aufs Saunatuch klettern dürfen. Zur Belohnung ist der Zugang so beschränkt, dass schon halb elf am Vormittag alles dicht ist, Bad Colberg hat gleich vollständig geschlossen. Kommt man dennoch hinein, darf man nur Plätze mit grüner Markierung einnehmen, das sind manchmal fünf pro Sauna, manchmal acht. Den Aufguss erleben 14 Glückspilze, zu denen wir nicht gehören. Trotzdem ist das Leben schön, weil es eben das Leben ist, wie man es kennt.

6. Mai 2021

Das hätte ich nicht gedacht: Christian Morgenstern wird 150 und keiner geht hin. Also ich bin natürlich aufmarschiert mit einem bemoosten Text und mit einem neuen dazu. Und bin nicht böse, dass ich mir Erich Fried verkniffen habe, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Den schneide ich mir aus fürs Archiv, die „Junge Welt“ feiert ihn schon seit einer ganzen Weile. Von ihm bin ich ohnehin nur bescheiden versorgt: mit Shakespeare-Übersetzungen. Und einigen wenigen Gedichten als Streugut in Anthologien. Mein kleiner gelber Impfausweis, der leicht gefälscht werden könnte, wie ich inzwischen weiß, hat lange, lange im Verborgenen gelegen, bis ich ihn für einen heutigen Besuch an der Arzttheke herauskramte, um ihn auf den aktuellen Stand bringen zu lassen. Nicht, dass ich Begeisterung ausgelöst hätte mit meinem Ansinnen mitten in der Sprechstunde, aber immerhin konnte ich von der Warteliste gestrichen werden. Platz für neue Wartende mit Maske.

5. Mai 2021

Besondere Wetterlagen band meine Mutter gern an die Geburtstage der Familie. Wenn es schon zu ihrem Geburtstag schneite oder noch einmal am Geburtstag ihre Gatten, meines Vaters, dann war das ein Jahr fürs Langzeitgedächtnis. Mein Geburtstag verband sich in gewissen Abständen mit Fasching, in gewissen Abständen mit fast sommerlichen Vorfrühlingstemperaturen. Denen man aber, so der Familienrat, nie trauen durfte. Als Kind war ich zum Geburtstag in gewissen Abständen krank, was mir mehr Zuwendung einbrachte als ohnehin. Wirklich interessant war für mich, als ich lesen konnte, eigentlich immer nur die Zahl der Bücher, die auf dem Geschenktisch lagen. Meine Frau würde in diesem Sinne sagen, dass bei mir mehrmals in der Woche Geburtstag ist, wobei ich mir die Bücher selbst schenke. Ich lese den zweiten Tag in den Erinnerungen von Fritz Homeyer und denke darüber nach, warum man älter werdend lieber Erinnerungen liest als edle Romane.

4. Mai 2021

Nicht die Balken, wohl aber die Bäume bogen sich bedenklich unter dem stürmischen Andrang der blasenden Luftmassen. Wir erörterten im Familienrat rasch die Frage, welche Wanderrunde uns den geringsten Gefahren, von herabstürzenden Baumteilen erschlagen zu werden, aussetzen könnte und entschieden uns für die bewährte Glaswerksrunde. So heißt ein Weg, den wir wie einst Herbert Roth auf den Höhen oft gegangen sind. Wir passieren Fraunhofer und Schorn-Tower, gehen bis dahin, wo im Wald unmittelbar oberhalb des Rundwanderwegs eine straßenbreite Schneise geschlagen wird, von der wir nicht ahnen, welchem Zweck sie dienen wird, falls sie das überhaupt soll. Vielleicht werden die alten Schienen aus dem Boden gerissen, die früher zu Henneberg führten, also zum Porzellanwerk gleichen Namens, vielleicht müssen auch nur die Fundamente der Fernwärmeleitung weg vor einer Wiederaufforstung. Rückweg durch Unterpörlitz, da zieht es auch an vielen Ecken.

3. Mai 2021

„Heimlich träumen Mensch und Erde“ heißt der Band aus der Reihe „Klassische Kleine Bühne“ des Henschelverlags Berlin 1978, den ich heute ins Register meiner gelesenen Bücher eintrug. Die Noten hinten würden mich natürlich weit mehr erfreuen, wenn ich Noten lesen könnte. Diese feine Fähigkeit geht mir ab, sie hatte auch nie eine reelle Chance, sich zwanglos unter meine Fähigkeiten zu mischen. Zwar wählte ich, als mir die Goetheschule die Gelegenheit dazu bot, das Fach Musik statt des Faches Kunsterziehung, denn das Malen von Bildern oder ähnliche Übungen inklusive des Erörterns von Maler-Biographien schien mir mehr Aufwand zu fordern, als unter Musikdirektor Otto Boxberger hie und da zwecks Gewinn einer Schulnote „Freude schöner Götterfunken“ zu grölen und ihm ansonsten beim Klavierspiel zuzuschauen und zuzuhören. Hingebungsvoll pianierte er, man konnte währenddessen völlig ungestört Hausaufgaben erledigen für Englisch oder Latein.

2. Mai 2021

Die Debatten, welche Rechte uns als vollständig Geimpften zustehen, wenn wir vollständig geimpft sein werden, was noch eine Weile dauert, denn in Thüringen sind die Abstände zwischen den beiden Terminen größer als die zwischen zwei Mäuseschwangerschaften, verliert an Bedenkenträgerei, wenn man selbst betroffen ist. Muss ich Urlaub im Ganzkörperkondom planen, darf ich überhaupt planen? Was, wenn ich für eine Woche Venedig zweimal zehn Tage in Quarantäne muss? Venedig? Hatten wir schon. Der Ethikrat berät über mich, wessen Freiheiten ich beschneide. Gut, ich glaube immer noch, dass es keine Frage für den Europäischen Gerichtshof ist, wenn für einen Besuch in den Tropen Tropenschutzimpfungen vorgesehen sind und folglich zu Hause bleiben muss, wer die nicht hat. Die Wanderrunde heute über den Friedhof, wo uns Gedanken an den Erfrierungstod den Schritt beschleunigen ließen. Der April war der kälteste seit 1977 oder länger. Erderwärmung eben.

1. Mai 2021

Und heute, man ahnt es kaum, sind wir runter vom Podest, ich habe einen Impftermin am 8. Mai, den ich dann mit mehr Grund als Tag der Befreiung werde begehen können. Ich muss halt nur zu einer Zeit, wo ich normalerweise langsam, aber sicher meinen Fernsehsessel zurechtrücke, um den Krimi meiner Wahl zu sehen, im Impfzentrum Meiningen antreten. Das wird mir die Chance geben, den Ort zu sehen, in dem meine Eltern, lang ist es her, ihr Lehrerstudium absolvierten, wobei sie sich kennenlernten. Den Ort auch, wo wir meinen Schwiegervater hie und da im Krankenhaus besuchten. Heute können wir die Autobahn benutzen. Damals war es noch umständlicher. Neu im Spazierplan des Jahres der Weg via Berufsschulzentrum am Kirchhoff-Bau der TU vorbei bis zum Schützenhaus und dann ins Teichgebiet. Das sind wir natürlich schon öfter gegangen, aber 2021 noch nicht. Den Impftermin per WhatsApp eitel hinausposaunt in die in die uns befreundete Welt.

30. April 2021

Das Schöne an gut programmierten Smartphones und damit verbundenen Fitness-Armbändern ist: sie erinnern aufdringlich unaufdringlich an Geburtstage, die man auf keinen Fall vergessen darf. Es sind jene Geburtstage, die auch händisch schon in alle Kalender eingetragen sind, die verschiedene Wände der Wohnung zieren. Und dann erwische ich das Geburtstagkind an seinem 68. Geburtstag auch noch und wir machen einen Plausch über dies und jenes. In unserem Alter lautet eine Frage an die jeweils anderen: Bis du schon geimpft? Natürlich nicht, wie auch. Wir leben in Thüringen, der Ilm-Kreis hat heute zum zweiten Mal den dritten Platz in der Inzidenz-Hitparade inne, was er in all den vielen bisherigen Corona-Monaten seit vorigem Jahr nie schaffte. Greiz ist raus aus den Rängen, die eine Medaille bringen. Dafür sind wir gestern beinahe getestet worden, obwohl wir uns gar nicht testen lassen wollten. Dafür aßen wir je zwei Kugeln Eis aus dem Becher ohne Maskerade.

29. April 2021

Falls ich in den 68 Jahren meines Lebens nichts verpasst habe, dann würde ich meinen, dass die „Neue Nationalgalerie“ in Westberlin nie eine von vielen neuen Galerien in Westdeutschland war, denn Westberlin war nie Teil von Westdeutschland, brauchte aber nach dem Mauerbau allerlei, was nun der Osten allein hatte. Immerhin, eine neue Museumsinsel legte man nicht erst an. Die Berliner Zeitung von heute müsste es besser wissen, weil sie ja nie der Tagespiegel war, dem man gewisse Ahnungslosigkeiten vielleicht unterstellen könnte. Dafür schreibt Christian Schubert aber einen Leserbrief aus Köpenick und einen aus Friedrichshain und die Berliner Zeitung druckt beide ab, was schon wieder niedlich ist. Für Liefers und Co. setzen sich mittlerweile auch diverse vernünftige Leute ein, darunter ein Boris Palmer, den die Grünen wohl irgendwann vor die Tür setzen werden. Ob die SPD diesen Rundfunkrat-Trottel entlässt, dessen Name zu vergessen ist? Man ahnt es nicht.

13. März 2021

Berlin: Wolfgang Kohlhasse wird heute 90 und ist plötzlich in manchen feinen Feuilletons der bedeutendste aller Drehbuchautoren nach dem Kriege. Gestern hatte Hermann Hettner seinen 200. Geburtstag und ist vergessen. Immerhin: ein dickes Buch mit dem Titel „Schriften zur Literatur“ benutze ich gelegentlich, auch in seinen Briefwechsel mit Gottfried Keller schaute ich nicht selten hinein. In Berlin sehen wir nach längerer Pause wieder einmal die Dahlmannstraße. Nur an der 32 kann man noch ungefähr erkennen, wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auch die 29 aussah, in die das Ehepaar Arthur und Margarete Eloesser 1908 einzog, um nach 25 Jahren wenig freiwillig zum Lietzenseeufer zu wechseln. Am Ende des Tages zeigt mein Schrittzähler mehr als 16.000 Schritte an, das ist natürlich Rekord in diesem Jahr. Warum die Züge auf dem Hauptbahnhof nie in der angegebenen Wagenreihung einfahren, weiß ich nicht. Dafür sind sie heute maurerpünktlich.

12. März 2021

Unser Bundestrainer will nach der Europameisterschaft nicht mehr Bundestrainer sein. An solchen Tagen wird das Wort Respekt aus der Vorratskammer geholt, wo es stets in Griffweite steht und glänzt, weil es ein wenig abgegriffen ist wie Julias Brust in Verona, an die alle tatschen. Noch ist an Gender-Lehrstühlen die Frage nicht aufgeworfen, ob nicht neben dieser Julia ein Romeo-Pimmel aus Messing glänzen müsste wegen der Gleichstellung. Wir ahnen noch nicht, was eines Tages an den Diversen-Skulpturen glänzen wird, ich werde es wohl nicht mehr erleben. Morgen fahren wir in aller Frühe in die Bundeshauptstadt, wo wir Verwandte ersten Grades besuchen werden. Wir haben Sitzplätze reserviert für die Hinfahrt wie auch für die Rückfahrt, weil es mit dem Übernachten halt nicht so geht, wenn unsere zweieinhalb Lieblings-Hotels zwangsweise geschlossen haben. Wir werden noch vor Mitternacht wieder zu Hause sein. Mit leichterem Gepäck als auf der Hinreise.

11. März 2021

Der gute Vorsatz, Bücher zu Ende zu lesen, in denen ich bisweilen vor Jahren begann und dann das Lesezeichen stecken ließ, wird nicht dadurch schlechter, dass ich ihm selten mit voller Konsequenz nachgehe. Immerhin: die „Erläuterungen und Dokumente“ zu Max Frischs „Andorra“, grün und schmal aus dem Stuttgarter Reclam-Verlag, die sind heute endlich ins Regal gewandert, zu denen, die dort immer stehen, so lange sie nicht auf einen Lesestapel wandern. Janosch, der heute 90 Jahre alt wird, hat uns im ZEIT-Magazin lange begleitet, ehe er seinen Abschied einreichte. Wenn vor zehn Jahren nicht ein Tsunami das Atomkraftwerk Fukushima geflutet hätte, kämpften unsere Grünen noch immer gegen die Atomkraft und die armen Kohlenbergwerke wären noch nicht zum finalen Rettungsschuss freigegeben. Wenn Atom und Kohle weg sind und der Strom nur noch aus der Steckdose kommt, werden wir ein gutes Gewissen haben, das Klima wird sein wie jetzt auch.


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