Tagebuch

4. August 2023

Die Zahl der Rechtschreibreformer, die sich über meine Känguruhs beschwerten, hielt sich im niedrigen zwölfstelligen Bereich. Als gäbe es nicht andere Kampfplätze für den Frieden. Zum Beispiel das Wahrzeichen. Hier in Ilmenau könnte man dies und jenes anführen: den Hausberg Kickelhahn, die tanzenden Ziegen, mit etwas besserem Willen selbst den Apothekerbrunnen. Wobei unter Wahrzeichen-Puristen gilt: pro Stadt ein Wahrzeichen, der Rest ist Inflation. Nun lese ich auf einer Seite Anzeigen-Sonderveröffentlichung, das sind die Seiten in großen Zeitungen, die so tun, als wären sie Journalismus und das gleich mit der Kopfzeile abwehren, vom Budapester ikonischen Wahrzeichen Fischerbastei. Ich kenne die Fischerbastei seit meinem ersten Budapest-Besuch 1965, da lagen die jetzt die Rentenkasse killenden Baby-Boomer noch in den Windeln oder kackten ohne in die Hose. Ich weiß auch, was ikonisch ist, glaube ich. Die Halászbástya jedenfalls sicher nicht.

3. August 2023

Wenn ich Horst Bredekamp, 76, wäre, würde ich mich auch dagegen verwahren, eine Expertin zu sein, egal wofür. Dennoch nennt DFB-Autorennationalspielerin Falko Hennig, 1969 geboren, ihn vorerst so, weil sie in gleichem Atemzug ihre Mutter, Jahrgang 1938, ins Spiel bringt, die ebenfalls keine Expertin sein will. Abgesehen davon, dass es schweinelustig ist, am Tag des Ausscheidens der deutschen Frauenauswahl bei der WM in Dingsbums, also da unten bei den Koalas und Känguruhs, dreispaltig hoch sich freuende deutsche Spielerinnen zu sehen. Blöd, wenn man Wochenzeitung ist und zusätzlich die Genderei mittlerweile soweit treibt, dass die störenden Sonderzeichen gleich ganz weggelassen werden. Horst Bredekamp ist, um die wenigen Milliarden, die ihn nicht kennen, mit Hilfswissen zu dopen, ein Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler. Möglicherweise fördert die berufliche Fixierung auf Statik (Bild) Interesse an Dynamik (Frauenfußball) mehr als zu vermuten.

2. August 2023

Das Auswärtige Amt, das streng genommen ein inwärtiges ist, eben nur für Außen zuständig, hat eine Reisewarnung für Niger ausgesprochen. Das sprach mir aus dem Herzen und ließ einen kleinen Stein von selbigem fallen. Endlich kann ich ruhigen Gewissens alle meine bezüglichen Reisepläne fallen lassen, es waren genau genommen nicht sehr viele, noch genauer war es kein einziger. Ich wollte nie nach Niger, auch nach Nigeria nicht und ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Länder überhaupt noch so heißen dürfen, wo bei uns schon die Mohrenstraßen entmohrt werden. Kann ja sein, dass einst Legastheniker diese Ländernamen verteilten und so ein einfaches kleines g vergaßen in all ihrer Unbefangenheit. Wenn ich freilich von Niger aus die Welt zu betrachten hätte, würde ich Länder, in denen Billig-Märkte den Klimawandel im Würstchen-Preis abbilden, als vom gelinden Wahnsinn befallen ansehen, mein Kopfschütteln würde die obere Halbwirbelsäule akut gefährden.

1. August 2023

An die Anrufe habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Sie sind letztlich harmloser als alle die, die angeblich von der Firma Microsoft kommen, immer mit falschen Telefonnummern, immer mit gebrochenem Deutsch vorgetragen. Meine Anrufer sind Leute in Not, sie wollen einen Termin in meiner Arztpraxis und sind nur schwer zu überzeugen, dass ich gar kein Arzt bin. Sie finden mich angeblich im Internet, wo ich mich selbst zwar auch finde, aber eben nie als Arzt. Natürlich weiß ich inzwischen, wer gemeint ist. Der geschätzte Nicht-Kollege ist ein freundlicher und wohnt und praktiziert in Großbreitenbach, wir hatten sogar schon einen fast kollegialen Mail-Wechsel. Heute nun, early in the morning, wie unsere Enkel zum Glück noch nicht sagen, stand sogar einer an unserer Haustür: als ob in Genossenschaftswohnungen neuerdings Arztpraxen geführt würden, wo man einfach mal so klingeln kann. Ich verschreibe nichts und sehe mir auch nichts nur mal so an.

31. Juli 2023

Verlustanzeige des Tages: am 31. Juli 1973 starb Alfred Matusche. Dieser Todestag wäre ein Thema zur Rückschau gewesen: Zwischen dem 19. Juli und dem 24. Juli 1978 tippte ich nicht weniger als 27 Schreibmaschinenseiten zu vier Stücken von ihm, die ich zuvor gelesen hatte. Als ich knapp zwei Jahre später, im Mai 1980, weitere vier Stücke las, kam ich nicht mehr dazu, meine Notizen zu machen. Die kleinen Merkpunkte im dialog-Band „Welche von den Frauen und andere Stücke“ sind also immer noch sichtbar an den Seitenrändern. Nie vor 1980, nie später las ich in einem einzigen Jahr mehr bühnen- und funkdramatische Texte als ausgerechnet damals, vor meinem Diplom: 90 bis Ende Mai, ganze 10 nur noch danach bis zum 29. Dezember. Und 1981: acht von Januar bis August, mehr nicht. Auf einer Bühne sah ich nie einen Matusche, das wird vermutlich so bleiben. Dennoch entscheide ich mich für den 150. Geburtstag von Hans Ostwald, Berliner von Geburt und Passion.

30. Juli 2023

Neustart in der stillen Hoffnung, es nun wieder durchzuhalten. Kein Anlass nirgends. Vielleicht ein paar Fragen weniger, warum ich kein Tagebuch mehr schreibe. Mir sind nie gute Antworten dazu eingefallen. Dabei wäre immer etwas, die Fingerspitzen könnten trocken bleiben: Saugausfall. Die Glatze ohne gedrehte Locken. Vor 50 Jahren lag Walter Ulbricht im Sterben. In Berlin tobten die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, ich hatte wenige Tage zuvor meinen Job verloren, meinen Studienplatz für Journalistik in Leipzig in Kombination dazu. Es zog sich hin bis zum endgültigen Verzicht auf meinen ersten großen Lebensplan. Schon 1969, als die DDR ihren 20. Jahrestag in Berlin feierte und die Auserwählten unter der Jugend in blauen und möhrenfarbigen Nylon-Jacken dorthin transportiert wurden, war ich ohne Bedarf. Erst zum 25. Jahrestag 1974 sah mich Berlin: in keinerlei Signalfarbe. Und ich sah alle, die nach Biermann von hinnen gingen, auf etlichen Bühnen.

4. April 2022

Eines der vielen Stalin-Opfer unter den russischen Schriftstellern hieß Michail Kolzow. Der alte Aufbau-Literatur-Kalender legt den Tag seiner Ermordung auf den 4. April, der neue Aufbau-Kalender kennt das Datum gar nicht mehr und WIKIPEDIA lässt ihn vollends schon zwei Jahre länger tot sein. Das Nachwort eines Leipziger Reclam-Bändchens vergisst dezent alle Umstände seines Schicksals, soweit sie nicht positiv lesbar sind. Immerhin: Kolzow traf im Spanienkrieg auf Ernest Hemingway und der machte in seinem Roman „Wem die Stunde schlägt“ aus ihm den Journalisten Karkow. Ich erinnere mich meiner Studentenzeit in Berlin, da wir, parallel zu den Vorlesungen und Seminaren zur Geschichte der KPdSU, Opferzahlen zu ermitteln versuchten. Es waren erschreckend viele Opfer unter den namhaften Autoren von Tretjakow bis Mandelstam. Die Wahrheit ist nicht nur das erste Opfer jeglichen Krieges, auch im Frieden geht es ihr meist schlecht.

3. April 2022

Der Sonntag „Judika“, lese ich, betont den Gehorsam Christi und unseren Gehorsam gleich mit. Ich weiß nicht, wie viele Menschen inzwischen Google nutzen müssen, um zu erfahren, was denn dies sei: Gehorsam. Wie sehr gehorsam war Michail Schatrow, der heute nicht 90 Jahre alt wird, weil er am 23. Mai 2010 bereits gestorben ist? Er habe sich als Dramatiker, ist zu lesen, mit kritischer Sympathie mit Lenin und der Sowjetunion auseinandergesetzt, andernorts ist er der Mann, den die Deformationen des Sozialismus unter Stalin zu Bühnenstücken anregten. Da er in Moskau geboren und gestorben ist, würden unsere Kulturpatrioten ihn aus dem Lehrkanon streichen, wenn er je drin gewesen wäre, was ihm aber nie gelungen ist. Hätte ich einstens nicht die Reihe „Spektrum“ des Verlags Volk und Welt gesammelt, wäre meine Bibliothek eine Schatrow-freie Zone. So aber steht da der schmale Band Nr. 18, Titel „Bolschewiki (Der 30. August)“. Ich las ihn am 10. Mai 1976.

2. April 2022

Da ist er nun, dieser Todestag. Ich habe mir sogar auf  Youtoube „Komm auf die Schaukel, Luise“ angehört, meine Molnár-Datei ist auf Wachstum angelegt. Daneben lese ich brav und tapfer die Theaterkritiken von Alfred Polgar, dem Molnár sehr am Herzen lag. Und Alexander Roda Roda ist ebenso mein täglich Brot. Mein Medienblick zwingt mir die Frage ab, warum Kriegsfotografen in der Ukraine gern Frauen in dicken Pelzmänteln vor rauchenden oder brennenden Häusern belichten und ich höre von sachverständiger Seite, diese Pelzmäntel seien vielleicht der wertvollste Besitz, der gerettet werden muss. „derfreitag“, Jakob Augsteins Wochenblatt, das ich bisweilen gern ein wenig schmähe, hat in seiner jüngsten Ausgabe, die ich mir verspätet vornehme, gleich mehrere hypergute Artikel zum Thema Ukraine, einer dabei auch vom großen Häuptling selber auf der Titelseite. Wunderbar, dass nicht alle gerade auf dem Klo saßen, als der Herr Hirn regnen ließ.

1. April 2022

Vor 25 Jahren notierte ich mir an meinem eigentlich freien Tag die Neuigkeiten, die sich für meine Doppel-Redaktion, der ich seit dem Jahresbeginn vorstand, inzwischen ergeben haben. Der schon absehbare Tod meiner „Außenstelle“ in Arnstadt sandte seine Hiobsbotschafter voraus, ich musste selbst anreisen und mir dies und jenes anhören. Es gibt Chefetagen, die haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Aprilscherzen und noch dussliger gewählten Terminen für Tiefschläge. Ich arbeite emsig an meinem Beitrag zum morgigen 70. Todestag von Franz Molnár, grub sogar meine alte Theaterkritik wieder aus, für die ich seinerzeit schon allerlei las und auswertete, auf das ich jetzt dankbar zurückgreifen kann. Wen der Erfolg begleitet, auch und vor allem der finanzielle, der hat bei aller Mit- und Nachwelt schlechte Karten. Ich werde auf diesem Umweg in manche Ungarn-Erinnerungen gelockt und stoße auch auf abenteuerliches Unwissen in manchen Schlauköpfen.

31. März 2022

Weißt du auch, was heute für ein Tag ist? Mit schöner Regelmäßigkeit fragte mich das am 31. März meine Mutter. Und pflichtgemäß wissend antwortete ich: Euer Hochzeitstag. Es wäre heute der 72. gewesen, was dann doch kaum vorstellbar ist. Obwohl es natürlich solche Paare im wirklichen Leben gibt: er fast 102, sie fast 94. Immer wenn ich lese, dass jemand etwas sein ganzes Leben lang nicht vergessen wird, bis ich skeptisch. Bei vielen ist noch ein solides Stück Leben übrig, aber sie wissen schon nicht einmal mehr, wer die Frau ist, die ihnen die Schnabeltasse am Bett reicht, was alles andere als lustig ist. Den 50. Hochzeitstag feierten wir seinerzeit im deutschsprachigen Teil Belgiens nach mit Ausflügen nach La Roche, Bastogne, Stavelot und Spa. In Malmedy verweigerte mein Vater den weiteren Gang zu Fuß, setzte sich auf eine Bank und meinte, er werde warten, bis wir ihn wieder abholen. Meine Mutter setzte sich neben ihn. So ist das mit den alten Paaren eben.

30. März 2022

Sage einer was gegen diese Wetterpropheten. Ich kann am Morgen schon das beschneite Ilmenau vom Balkon aus belichten und dieses erfrischende Foto versenden. Mein Mitleid gilt den guten alten Laufenten, die ich seit Jahren bei ihrem emsigen Treiben beobachte, wobei ich weiß, dass Enten keine kalten Füße bekommen. Sonst würden ja auch auf allen Teichen nur niesende Enten umherrudern. Meine Warn-App teilt mir in bekannter Manier freundlich mit, dass ich eine Risiko-Begegnung hatte am 26. Februar, während die mich begleitende Gattin keinerlei solche erlebte, was mich leicht irritiert. Aber es kann natürlich sein, dass wir im Hotelrestaurant an unterschiedlichen Menschen mit vollen (oder leeren) Tellern vorbeigelaufen sind. An Symptomen mangelt es mir, ich vermisse sie freilich nicht. In der Bildbiographie „Einen Handkuss der Gnädigsten“ lese ich heute das Kapitel „Roda Roda und der Film“, sehe den Meister beim Rollenstudium in der Badewanne.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround