Tagebuch

21. Oktober 2020

Am 21. Oktober 1920 erlebte am Münchener Residenztheater ein Drama in drei Akten seine Uraufführung, das längst und wahrscheinlich zu Recht vergessen ist: „Der Weg zur Macht“ von Heinrich Mann. Mit Blick auf den näher rückenden 150. Geburtstag von Mann am 27. März 2021 ist die Lektüre dennoch nicht nur von biographischem Interesse. Es geht um Napoleon und nicht nur um Napoleon. Nachlesbar ist das auch in Manns Essay „Der bürgerliche Held“, am 5. Mai 1921 im BERLINER TAGEBLATT erschienen zum Todestag Napoleons. Im zweiten Akt tritt ein kleiner Neger auf, woran 1920 natürlich niemand Anstoß nahm. Auf den Gedanken, Heinrich Mann könnte Rassist gewesen sein, kam damals ebenfalls niemand. Es würde heute immerhin medienwirksam die rhetorische Frage ermöglichen, ob er wirklich keiner war. In Dresden war der Messerstecher nun doch ein vorbestrafter, geduldeter Syrer, was der MDR zunächst tapfer und sehr korrekt verschwieg.

20. Oktober 2020

Weil das Finanzamt mich erinnerte, dass meine seit 13 Monaten tote Mutter für 2019 noch keine Steuererklärung abgegeben hat, machte ich mich heute an das Ausfüllen der grünen Formulare. Seit 2019 muss man all die Daten, die elektronisch ans Amt übermittelt werden, nicht mehr selbst aufschreiben. Das hieß für meine Mutter: ich musste nichts aufschreiben außer ihrem Namen und ihrer Steuer-Nummer, ihre Adresse ist ebenso Geschichte wie ihr Konto. Auf dem leeren Blatt hinten unterschrieb ich als Alleinerbe, alle Anlagen warf ich als überflüssig ins Altpapier. Das ist unser Deutschland, es übersteht alle Krisen, weil bei uns sogar die Toten Steuern zahlen, anders als vor Jahren die Griechen, die nicht einmal ahnten, was Steuern sein könnten. Aber die wussten auch nicht, was eine Feuerwehrstruktur ist, wenn das halbe Land brannte: wir wussten es. Dafür waren sie schon die alten Griechen, als wir noch alte Germanen waren, frisch von den Bäumen gestiegen.

19. Oktober 2020

Fest vorgenommen hatte ich mir, den neuen Schweizer Tatort aus Zürich nicht zu begleiten wie den alten aus Luzern, von dem ich bis auf eine alle Folgen in MEINE SCHWEIZ besprach. Nach dem Auftakt wankte ich ein wenig, weil er sehr gut war, blieb dann aber bei meinem Entschluss. Heute vor 100 Jahren, anderen Quellen zufolge schon vorgestern vor 100 Jahren starb John Reed. Als ich 1987 zum ersten Mal über ihn schrieb, nannte ich ebenfalls den 17. Oktober, sein Grab an der Kreml-Mauer sah ich damals sogar mit eigenen Augen. Ich las seinen Rückblick „Beinahe dreißig“ am Morgen, vorher schon seinen Einakter „Der schwer zu verstehende Friede“ und war wieder an dem Punkt, eigentlich schreiben zu wollen, aber noch anderes tun zu müssen. Unvorstellbar, dass Donald Trump im Weißen Haus sich „Reds“ absehen könnte, wie es einst Ronald Reagan tat. Für den waren noch Kommunisten Kommunisten, für Trump ist schon Joe Biden einer, Fuck! Fuck!

18. Oktober 2020

Bürger, die vom Alkohol so abhängig sind, dass sie am Sonntagmorgen bereits die Tankstelle aufsuchen müssen, um dort ein wenig Bier und einige Taschenrutscher zu erwerben, verursachen bisweilen unfreiwillige Unfälle. Einer schmiss, nachdem er sich zwischen mich und den Mann vor mir in die Corona-Abstandsschlange gedrängt hatte, einen seiner kleinen Freudenbringer auf die Erde, was zu Scherben führte: er leckte den Korn nicht auf, wie es ein Schotte laut Witzothek getan hätte, verlangte allerdings zu seiner Flüssignahrung noch eine Schachtel Zigaretten. Er nannte keine Marke, es sollte aber die billigste sein, acht Euro kostete sie, und unsicheren Fußes trug er seine Schätze hinaus in die enge Welt der Suffköppe. Ein anderer stand schon an seinem Stammplatz zwischen Tankstelle und Waschanlage und nahm seine erste Dosis. Ich erwarb wie stets meine Sonntagszeitung. Und merkte: mein gestriges Schwächeln nach der Impfung ist heute Geschichte.

17. Oktober 2020

Von Ernst Blass, der in meinem Jubilier-Kalender heute mit seinem 130. Geburtstag verzeichnet ist, besitze ich eine sehr schöne dreibändige Ausgabe der „Edition Memoria“, Herausgeber Thomas B. Schumann, von dem ich ebenfalls zwei Bände besitze und gelegentlich benutze. Blass schrieb unter anderem über Gerhart Hauptmanns „Buch der Leidenschaft“, dem wiederum Hanns Cibulka in „Seedorn“ auf seine spezielle Art gedenkt. Wir dagegen werden heute nach Weimar abgeholt und von dort nach Hause gefahren, weil sich die Nachfeier eines 70. Geburtstages begibt, zu der im Belvedere acht Plätze reserviert sind: Familienfeier im engsten Kreise heißt das und ist selbst für einreisende Berliner erlaubt. Wir waren dort zuletzt vor ein paar Jahren mit meiner Mutter, vor sehr viel mehr Jahren mit meinem Freund Frank, beide leben nicht mehr. Einen aus dem anwesenden Brüder- und Schwesternkreis ereilte die frohe Botschaft: du bist Großvater, deine liebe Frau Oma.

16. Oktober 2020

Das Pflaster auf meinem linken Oberarm hat überlebt: es markiert die Stelle, da ich am gestrigen Nachmittag meine erste Grippeimpfung seit Jahren empfing. Jahraus, jahrein lehnte ich die Impfung ab, nicht weil ich einer der bescheuerten Impfgegner bin, sondern weil es mir nach der letzten so miserabel ging wie nie in all den Jahren ohne Impfung. Man lässt sich aber als älterer Herr mit Risikogruppen-Zugehörigkeit gern von seinen leiblichen Kindern beiderlei Geschlechts überreden. Mein Schrittzähler registriert dank diverser Gänge, darunter zwei zur Apotheke, wieder einmal eine nennenswerte Zahl: 11148, was ich zuletzt im Kamptal erreichte, nur dort bei wesentlich besserem Wetter. Ein gewisser Johann Georg Sulzer hat heute seinen 300. Geburtstag, geboren in Winterthur in der Schweiz, gestorben am 27. Februar 1779 in Berlin, ich kenne ihn aus der Geschichte der Ästhetik, las allerdings bestenfalls Bruchstücke aus seinen Werken, jetzt aber sehr lange gar nichts.

15. Oktober 2020

Nachdem alle einmal mit dem Tesla aus Dresden mit oder selbst gefahren sind, verabschieden wir uns heute nach dem Frühstück, die Dresdener wollen noch Thüringer Wurst kaufen, die Berliner mit zu uns kommen, ehe sie nach Gera weiter reisen. Wir werden vor der Haustür abgesetzt, die leere Weinkiste durfte ich in Frauenwald stehen lassen, die leeren Flaschen warfen wir brav in dortigen Glas-Container. Zu Hause eine kurze Erinnerung an unseren ersten Spaziergang in Liechtensteins Hauptstadt Vaduz vor 25 Jahren, zwei Jahre später waren wir wieder da und sahen wesentlich mehr, weil wir mehr Zeit hatten. Noch hundert Jahre früher wurde Alfred Neumann geboren, der Autor, der 1952 in Lugano starb, nicht jener Politiker, den es in der DDR bis ins Politbüro der SED verschlug und der gern im Präsidium einschlief, wenn am Pult die üblichen Endlosreden gehalten wurden, lang ist es her. Er überlebte seinen Namensvetter um fast 50 Jahre, sein Nachruhm nicht.

14. Oktober 2020

Nachtrag: Statt in Lugano wie vor 25 Jahren sind wir heute in Frauenwald, es passt zur Lage. Wir haben leidlich geschlafen, gut gefrühstückt. Zum Geburtstag passt aber überhaupt nicht das Wetter. Es gießt vom Morgen bis zum Abend ohne jede Unterbrechung. Die Kutschfahrt, die wir vom Bunkermuseum aus unternehmen wollten, entfällt, es ist zu nass und zu kalt. Die Wanderung zum Museum entfiel schon vorher, wir fuhren mit den Autos. Vieles im Bunker erinnerte mich an meine NVA-Zeit, die Monate als Entgifter. Die Wegzehrung in fester und flüssiger Form, die wir eigens separat in eine große Tragetasche mit der Aufschrift Willmersdorfer Arcaden verstaut hatten, muss nun wenigstens teilweise im Kegelkeller verspeist werden. Dort wird es weder langweilig noch zu eng. Wir sind allein auf beiden Bahnen, die Enkel kegeln mit unermüdlicher Ausdauer stundenlang, ich bin wegen des torsionsunfähigen Rückens befreit und darf zuschauen. Gestern saßen wir länger.

13. Oktober 2020

Für den Fall, dass am Vorabend ein Rotweinkuchen gebacken werden muss, sollte der gute Gatte ein Flasche auf Vorrat halten, die für solche Zwecke gut genug ist. In Ermangelung dieser weisen Vorratswirtschaft musste ich vor 20 Jahren eine gute Flasche öffnen, getröstet, dass es ja nicht viel sei, was gebraucht werde. Fünf Jahre früher schauten wir uns zwei Inseln im Lago Maggiore an und fuhren an einer vorbei. Heute fahren wir weder an Inseln vorbei noch öffne ich guten Rotwein für einen Kuchen, obwohl wir am Nachmittag auch Kuchen essen werden, aber gekauften. Zu den guten Nachrichten gehört, dass es nicht nur Unternehmen wie die Lufthansa gibt, die ihre Kunden ewig auf Rückerstattung warten lassen, wenn Flüge storniert wurden. Unsere stornierte Reise war noch gar nicht richtig storniert, als sich der gezahlte Reisepreis komplett wieder auf meinem Konto einfand, ich sah es gestern zu später Stunde. Morgen hier eine Sendepause aus festlichen Gründen.

12. Oktober 2020

Am 12. Oktober 1995 traten wir eine Reise zum Lago Maggiore an, eine der letzten gemeinsamen Reisen der gesamten Familie, denn es galt, den vierzigsten Geburtstag des weiblichen Familien-Oberhauptes in kleiner Runde und unter südlichem Himmel zu feiern. Am Anreisetag schauten wir vor allem aus dem Busfenster, ohne Maske natürlich und vertraten uns kurz vor dem Bernardino-Tunnel auf Schweizer Boden die Füße: strahlend blauer Himmel dort, ehe es weiter ging Richtung Premeno, wo wir oberhalb des Sees und ohne Seeblick das Hotel Pian Nava bezogen. Für mich war es bereits die sechste Italienreise, fürs Geburtstagskind die fünfte seit 1991. Ein Vierteljahrhundert seither, zweimal Italien 2020 fehlt nun für immer in der Statistik. Wir ringen mit Kernfragen wie: Dürfen wir feiern, aber nicht wohnen oder beherbergt werden, aber nicht feiern? Dürfen wir Gäste zusammenführen, die aus unterschiedlichen Bundesgebieten kommen, obwohl sie gesund sind?

11. Oktober 2020

Das wäre der 92. Geburtstag meiner Mutter geworden, doch schon den 91. verfehlte sie um zwei Wochen. Unmittelbar unter meinem Bildschirm steckt noch ihre letzte Erinnerungsnotiz vom 13. September 2019, in der sie festhielt, wer am 21. September zu ihr zu Besuch kommt. Noch immer liegen Nachlass-Dinge bei uns auf Stapeln und in Kartons, ein handgeschriebenes Reisetagebuch aus dem Jahr 1961 bewahrt ein seltsames Dokument: der Kaderleiter des Rates des Kreises Ilmenau teilt meinem Vater unterm Datum des 26. Mai 1961 mit, dass die Kaderabteilung die geplante Reise in die Sowjetunion, eine Touristenreise, befürworte. Es war das Reiseprogramm Nr. 15b/61, 19 Tage Aufenthalt im Gastland mit dem ausdrücklichen Hinweis: Ehepaare haben keinen Anspruch auf Zweibettzimmer. Es war eben doch nicht alles gut im real existierenden Sozialismus, wenigstens für Ehepaare nicht. Meine Thornton-Wilder-Kritik ist genau 2000 Worte lang geworden, glatter Zufall.

10. Oktober 2020

Die Absage kam schon gestern, heute erst las ich sie: unsere Reise nach Italien vom Mai ist zum zweiten Male in diesem Jahr gestorben, auch der neu angesetzte Termin ist dank der fröhlichen Corona-Entwicklung perdu, der Unterschied liegt nur darin, dass die Reise jetzt komplett bezahlt ist und wir hoffen müssen, das Geld zurück zu bekommen. Es wäre schön gewesen, liebe Kriegsgräber, euch in diesem Jahr doch noch zu sehen, ob es dann 2021 etwas wird, wollen wir momentan gar nicht  in Erwägung ziehen. Von Harold Pinter, der heute 90 Jahre alt geworden wäre, habe ich mal eben rasch nichts gelesen, meine letzte Lektüre liegt 13 Jahre zurück, das war eine Zeit, da Marcel Reich-Ranicki sich noch zu neuen Nobelpreisträgern äußerte. Dem Pinter gönnte er den Preis, fand aber, er käme viel zu spät. Thornton Wilders Meininger „Wir sind noch einmal davongekommen“ war den Ausflug wert. Meine Notizen fülle ich heute noch auf und gehe erst morgen ans Schreiben.


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