Tagebuch
15. September 2020
„Nachtwache“ heißt das Buch von Hanns Cibulka, das ich gestern zu späterer Stunde zu lesen begann und heute, ehe wir das herrliche Wetter zu einem Ausflug nach Sohnstedt nutzten, schon zu Ende brachte. Zwei Bücher signierte mir Cibulka am 27. Oktober 1989, eben diese „Nachtwache“ und den Gedichtband „Losgesprochen“. Erst 2014 ergriff ich die Gelegenheit seines zehnten Todestages, um ein paar Zeilen über ihn zu schreiben, das Ergebnis steht noch im Netz und kann dort nachgelesen werden. Er gehörte zu denen, die man gern die „Stillen im Lande“ nennt, weil sie nicht vor den Kameras hopsen, sobald die sich einmal auf sie richten, ja nicht einmal wirklich in diese Situationen geraten, dass der ARD-Korrespondent oder die ZEIT-Korrespondentin just da gerade lustwandeln, wo Cibulka aus seiner Gothaer Bibliothek kommt, um ein Statement über alte Griechen abzugeben. Ein Schriftsteller, der immer eine feste Anstellung hatte, ein DDR-Wundertier.
14. September 2020
Eine sehr blondierte Frau in einem sehr weißen offenen Audi zeigte, dass man auch an Montagen Sperrschilder missachten darf, wenn man blond genug ist, um in die Kopernikusstraße abbiegen zu dürfen, obwohl die auch gesperrt ist. Wahrscheinlich ist bereits die Erwähnung der Haarfarbe purer Sexismus, sie hätte ja aber auch Kopftuch tragen können wie Grace Kelly auf der Haarnadelstraße nahe Monaco. Zu denken wäre jetzt an Erich Ebermayer, der heute vor 120 Jahren geboren wurde und acht Tage nach seinem 70. Geburtstag 1970 starb. Leider weiß ich (fast) nichts von ihm, las nie etwas von ihm und bin auch vorerst nicht willig, etwas von ihm zu lesen. Freunde hat er ohne mich genug. Der Reiseteil der WELT vom Samstag hatte eine ganze Seite über die dänische Insel Läsö, die tatsächlich aber Læsø geschrieben wird, was uns die Dänen voraushaben. In meiner Archivkiste fand ich heute tatsächlich ein Heft „Erlebnisreiche Inselferien 1997“, Dokument meiner Sehnsucht.
13. September 2020
Man soll nicht glauben, wie viele Kraftfahrer und Kraftfahrerinnen meinen, ein Schild mit der Bedeutung „Durchfahrt verboten“ verlöre am Wochenende seine Bedeutung vollständig, man dürfe es beliebig missachten. Seit 2000 missachte ich selbst Hirschbraten, der Karawankenhirsch, den ich am 12. September 2000 in Egg am Faaker See verspeiste, lag mir am 13. September noch immer im Magen wie weiland dem Wolf die Wackersteine. Nun gut, heute strebten wir an, in Königsee zu Mittag zu essen, eine Straßensperrung hätte uns aber gezwungen, über Rom, Wien und Dröbischau zu fahren, was die Essenzeit fraglich gemacht hätte. So hielten wir in Dörnfeld auf der Heide, wo wir am Ort mancher Familienfeiern mit und ohne Großeltern sehr gut und sehr preiswert tafelten. Wir spazierten ein wenig umher und ich setzte zu Hause die Arbeit an meiner Sternheim-Datei fort, die ich unbedingt so weit führen wollte, dass ich nach meiner Kritik nicht noch einmal ranmusste.
12. September 2020
Erinnert sich noch jemand an Werner Toelcke? Seinen heutigen 90. Geburtstag hat er gar nicht so sehr verfehlt, er starb am 19. Oktober 2017, 87 Jahre alt und weitestgehend vergessen. Die paar Krimis, die ich von ihm besaß, brachte ich vor einem Jahr mit vielen anderen Büchern in das Bücherdorf in Sachsen-Anhalt, das die Bibliothek meiner Mutter zu übernehmen bereit war. In Erinnerung sind mir die Fernsehkrimis, in denen er den Privatdetektiv Weber spielte, einen aus dem Westen, wohin der in Hamburg geborene Toelcke 1984 auch selbst wieder übersiedelte. Glück hatte ich gestern in Meiningen: ein einsamer Parkplatz war noch frei am gesperrten Platz mit Rummel und später sogar Feuerwerk, den besetzte ich. Vor 15 Jahren sahen wir die Wolfsschanze, von der viel Beton übrig ist, bemoost und bewachsen. Der Autor eines Wolfsschanzen-Buches verkaufte und signierte es, nachdem er uns alles gezeigt und erläutert hatte, was zu zeigen und zu erläutern war.
11. September 2020
Eigentlich hatte das Theaterjahr gar nicht schlecht begonnen: am 10. März stellte ich die sechste Kritik des Jahres ins Netz, bis zur Sommerpause sollten elf weitere folgen. Dann aber, erinnern wir uns wie an ferne Zeiten, ging plötzlich gar nichts mehr: schon für mich ausgedruckte Karten sind zu Lesezeichen geworden. Heute aber ist für mich das, was wir nach dem hochdeutschen Lock Down nun Re-Start nennen. Ich sehe in Meiningen „Die Kassette“ von Carl Sternheim, die ich eigentlich am 24. April sehen wollte. Nun ja. In Vorbereitung eines Artikels für FREIES WORT, der dort am 1. April 2003 gedruckt wurde, las ich nicht weniger als acht Sternheim-Stücke zwischen dem 15. Februar und dem 16. März 2003, meine umfangreichen Notizen sind noch mit Schreibmaschine geschrieben, ein paar Blätter sogar mit Hand, schwer vorstellbar heute. Nur zu „Die Kassette“ gibt es eine Datei auf meiner Festplatte, die ich jetzt noch ein wenig aufbesserte: ich bin gut vorbereitet.
10. September 2020
Zwölf Stunden waren wir unterwegs von Ilmenau bis Poznan am 10. September 2005, wir trafen unsere Reiseleiterin Cindy wieder, die uns auf der „Tour de France“ begleitet hatte und sie verriet uns, dass sie zum Jahresende aufhören wird in ihrer Firma und nach Südafrika ziehen, dort heiraten will. Poznan überraschte uns sehr angenehm. Unterwegs sahen wir die Straße in Glogau wieder, wo uns 2004 mit Ketten befestigte Ansichtskarten in Erstaunen versetzt hatten: sicher gegen Diebstahl. Zwischen Bautzen und Görlitz hatte es einen schweren Unfall gegeben, wir fuhren an der schon zugedeckten Leiche vorbei. Poznan war nur Übernachtungsort vor der Weiterreise nach Mikolaijki. Heute wollen wir zum Sommerfest an den Großen Teich, noch sieht es nicht wie Sommer aus. An Franz Werfel denke ich natürlich heute auch, sein 130. Geburtstag erinnert mich an Offenes im ganz privaten Pflichtenheft. Gestern Sichtung der Eloesser-Theaterkritiken in meinen Archiv-Beständen.
9. September 2020
Der 9. September 2000 war ein Samstag, wir siedelten von Terenten in Südtirol nach Egg am See am Faaker See um. Kurz vor der Grenze eine dieser Stellen, wo Busse anhalten, um deren Insassen zum Großkauf zu animieren, Jahre später war dort alles fast ausgestorben. Erster Halt hinter der Grenze in Sillian, weil ich Arnolt Bronnens „Anarchie in Sillian“ noch im Kopf hatte, am Ende meiner Studentenzeit gelesen. Am Faaker See der reine Wahnsinn, Unmengen Harley Davidsons, kein Parkplatz zu sehen und als wir vorbei waren an unserem Feriendorf, gab es keine Möglichkeit, zu wenden, wir drehten eine komplette Runde um den See, befuhren später einen Schleichweg und kamen dennoch erst 16.45 Uhr zum Auspacken. Bis spät das unverwechselbare Harley-Geräusch, wir sahen Unmengen von Buden, Zelten, überall Heavy Metal, zwei Zelte mit Striptease. Das Reisebüro hatte uns vorgewarnt, wir die Warnung nicht ganz ernst genommen. Es war ein Erlebnis.
8. September 2020
Gut geschlafen im neuen hohen Bett. Draußen nur zehn Grad, der Himmel aber so blau wie vor zwanzig Jahren, als wir vom Antholzer See zum Stallersattel und nach Osttirol auffuhren. Das ist eine tolle Tour mit genau festgelegten Zeiten für Auf- und Abfahrt, denn die Straße ist für den Begegnungsverkehr zu schmal. 412 Höhenmeter zu überwinden ist ein kleines Abenteuer, oben wartet der Nationalpark Hohe Tauern mit dem kleinen Obersee, den wir umwanderten. Wir bleiben länger als geplant, nutzten erst die 15-Uhr-Abfahrt, unterwegs ein verlassener Grenzbau, ein Kitschblick auf den Antholzer See, der Tag vor der Abreise nach Kärnten, wo wir mitten in die European Bike Week geraten. Und wo meine gute alte Nikon 801 schon vorher gezeigte Marotten zur Blüte bringt, es gibt reihenweise verdorbene Fotos. Auf dem Rückweg von Antholz noch ein Einkaufshalt in Bruneck, ich finde ein belgisches Bier, das ich noch nicht kenne, für die Sammlung.
7. September 2020
Wenn eine Lieferung für die Zeit zwischen 7 und 13 Uhr angekündigt ist, dann nennt man das je nach Temperament einen Scheiß-Vormittag oder einen Scheißtag. Man steht also auf, obwohl man noch nicht muss, um nicht in der Unterhose dem Lieferanten die Tür öffnen zu müssen, falls er zeitig klingelt, dann hat man ständig das Gefühl, nichts Sinnvolles beginnen zu können, weil nach Murphys Gesetz genau dann die Unterbrechung kommt, wenn die Maschine rattert. Wir hatten das extraordinäre Vergnügen, von unserem Lieferanten angerufen zu werden, er stehe etwa 200 Meter Luftlinie von uns und sein Auto springe nicht mehr an. Mein neues Bett kam per Sackkarre von der Pannenstelle und der 150. Geburtstag von Alexander Iwanowitsch Kuprin, dem ich meinen Tag im Wesentlichen widmen wollte, hatte das Nachsehen. Ihm wird es egal gewesen sein, es kennt ihn in der alten Bundesrepublik ohnehin niemand. Und der neue Teil der alten Republik, der zählt nicht.
6. September 2020
Für die Stelle des Sekretärs der Deutschen Bischofskonferenz hätte ich mich auch dann nicht beworben, wenn mir die Stellenanzeige eher in die Hände gefallen wäre. So landet sie heute im Papierkorb, der auch die geschredderten Telekom-Rechnungen jener Jahre aufnimmt, die nicht mehr aufgehoben werden müssen, weil die Lagerfrist verstrichen ist. Die Krankenakte meiner Mutter muss zehn Jahre aufbewahrt werden, was die Frage aufwirft, ob die Hausärztin meiner Mutter sie mit nach Hause nimmt, wenn sie in den Ruhestand geht oder ihrer Nachfolgerin übergibt, damit die von Anfang an auch einen hübsch vollen Keller hat. Ich stieß dieser Tage auf einen Ordner, der meine gescheiterte Fonds-Anlage bei Barclays Bank dokumentiert. Die Anlage scheiterte nicht an mir, wohl aber an der Bank, die plötzlich keine Lust mehr hatte, diese Fonds anzubieten und mir deshalb den Rückkauf mit Verlust anbot. Dank Brexit verließ ich diese Bank ohne alles Bedauern.
5. September 2020
Victor Auburtin, Vollblutjournalist, der aus rein biologischen Gründen seinen heutigen 150. Geburtstag nicht selbst feiern kann, verzeiht mir aus seinen himmlischen Gefilden vermutlich, dass auch ich nicht zum Feiern komme an diesem Tag, denn ich habe in selbst auferlegter Pflicht heute den Landesverbandstag des Deutschen Journalistenverbandes Thüringen in Weimar besucht, daselbst gar einen Redebeitrag geliefert. Wir saßen alle sauber getrennt jeder an einem Tisch, hatten jeder eine eigene Kaffeekanne und drei kleine Flaschen Wasser, von denen ich eine fast leer trank. Der Kaffee war sehr gut, nur kann ich nicht mehr als eine Tasse trinken, was mich in dieser Hinsicht zu einem komischen Journalisten macht. Aber ich rauche ja auch schon fast 30 Jahre nicht mehr. Aus Andorra brachte ich uns vier Flaschen andorranischen Liköres mit, was nichts darüber aussagt, ob ich Sorgen habe. Unser aller Suchmaschine findet nichts Aktuelles zu Auburtin. Allzu logisch?
4. September 2020
Nicht weniger als 39 Fotos dokumentieren unseren 4. September 2000. Von Terenten auf der Sonnenterrasse von Südtirol aus starteten wir an der Abfahrt nach Antholz vorbei, wo wir am Vortag die Biathlon-Anlage besichtigt hatten, durch das Gadertal mit seinen vielen vom Weltcup-Zirkus bekannten Ortsnamen zu einer großen Pass-Rundfahrt. Erster Halt Kollfuschg, dann das Grödner-Joch, das Sella-Joch, Abfahrt zum Lago di Fedaia unterhalb des Marmolada-Massivs, dort eine kleine Pause für das so genannte leibliche Wohl, dann neue Auffahrt, nun zum Pordoi-Joch mit seinem deutschen Soldatenfriedhof für 9000 Gefallene, überwiegend aus dem Ersten Weltkrieg. 192 Kilometer legten wir zurück mit unserem noch ziemlich neuen Toyota Avensis, den ich erst 2010 in die ewigen Auto-Jagdgründe beförderte. Das Tagebuch registriert den mit Abstand tollsten Tag in Südtirol, rückblickend kann ich das Urteil kaum einschränken. Heute einfach nur Freitag und grau.