Tagebuch
6. Mai 2020
Wenn ihr nicht zum Wein kommen könnt, kommt der Wein eben zu euch. So steht es auf der Website eines aus werbetechnischen Gründen hier nicht näher zu bezeichnenden Weingutes in der Wachau, das wir in den zurückliegenden sieben Jahren vielfach aufsuchten, wenn wir am Ort in unserer Ferienwohnung hausten. Jetzt sind die 2019er Weine alle schon in der Flasche, weshalb ich eine Bestellung hinaus sandte. Wir trinken dann halt hier aus unseren Hausgläsern, nicht die sonst üblichen Achtel und leider ohne die stets netten Gespräche mit dem Seniorchef, der auch ein Mann des Theaters ist. Im nächsten Jahr werden wir wieder da sein und eigens vorher den Heurigen-Kalender studieren, um den richtigen Termin zu erwischen. Meine beiden Zahnarzttermine morgen und übermorgen sind abgesagt, die Technik ist noch nicht fertig, ich verlängere die Weichnahrungs-Woche eben ein bisschen. Vor 30 Jahren starb Irmtraud Morgner, die DDR lebte noch etwas weiter.
5. Mai 2020
Mein schlechtes altes „Autorenlexikon deutschsprachiger Literatur des 20. Jahrhunderts“ verbindet den Selbstmörder Paul Celan mit dem Todesdatum 5. Mai 1970, womit er den Geburtstag von Karl Marx blockieren würde. Die große Internet-Enzyklopädie WIKIPEDIA verlagert den Tod auf den 20. April, was den Geburtstag eines gewissen Führers beeinträchtigen würde, schreibt vorsichtig „vermutlich“ dazu, denn mit dem Datieren von Wasserleichen ist es so eine Sache. Da machen die Dichter keine Ausnahme von den Nicht-Dichtern, die als Unbekannte in der Seine schwimmen. Für mich war Celan zeitlebens der Mann mit Verführerblick, der eher aussah wie ein großer Aufreißer, nicht wie ein Todesfugen-Mann. Aber seit wann müssen Leute aussehen, wie sie sind? Selbst von Mördern wissen wir, dass sie ihre Nachbarinnen stets freundlich grüßten, selten bis nie ihre Katzen vergifteten, ehe sie zum Amoklauf schritten. Im November gibt es noch einen sicheren Celan-Tag.
4. Mai 2020
Unter den Hermann Schreibers dieser Welt war einer des Jahrgangs 1929, der kürzlich starb und den man vom Fernsehen kannte, nämlich aus der NDR-Talkshow. Dann war einer des Jahrgangs 1920, der wäre just heute 100 Jahre alt geworden und nahe heran hat er es tatsächlich geschafft: er starb ausgerechnet an seinem 94. Geburtstag 2014. Im Bücherverzeichnis meiner Eltern findet sich dieser Österreicher zweifach: mit „Sturz in die Nacht“ und mit „Land im Osten“, beide Bände wanderten in einer von 44 Bananenkisten nach Sachsen-Anhalt ins Bücherdorf. In meinen Beständen ist er mit einem einsamen Titel vertreten: „Das Schiff aus Stein. Venedig und die Venezianer“. Es liegt auf dem Stapel meiner Venedig-Bücher sehr weit oben, was bedeuten könnte, dass er bald an der Reihe ist, gelesen zu werden. Einstweilen halte ich mich noch an William Dean Howells, der kein DDR-Autor war, allem Anschein zum Trotz, sondern Amerikaner, den der Westen konsequent ignorierte.
3. Mai 2020
An niemanden denken, geht einigermaßen, an nichts denken geht nicht. Während ich des Weges gehe, 5200 Schritte am Stück unter langsam kräftiger werdender Maiensonne, denke ich den Satz: Dem Haar ist es egal, in welcher Suppe es gefunden wird. Sätze, die nach diesem einen Satz fallen könnten, gar müssten, fallen mir keine ein. Es ist ein Sonntag wie mancher, immerhin drei Kapitel über Venedig, eine Geschichte, die ich, wenn ich müsste, den schönsten Geschichten zuordnen würde, die in der DDR geschrieben wurden, ich muss aber nicht. Es gibt weiche Mahlzeiten für mich, nachdem auch das zweite Provisorium nicht halten wollte, was bis mindestens kommenden Donnerstag Geduld erfordert und auch dann werde ich nicht auf Nussknacker umschulen. Man kann wieder in den Ilmenauer Tierpark, nur muss man bis zum letzten Einlass da sein. Die kleine Ziege, die fürwitzig ein neues Brett erkundet und beinahe ausrutscht, sieht man von außen ohne Eintritt.
2. Mai 2020
Minuten vor Mitternacht war ich fertig mit dem Riesenvergnügen, „Das Vergnügen“ zu lesen. Wäre ich jünger, hätte ich mir vor die Stirn geschlagen: Warum hast du das nicht schon früher gelesen? Ich bin aber nicht jünger und mit 67 einer 70-Jährigen irgendwelche literarischen Liebes- oder ähnliche Erklärungen zu machen, ist auch irgendwie nicht standesgemäß. Natürlich ahne ich, was mich abhielt, denn inzwischen habe ich auch seitenweise Kritiken zu „Das Vergnügen“ gelesen. Ich ließ mich nur ungern auf die Figur des Arbeiters in der DDR-Literatur stoßen und wenn sogar Anneliese Löffler (bei Volker Braun: Frau Professor Messerlein) das Buch toll fand, konnte es kein Buch für mich sein. Weit gefehlt, aber tief in die verkehrte Welt der DDR hinein führend! Man las nicht, was gelobt wurde allseits. Rückblickend kann ich mich trösten: der Westen las es auch nicht, war nicht dissidentisch, war „Literatur der Arbeitswelt“, roch irgendwie nach Gruppe 61 und Erika Runge. Alles Unfug: Angela Krauß hat 1984 ein großes Buch geschrieben, so dünn es auch war.
1. Mai 2020
Nicht der Tag der Arbeit sei heute, sondern der Tag der Kurzarbeit. Da sage noch einer, unsere beitragsfinanzierten Hauptkommentatoren hätten keinen Humor. Ein erster Mai ohne Bratwurst ist wie ein Hermlin ohne Falschaussage zu seinem Leben im Exil bis 1945. Während ich mich in zarten Schritten durch eines meiner zahlreichen Venedig-Bücher knabbere, reißt mich ein Blick auf meinen Arbeitstermin-Kalender buchstäblich aus der Bahn: morgen hat Angela Krauß ihren 70. Geburtstag, damit die nicht überraschende Überraschung signalisierend, dass die Angehörigen des Jahrgangs 1950 dran sind mit dem Siebzig-Werden. Eben noch mimten sie den Rentnerlehrling, manche blieben der Literatur treu und schon: Rums. Den Jahrgang 1950 habe ich in Griffweite, ziehe die bescheidenen drei Krauß-Bücher heraus, die ich besitze, darunter das Debüt „Das Vergnügen“ und lese mich fest. Der Tag vergeht, ohne dass ich ins Tagebuch schreibe. Deswegen.
30. April 2020
Darf ein Kommunist mit fest haftender Klassenkampfmoral eine Corona-Maske tragen, die von ausgebeuteten Frauen in Indien genäht wurde im 14-Stunden-Tag? Das wäre einmal eine Frage, die auch ohne Virologen-Beitrag geklärt werden könnte. Dürfen Feuilletons, die nicht über Theater, nicht über Konzert, nicht über Ausstellung berichten können, selbständig auf die Idee kommen, wenigstens vorübergehend mehr über Bücher schreiben zu lassen, es müssen auch nicht immer die üblichen Hype-Schwarten der üblichen Bestsellerlisten oder der jüngsten Long-List sein? Ich kann an Eides statt versichern, dass Bücherlesen im Homeoffice sehr gut geht, über Bücher und ihre Autoren, die auch Autorinnen sein dürfen, schreiben, selbstredend auch. Weil der April heute zu Ende geht, etwas zum April, von Martin Stephan: „Bevor es richtig Sommer wird, passiert es in manchen Jahren, dass der April schon sonnenhell und sommerheiß sich gibt.“ In manchen, ja.
29. April 2020
Wir erobern neue Wanderstrecken. Seit Montag stemmen fleißige Werktätige des kapitalistischen Bauwesens in unserem Nebenaufgang den Betonboden im Keller auf für das Loch, in das hinein später der Fahrstuhl sinken wird. Wir kennen die Übung von unserem Fahrstuhl, doch waren wir damals noch Angehörige der arbeitenden Bevölkerung, während wir jetzt Rentner sind. Heute hatte ich vom Dauer-Wummern schon am späten Vormittag derartige Kopfschmerzen, dass ich unleidlich zu werden drohte, was extrem selten vorkommt: die Kopfscherzen meine ich natürlich nur. Weil das Bauschaffen auch in jene Zeit reicht, in der meine Nachmittagsruhe fällig wird, brachen wir kurz entschlossen ins Schortetal auf. Liefen eine schöne große Runde von reichlich fünf Kilometern und kamen nach Hause, als die Pressluft nicht mehr presste, der Großventilator nicht mehr lüftete und überhaupt das Leben sich darbot, wie es eben so ist. Lektüre von William Dean Howells fortgesetzt.
28. April 2020
Noch immer sterben unsere amerikanischen Freunde unfroh vor sich hin, die Briten versuchen, in den Kampf um Platz 3 der Sterbestatistik einzugreifen, während ihr Boris sich wieder dem Regieren widmet. Eines meiner gestern eingesetzten Provisorien liegt bereits für den nächsten Termin im Regal, es wollte nicht haften, als ich auf einen wattigen Toast biss. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte ich versucht, mit den Restzähnen eine Haselnuss zu knacken, wovor mich die vermummte Jung-Dame beim Zahnarzt eigens gewarnt hatte. Heute nur Weichnahrung, die zwischen Zunge und Gaumen zum Schlucken gequetscht wurde, auch keine Groß-Märsche heute wie schon gestern nicht: es zittern die morschen Knochen. Es hat sich mir eben ein Kleinwerk zu Bruno Apitz entrungen, dem ich Persönliches beimischte, was mit fortschreitendem Alter wichtiger wird. Wer erinnert sich schon meiner jüngeren Jahre, wenn nicht ich und nochmals ich, wer denn??
27. April 2020
Nicht immer ist die langsame Rückkehr zur Normalität ein erfreuliches Geschehen. Ich zum Beispiel sah gestern entsetzt, dass die Politiker-Talk-Runde wieder da ist: also das Geschwafel der Männer und Frauen, die sich nie ausreden lassen, die die Fragen der Moderatorin nicht beantworten, die alles besser wissen als jeweils alle anderen in der Runde, kurz, die so wunderbar durch ruhige Experten ersetzt waren für einige wenige schöne Wochen. Nicht ausdenkbar, was wir 2021 für Mist sehen werden, weil ja derzeit auch nichts gedreht wird. Tatorte mit Mundschutz? Wir werden auch im Theater nichts sehen, weil ja nichts geprobt wird oder wird geprobt? Und dann sitzen diese Talk-Marodeure da und versuchen sich gegen Fußball stark zu machen. Man müsste ihnen aus kurzer Distanz einen direkten Freistoß gegen die Rüben ballern. Heute dann knapp drei Stunden flach beim Zahnarzt, der Termin vom 6. April. Nur ich nicht vermummt, dafür die anderen drei sogar doppelt.
26. April 2020
Als ich mit meiner neuen rabenschwarzen Corona-Maske die Tankstelle stürme, um mir meine sonntägliche Sonntagszeitung zu holen, werfen sich die anderen Kunden zu Boden und falten die Hände im Nacken, während die Verkäuferin kleinlaut sagt: „Es ist aber kaum Geld in der Kasse.“ Das ist natürlich frei erfunden: wahr ist nur die schwarze Corona-Maske, am Vormittag frisch genäht, weil alle anderen mir die Ohren zu Segelflieger-Löffeln verunstalteten, sie waren einfach zu knapp. Die Gummilitze, früher Schlüpfer-Gummi genannt, ist längst vom Markt verschwunden, von den großen Feuilletons noch unbemerkt, weil die auf die ersten Berichte vom zurückkehrenden Klopapier spekulieren. Gummilitze vom Corona-Großprofiteur Amazon wird voraussichtlich Mitte bis Ende Juni geliefert, geht auch bei Amazon Prime nicht schneller. Bis dahin aber könnte die Maskenpflicht bereits durch eine Ganzkörperkondom-Pflicht ersetzt sein, Probelauf in Bayern.
25. April 2020
Einst hatte ich einen Kollegen des Nachkriegsjahrganges 1948, der saß in einem Wohnwagen auf dem Parkplatz nahe des Hauses, in dem gerade eben die Räume renoviert wurden, die er und die anderen dann als neue Redaktion beziehen sollten. Da klopfte es an die Tür, so oder ähnlich hörte und las ich es inzwischen sicher ein Dutzendmal, und draußen stand: Norbert Blüm. Der Norbert Blüm. Mein Kollege gab bereitwillig Auskunft über die Interna seines Hauses, Geheimnisträger war leider nie eine berufliche Option für ihn und so konnte Norbert nach Kontakt mit einem Vertreter des Volkes, das sich mit seinem Volk zu vereinigen trachtete, zu Hause berichten: die sind ganz in Ordnung da hinter den Bergen, sie tragen ihr grasgrünes Herz am linken Fleck. Nun ist der Norbert tot. Was mich daran hindert, hier und heute über Liebesperlen zu parlieren, was ich zwar dennoch tun werde, nur halt anderen Ortes. Dass wir heute aus Italien heimkehren würden, erwähne ich nur.