Tagebuch
23. Juni 2020
Mathematik-Professor muss man natürlich nicht sein, um auf die Idee zu kommen, dass nach 70 auch noch die 106 käme, die 115 und, das hätte Reife fürs Guiness-Buch der Rekorde, die 124, die die Quersumme 7 aufweisen. Ich halte das fest und werde, wenn ich 2023 meine persönlich-privaten 70 erreiche, natürlich all meine Hoffnungen auf das Jahr 2059 richten, welches meinen 106. Geburtstag mit sich brächte. Ich werde dann auf keinen Fall mehr meinen Geburtstagswein aus der Wachau selbst aus dem Keller holen. Mein dann 75 Jahre alter Sohn sicher auch nicht. Offen ist auch, ob uns dereinst noch jener Holunder-Gelee schmecken wird, für den wir heute nach langer Periode schlechten Holunderblüten-Wetters die Aroma-Basis ernteten an den Teichgewässern von Oberpörlitz. Vor 15 Jahren las ich 29 Seiten von Friedrich Schiller über Moses in den höheren Lagen Südtirols, wie sahen die Churburg. Für zu Hause die ersten sechs St. Magdalener eingepackt.
22. Juni 2020
Verleger Christoph Links, als er noch weit davon entfernt war, ein Verleger zu sein, sprach eines schönen Tages zu mir, er hatte eben ein wenig von Helga Schubert gelesen: „Jetzt verstehe ich, dass Du sie magst.“ Ich mochte sie tatsächlich, als ich „Lauter Leben“ gelesen hatte, 1975 als ihr erstes Buch im Aufbau-Verlag erschienen. Natürlich gesellte sich „Blickwinkel“ zum Erstling und dann folgte „Judasfrauen“. Sie gehört zum Jahrgang 1940, dem ich ein Buch widmen wollte. Mit „Die Andersdenkende“ schloss ich das Sammelgebiet Schubert für mich ab. Und nun sehe ich in der BERLINER ZEITUNG ihr Porträt, verbunden mit der Information, sie trete beim Wettlesen in Klagenfurt an, und nun lese ich, dass sie sogar, mit ihren 80 Jahren, den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, den sie vielleicht schon 1980 gewonnen hätte, wenn die kleine DDR sie hinaus gelassen hätte. Ein 70. Geburtstag führt mir vor Augen: danach kommt nie mehr Quersumme 7 im Leben.
21. Juni 2020
Dies wäre der 98. Geburtstag meines lieben Schwiegervaters Alexander geworden. Als wir gestern beim Griechen in Gehren feierten und seiner gedachten, dachten wir an Ess-Gewohnheiten von Großvätern, die unterschiedlicher nicht sein konnten, neugierig und wagemutig der eine, immer am glücklichsten mit einem Schnitzel der andere. Meine Kinder hatten das Glück, zwei Großväter zu haben, meine Enkel haben es auch. Zwei hatte auch ich, nur war halt einer im Westen, also hinter dem Mars. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Opa Alex aber, als er noch konnte, lobte meinen Tee, den ich damals noch aus Bremen bezog in immer neuen Variationen, inzwischen bin ich bei drei Sorten, die ich wechselweise trinke, gelandet. Erstmals nach längerer Pause heute wieder ein Fußgang: wir sahen ein fürwitziges schwarzes Eichhörnchen, angeblich verdrängen die unsere fuchsroten, wir sahen blühende Seerosen. Und ich schrieb den ganzen Tag an Walter Hasenclever.
20. Juni 2020
Es wird Zeit, eventuelle Exilorte zu suchen, Auswanderungspläne zu konkretisieren. Der Wahnsinn hat inzwischen auch die Berufsgruppe der Philosophen erfasst. Bis dato unbekannte Chargen aus bis dato eher unauffälligen Universitätskreisen erörtern die Frage, ob man Kant, also nicht den Ost-Hermann, sondern den Fernost-Immanuel, zu den Rassisten zu schlagen habe, was in der Folge bedeuten würde, dass sämliche Kantianer, dann die Neukantianer und alle, die nicht bei Drei auf den Fluchtbäumen sitzen, der öffentlichen weltlichen Exkommunikation unterzogen werden. Wenn ein ziemlich rabenschwarzer Mann darauf hinweist, dass Rassismus nicht nur Juden, sondern auch Schwarze traf, fällt das seit kurzem unter Holocaust-Verharmlosung und damit Antisemitismus. Es fehlen uns in Dumm-Deutschland nur noch Kerle mit den spitzen weißen Hüten. Und allen Ernstes behaupten Menschen, es sei keinesfalls mit DDR-Gesinnungsdiktatur zu vergleichen. Zum Kotzen.
19. Juni 2020
Am 19. Juni 2005 erwachten wir nach einer ersten Nacht im eiskalten Haus in Reschen/Südtirol und freuten uns, nicht erfroren zu sein. Die Vermieterin hatte eigens für uns, die wir aus dem Engadin anreisten, das Haus eine Woche vorzeitig geöffnet, es dauerte folglich, bis sich alles so weit wieder erwärmte. Immerhin hatten wir einen Blick auf den besonnten Ortler hinter uns, als schon der Mond am Himmel stand, auf dem Balkon war es warm genug, dort Rosé zu trinken und ein Büchlein zum „Don Carlos“ zu Ende zu lesen. Ich führte auch die „Schiller-Debatte 1905“ mit mir, später sprach ich vor erstaunten SPD-Frauen darüber, mit welchen Themen sich ihre seltsame Partei so hundert Jahre früher befasste. Schiller – da denken gute Sozialdemokraten allenfalls an Karl Schiller, also nicht den aus den Räubern. Ich pendle zwischen Walter Hasenclever und Stephan Hermlin, es gibt letzte Absprachen für morgen, da wir zum Geburtstag geladen sind an zwei verschiedene Orte.
18. Juni 2020
Man täuscht sich: ich hätte gewettet, dass mein erster und einziger Artikel zu Angela Davis eine Antwort auf eine fingierte Leserfrage war. Er war aber die Antwort auf eine fingierte Wählerfrage. Die bezog sich auf den bevorstehenden Prozess gegen Angela Davis und ich beantwortete die von niemandem gestellte Frage mit einem Fünfspalter 100 hoch unter der Überschrift „Angela 365 Tage im Kerker“. Mein Beitrag enthielt den Hinweis auf eine DFF-Sendung spät 22.25 Uhr im ersten Programm, Titel „Angela – Porträt einer Revolutionärin“. Heute schaut sie mir auf der Frontseite von „der freitag“ entgegen, nicht jünger geworden in den knapp 49 Jahren seit meiner Warnung vor den nicht gebannten Gefahren eines Justizmordes. Mein damaliger Beitrag erschien zufällig am 16. Geburtstag meiner lieben Gattin, die ich bis dahin zwar schon immer mal sah mit ihrer Ellen und ihren ellenlangen blonden Haaren, es dauerte aber noch dreieinhalb Jahre bis zur Teambildung.
17. Juni 1953
Da ist er nun wieder, der verloren gegangene Nationalfeiertag des Westens, an dem man dort, wo immer es ging, des so genannten Volksaufstandes in der DDR gedachte, an dem das Volk in sehr weiten Teilen gar nicht beteiligt war. Das Volk ist generell selten an Aufständen beteiligt, was sich in Sonntagsreden freilich anders darstellt. Am 17. Juni 1953, man kennt die Bilder aus unzähligen Wiederholungen im Fernsehen, sausten zahlreiche junge Männer mit Westfrisuren, Westhosen und Westhemden durch Ostberlin, gern zeigt man das Berolina-Haus und den brennenden HO-Kiosk, der das System ungefähr so symbolisierte wie ein Heimelektronik-Laden in den USA den alltäglichen Rassismus ringsum. Vermutlich die Volksdarsteller. An jenem 17. Juni 1953 warfen in Magdeburg Angehörige des Volkes das neue Buch von Stephan Hermlin aus den Fenstern der Druckerei und zündeten es an, angeblich fast die komplette Auflage. Ein Exemplar besitze ich.
16. Juni 2020
Wenn ich für den heutigen Tag nicht Elsa Triolet in meinen Terminkalender eingetragen finde, dann hat das eine sehr einfach Ursache. Ich kenne nur ihren Namen, weiter nichts von ihr. Ich besitze keines ihrer Bücher und gestehe gern, dass ich bis heute auch nicht registriert hatte, dass sie die Schwester von Lilja Brik war, auf die ich über den Umweg Majakowski neu gestoßen wurde, der mir wiederum auf dem Umweg über Stephan Hermlin in die Bahn stolperte. Denn der hat mehrmals in seinem Autorenleben über Majakowski geschrieben, ich vermute aus schlechtem Gewissen der Sowjetliteratur gegenüber, zu der man sich bekennen musste, wenn man in der DDR ein Autor war, der etwas darstellen wollte. Das aber wollte Hermlin auf alle Fälle. Und so tat er in einem 1948 erschienen Bericht aus dem Majakowski-Museum in Moskau, als müsse man die Briks, Ossip und Lilja, einfach kennen, was natürlich Unfug war. Man musste und muss sie nicht kennen. Kann aber.
15. Juni 2020
Aus der Erbmasse lagen drei kleine Krimis noch an einer Stelle, wo sie nichts zu suchen haben. Einer von William Wilkie Collins, einer von Erich Ebenstein, der eigentlich Annie Hruschka hieß und damit eine überraschende Namensgleichheit mit einem alten Kollegen aufweist, der dritte von Dietrich Theden, der nun rein zufällig heute Geburtstag hat, was ich nicht ahnte, weil ich ihn eben erst von meiner Lieblingssuchmaschine suchen ließ. Also, Dietrich Theden, nun stehst auch du in meinem Register für den Jahrgang 1857, dein Buch „Menschenhasser“ erschien 1985 im Verlag Das Neue Berlin und wenn ich es aufschlage, rieche ich die Bibliothek meiner Eltern in der Oberen Marktstraße in Gehren. Alle drei Bändchen standen ganz oben, nur mit Mini-Leiter kam man hoch. Am 15. Juni 1940 starb gegen 2.30 Uhr in einem Pariser Hospital der Schriftsteller Ernst Weiß, geboren in Brünn, nach Selbstmordversuch der Kombination Gift plus aufgeschnittene Pulsadern.
14. Juni 2020
Nur ausgewählte Bäckereien haben sonntags schon zeitig genug auf, um uns mit Frühstück zu versorgen. Aßen wir gestern noch auf der Hotelterrasse im 7. Stock mit Blick auf die Wilmi, saßen wir heute innen, weil es draußen vom späten Regen zu nass war. Die Park-Gebühren im Kant-Center sind stramm gestiegen, seit wir zuletzt dort standen. Da wir im Gegensatz zu früher das Auto aber nutzten, stand es nicht die ganze Zeit da. Erstaunlicher Verkehr heimwärts, unser neues Navi nimmt die Strecke über Halle deutlich besser an als das alte. Im Raum Halle goss es aus Eimern, kurz vorm Ziel hatten wir noch einen ziemlich heftigen Rückstau vor der Baustelle auf der A 71. An der Tankstelle die Zeitungen von gestern und heute, von der Nachbarin die Poste von vorgestern und gestern und das Leben ist wieder in den gewohnten Bahnen. Ich las in Berlin „Palästina-Reise 1934“ von Arthur Eloesser, nur 30 Seiten inklusive Nachwort, ein aufschlussreicher Reisebericht.
13. Juni 2020
Berlin ist immer für einen Tag mit 13.000 Schritten und mehr gut, gestern klappte es, heute wurden es nur knapp 11.000. Denn unsere Ziele steuerten wir mit dem Auto an, verzichteten auf öffentliche Verkehrsmittel. Die Kantstraße ist ein erweiterter Radweg, wo die Parkplätze auf der Mittelspur sich finden, während links die Radfahrer frei vor sich hin fahren dürfen, falls sie denn wollen. Es wollen kaum welche. Wir fuhren zum Wannsee, Halbinsel Schildhorn, der Nachwuchs stürzte mit und ohne Schwimmflügel ins Wasser, wir sahen das Jaczo-Denkmal oberhalb des Badeplatzes, das auf Friedrich Wilhelm IV. zurückgeht und damit gute Aussichten hat, einem der näher rückenden Bilderstürme zum Opfer zu fallen. Später sahen wir das Gutshaus Neukladow auf der anderen Seite des Sees. Man darf zwar keine Tische zusammenrücken, aber Stühle an einen Tisch stellen, so viele man braucht. Es gibt schlimmere Einschränkungen. Abendessen auf dem Walter-Benjamin Platz.
12. Juni 2020
Nach langer ICE-Phase heute erstmals wieder mit dem Auto nach Berlin. Unser Stamm-Hotel der letzten Jahre hat noch bis zum 30. Juni geschlossen, das, in das wir einrücken dürfen, schon seit dem 1. Juni geöffnet. Wir müssen bis zur 7. Etage nach oben fahren, dort finden wir die Rezeption, dann bis zur 4. Etage wieder herunter, dort finden wir unsere beiden Zimmer. Zimmerservice gibt es während des Aufenthaltes nicht, man kann über ein Bestellsystem Frühstück bestellen, worauf wir verzichten. Wir laufen zur Gervinusstraße, haben dann ein wenig Mühe, das Schild zu entdecken, auf dem Margarete-und-Arthur-Eloesser-Park steht. Schließlich finden wir es und wundern uns, warum wir es nicht gleich gefunden haben. Auch in Corona-Zeiten laufe ich zu Ambrosetti und trage neun Sorten von hinnen. Die Haupt- und Nebengeschenke zum gestrigen Geburtstag werden in froher Erwartung ausgepackt: ein Buch gab es gestern schon. Das kenne ich aus meiner Kindheit.