Tagebuch

20. Januar 2020

Die Frage, warum aus Frankreich uns derzeit in auffälliger Häufung Autoren und Autorinnen beglücken, deren Familienname mit E beginnt, entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Man darf sie dennoch stellen angesichts von Jean Echenoz, Mathias Enard, Annie Ernaux und, siehe gestern, Didier Eribon, womit nichts gegen Proust gesagt sein soll, der tot ist und auch nichts gegen die unfassbare fotogene Leila Slimani, die am 3. Oktober 39 Jahre alt wird, wenn wir hier alle mit der Sektflasche auf dem Balkon hüpfen wegen 30 Jahre Einheit. Slimani hat laut SPIEGEL über die Sexualität der Frauen in Marokko geschrieben, die sich vermutlich, ich kenne mich nicht aus, im Kern nicht grundsätzlich von der Sexualität auf der Osterinsel unterscheidet und wenn doch, hält sich mein Interesse daran in spaltengen Grenzen. Legt man Fotos von Annette Kolb neben die von Leila Slimani, ahnt man, wie Medienbetrieb läuft, falls man nicht schon vorher Ahnungen hatte.

19. Januar 2020

Drei Bücher einer Autorin in unmittelbarer Folge, das passiert mir nur noch selten, im vorigen Jahr klappte es einmal mit Volker Braun, einmal mit Hans Bender, beide erwiesenermaßen keine Autorinnen. Heute legte ich „Wera Njedin“ beiseite nach „Die Schaukel“ vorgestern. Und nebenher läuft René Schickele aus nahe liegenden Gründen, läuft Ludwig Meidner aus nicht ganz so nahe liegenden Gründen und Hermann Kesten, der immer laufen könnte, wenn die Welt nicht so organisiert wäre, dass 24 Stunden einen Tag bilden. Die Sonntagszeitung präsentiert mir heute ein schreibendes Skelett aus Dänemark: die Schriftstellerin Madame Nielsen. Wollen wir hoffen, dass die Anzeigenblätter im kommenden Jahr nicht melden müssen, dass Madame nach Anna und Helene auf Platz 3 der beliebtesten Vornamen für kleine dünne Mädchen gelandet ist. Außerdem hat die Sonntagszeitung Didier Eribon mit „Betrachtungen zur Schwulenfrage“ aus dem Jahr 1999.

18. Januar 2020

Mein lieber Schrittzähler, der bald seinen ersten Geburtstag feiern darf, zeigte mir gestern zu später Stunde die Zahl 11111, 11505 waren es am Donnerstag. Auf diesem Wege werde ich vielleicht nicht gleich 97 Jahre alt wie Annette Kolb oder fast 91 wie meine Mutter, aber immerhin, ich komme vorwärts und muss dazu nicht auf einem Fahrrad sitzen, welches mich über die Radwege meiner Heimat trägt. Gestern hätte ich pflichtschuldigst an Anne Brontë denken müssen, die unbekannteste der drei Schwestern, die nicht von Tschechow sind. Leider mangelt es mir an den elementarsten Kenntnissen über sie und ich besitze auch keine einzige Zeile von ihr. Weshalb ich also den 200. Geburtstag ignoriere. Heute wäre in schaumgebremster DDR-Nostalgie an Sigrid Bock zu denken, die Teile ihres Germanistinnenlebens auf Anna Seghers verwendete, doch auch hier fehlt mir zu viel Bock, ich habe dafür mehr Seghers. Und außerdem drängt besagte Annette sehr energisch.

17. Januar 2020

Wenn man als Mädchen von einem Autor missbraucht wird, ist es für die spätere literarische Vermarktung des Geschehens besser, diesen Autor einen Star-Autor zu nennen. So ergeht es derzeit einem Herrn namens Gabriel Matzneff in einem Buch von Vanessa Springora. Obwohl ich in meinem mittlerweile doch schon fast 67 Jahre währenden Leben buchstäblich tausenden von Autoren-Namen begegnet bin, hörte ich von diesem Star de France noch nie etwas. Vielleicht verhilft Frau Springora ihm oder seinen Erben ja zu etwas Umsatz, falls es Werke des Mannes gibt, von denen noch Druckplatten existieren. Was machen eigentlich die Frauen, die von einem unbekannten Redaktionsassistenten oder dem Aushilfsfotografen belästigt wurden? Bisweilen belästigt ein ungelernter Lagerist eine ungelernte Leergut-Sortiererin. Wer schreibt ihre Romane und liefert die Manuskripte vorab in die Redaktionen, die Empörung generieren müssen, wer nur?

16. Januar 2020

Im Duell Handball gegen Zürich-Krimi siegt der Handball. Im Duell Moral gegen Ethik siegt die Ethik. Jedenfalls im Bundestag. Selbst Bürger mit einem Doktortitel, denen man in früheren Jahren jedenfalls eine gewisse elementare Bildung wie selbstverständlich zuordnete, schwafeln am Pult von ethisch, wenn sie moralisch meinen. Ethisch klingt einfach besser, gehobener, das Säuerliche fehlt, weshalb es ja auch der Moraltheologie überlassen bleibt. Deren Vertreter früher, als die Mauer noch realiter und nicht nur in den Köpfen stand, immer an die Kamera gerufen wurden im zahmen Westen, wenn es Moralisches zu bereden gab, nie Ethiker. In den wahrlich nicht mit Höhenflügen zu verwechselnden Ethik-Vorlesungen und Ethik-Seminaren an der Humboldt-Universität zu Berlin, die ich genießen durfte bei Helga E. Hörz und Ursula Wilke, kannte man den Unterschied. Ich habe, mit Westmaßen gemessen, ein Ethik-Examen, weshalb ich mir anmaße, Stuss auch Stuss zu nennen.

15. Januar 2020

Drei kostenlose Anzeigenblätter, mittlerweile alle unter einem Dach, beglücken pro Woche meinen Briefkasten. Die Frage, ob jene vollkommen unbekannten Autoren, die alleweil mit ihren nur in ihren vollkommen unbekannten Verlagen oder bei ihnen zu Hause erhältlichen Büchern vorgestellt werden, für diese Vorstellung bezahlen müssen, stelle ich mir nicht mehr. Dafür stelle ich mir heute die Frage, ob einer, der das 642. DDR-Museum auf dem Territorium der ehemaligen DDR eröffnen will und dafür Exponate und Raum braucht, nicht wenigstens gefragt werden sollte, worin er sich denn von all den anderen unterscheiden möchte, die es alle paar Kilometer schon gibt. Das aber wäre Journalismus. Ich könnte dem Mann ein paar Exponate schenken, die er garantiert nicht hat in seiner Privatsammlung, warum aber sollte ich? Ich bin bis auf weiteres noch immer in der Berliner Ausstellung der „Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ präsent. Mit Foto.

14. Januar 2020

Es gibt Zeitungen, die ich gleich lese und solche, die ich auf einen Stapel lege, die neuesten immer nach unten. Auf diese Weise geschieht es, dass ich manchmal volle zwei Wochen später erfahre, was vor zwei Wochen die kleine Redaktionswelt des jeweiligen Blatts bewegte. Zum Jahreswechsel hatten alle in ihren Rückblicken Greta Thunberg und alle, die es wissen sollten, erfuhren, dass das Kind am 3. Januar 17 Jahre alt wird. Also inzwischen ist sie 17 und ich versuche mich zu erinnern, was für heiße Feger in meiner elften Klasse anno 1969/70 mit 17 noch Träume hatten. Ich notierte  mir das gleich in meinen ewigen Termin-Kalender, falls eines Tages falsche Altersangaben kreisen. Frauen sollen damit ja, Gender hin, Gender her, immer noch ihre alten Probleme haben. Die einzige emanzipatorische Entwicklung auf diesem Gebiet besteht darin, dass nunmehr auch Männer zickig werden. Meine verehrte Gattin verehrte mir heute nach Anprobe eine eigenhändig gestrickte Mütze.

13. Januar 2020

Würde ich derzeit ein Lektüre-Tagebuch führen, könnte ich ein gemischtes Programm notieren. Ein Pröbchen Annette Kolb, zwei Pröbchen René Schickele, dazwischen Armin Strohmeyr, einst Jahrgang 1966, jetzt nur noch promovierter Germanist. Bei Ludwig Meidner steckte mein Leserzeichen fast vier Jahre lang vor einem herrlichen Text mit dem verfehlten Titel „Verfehltes Liebesabenteuer“. Auch das gilt es zu akzeptieren: nicht jeder genialen Titel-Idee folgt ein guter Text, manch guter Text hat einen arg armseligen Titel abbekommen. Früher gab es Lektoren, das zu verhindern, heute sitzen die Headliner nicht ausgerechnet in Verlagen. Unser selbst in Ilmenau nicht weltberühmter Ilmenauer Friedrich Michael hat mehrere nette Texte über Annette Kolb hinterlassen, die nicht einmal in der Kolb-Biographik bekannt sind. Man könnte sich also fragen, wie die Jungs eigentlich arbeiten. Ich sitze im Glashaus: frage mich auch nicht, wie ich arbeite. Weil ich es weiß.

12. Januar 2020

Früher warnte der eine oder andere C1- bis C4-Professor vor dem Klimawandel. Einer, der eben noch vergeblich um Forschungsgelder für sein Projekt „Der Ameisenbläuling in der Südlausitz“ warb, definierte es flugs um in „Der Ameisenbläuling und der Klimawandel“ und wupp, kam die Stellenbewilligung für einen zusätzlichen Forschungsstudenten mit der Knete gleich mit. Nun sind leider inzwischen 99 Prozent aller Experten Klimawandel-Warner, man kommt also nicht einmal mehr in die Lokalsender am Bodensee mit seinen Warnungen. Deshalb müssen neue Warnfelder eröffnet werden. Das unabhängige Institut für Warnfelderforschung hat bereits erste Testwarner in den öffentlich-rechtlichen Spätprogramm-Bereich entsandt. Man warnt probehalber vor dem Ende der Evolution. Als ich die Ankündigung eines entsprechenden Warners hörte, wusste ich: viel fehlt nicht mehr. Wovor ich nun viel Angst haben soll, kann ich nicht sagen, ich sah den Professor nicht.

11. Januar 2020

Kaum ist die virtuelle Tinte des gestrigen Tagebucheintrags trocken, schon wäre als Ergänzung nachzutragen, dass ein blondiertes Kulturmädchen des MDR vor laufender Kamera von den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts spricht, also den Jahren vor 1933, wie sie sofort erläutert. Man müsste seine Gebühren zurückfordern oder das Mädchen solange Charleston tanzen lassen, bis es, wenn es von den „Roaring Twenties“ hört, sofort Brechdurchfall bekommt. Dann könnte sie gleich testen, wie gut das allabendlich empfohlene Reizdarmmittel wirklich ist. Vor 20 Jahren besuchte ich an einem einzigen elften Januar gleich zwei verschiedene Tiergärten. Erster war der „Dierenpark Wissel“, ich war an diesem Dienstag einziger Besucher und unternahm zwei komplette Rundgänge. Zweiter war „Burgers Zoo“ in Arnhem, überwältigend: echte Seekühe, echte Schlammspringer im Mangrove-Dschungel, eine Kapivara-Mutter mit drei Jungen, alles noch im uralten Jahrtausend!

10. Januar 2020

Georg Restle (Monitor) weiß zwar, wie wenige Reiche in Deutschland wie viel Vermögen besitzen, während im Gegenzug sehr viele Arme sehr wenig ihr Eigen nennen. Was er nicht weiß, ist, wann ein Jahrzehnt beginnt. Ein einfacher Nachholkurs „Unser Dezimalsystem und seine Konsequenzen für das Zählen im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk“ wäre vielleicht hilfreich. Schon nächstes Jahr um diese Zeit könnte der Mann, der, anders als ein gewisser Heiland, seine Feinde nicht liebt, erproben, ob er alles verstanden hat mit den 10, den 100 und den 1000. Ich selbst zum Beispiel sprach am 9. Januar 2010 während einer Jahresversammlung der Literarischen Gesellschaft Thüringen LGT mit Wulf Kirsten, der meinen Namen auf der Anwesenheitsliste gesehen hatte und ein Gespräch über meinen Namensvetter begann, den dichtenden Arzt aus Halle mit leider nur einem „l“ im Familiennamen. Niemand von uns glaubte da, ein neues Jahrzehnt habe begonnen.

9. Januar 2020

Die sieben bis dreizehn unverdrossenen Kurt-Tucholsky-Fanclubs mit und ohne Gemeinnützigkeit feiern seit den frühen Morgenstunden den 130. Geburtstag ihres Meisters. Währenddessen verlässt der Ilmenauer Weihnachtsbaum den Markt, was in der Bäckerei meines Vertrauens zu Äußerungen des Bedauerns führt. Es fügt sich, dass Kurt Tucholsky seinen Geburtstag genau zehn Tage nach dem 200. Fontanes hat, womit der Blick auf seine einschlägigen Hinterlassenschaften motiviert genug ist. Seinen 130. Geburtstag hat heute auch ein tschechischer Herr namens Karel Ĉapek, dem ich aus tiefer Verbundenheit und im Rückblick auf manche sehr schöne Lesestunde vor sechs Jahren einen kleinen Text widmete, der unter der Überschrift „Karel Ĉapek, ein Verschwender“ noch immer in meiner Rubrik JAHRESTAGE nachzulesen ist. Öffentlich zu bekennen und zu bedauern habe ich meine Ahnungslosigkeit im Felde schottischer Hochland-Hütehunde-Rassen.


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