Wolfgang Sämann: Das Mädchen aus dem Hochlandwind

Das vierte Buch von Wolfgang Sämann liegt nun vor. Neun Erzählungen sind es diesmal, drei davon waren schon vorab zu lesen. Es scheint, als lege sich der Autor endgültig auf diese Form fest, aber es kann natürlich auch ganz anders sein. Seit seinem ersten Schritt in die Öffentlichkeit sind immerhin fast zwanzig Jahre vergangen (die umfangreiche Erzählung „Glaswände“ füllte 100 Seiten der ersten Anthologie „Voranmeldung“ des Mitteldeutschen Verlages), zehn Jahre liegt der erste eigene Band „Der Anfang einer Reise“ zurück, seitdem ist Sämann dem Hinstorff-Verlag verbunden. Es gibt Autoren seines Jahrgangs (1940), die wesentlich mehr veröffentlicht haben – einer sage und schreibe 17 Bände – aber das besagt wenig. Nimmt man die Texte hinzu, die Sämann nicht oder noch nicht in seine Bücher aufgenommen hat, dann ist das dritte Dutzend noch nicht voll, Konturen aber zeigt der Autor deutlich genug. Sie präzise zu beschreiben, ist deshalb jedoch kein einfaches Unterfangen.

Ich habe Sämanns Texte, die neuen eingeschlossen, zuerst als Absagen und als Gegenentwürfe gelesen. Sämann wendet sich gegen eine bestimmte Art des Erzählens, gegen eine bestimmte Art des Erzählers, gegen eine bestimmte Art von Wirkungsstrategie. Bisweilen setzt er sich auch, spezieller, einem bestimmten Traditionsstrang entgegen (so las ich etwa „Unseld“ aus seinem dritten Buch „Der Lichtblick“ als spätes Gegenstück zur „Ankunftsliteratur“, die in der DDR-Literaturgeschichte ja keine geringe Rolle gespielt hat). „Im Tal der Männer“, schon vom Titel her das Abenteuerlich-Unterhaltende assoziierend, bietet auch wirklich fremde Landschaft, wilde Tiere, verschwindende Männer und eine ermordete Frau, auch ein Goldfund spielt eine Rolle – was aber tatsächlich erzählt wird, ist etwas ganz anderes. Und eben dieses ganz andere ist, eine Eigenschaft Sämanns, auf die er offenbar großen Wert legt, schlechterdings nicht eindeutig zu benennen.

Wir erfahren nicht, was da (im Jahre 1957) geschah: Entführungen, Abwerbungen, Republikfluchten? Wir erfahren nicht, ob da gar ein Grenzkonflikt seine Schatten vorauswarf. Wir erfahren es aber vor allem deshalb nicht, weil der Erzähler es selbst nicht weiß und auch dies ist eine Eigenart Sämans, die er von Anfang an kultivierte: den Horizont seiner Erzähler auf keinen Fall zu überschreiten. Jetzt hat er sogar die bewußte Verunsicherung des Lesers zum konstituierenden Bestandteil einer Geschichte gemacht: „Lohengrins Ende“ läßt es fast bis zum Schluß offen, ob der Erzähler männlichen oder weiblichen Geschlechts ist, das Spiel mit den Möglichkeiten gewinnt Eigenleben, ob nun zum Gewinn für den Leser, lasse ich gern offen. Erzähler, die das, was sie erzählen, nicht wirklich begreifen, die deshalb auch im nachhinein nicht in der Lage sind, Zufälligkeiten von sinntragenden Vorgängen zu scheiden, bieten ohne jeden Zweifel interessante Möglichkeiten, vor allem dann, wenn der Autor sie als ein Medium benutzt, um Fragen aufzuwerfen, auf die er selbst keine gültige, keine eindeutige Antwort hat.

Ein zentrales, wenn nicht das zentrale Problem in Sämanns Erzählungen ist das Verhältnis von Mensch und Arbeit, natürlich nicht ihn dieser Allgemeinheit aufgeworfen, sondern „behandelt“ an Figuren, die wiederum in erstaunlicher Gleichförmigkeit seine Texte bevölkern. Hier ist er sich in hohem Maße selbst treu geblieben. „Glaswände“ hob damals (1968) an wie die literarische Entfaltung der philosophischen Kategorie Entfremdung. Jener Wattrodt war der Prototyp Sämannscher Intelligenzangehöriger, die Tätigkeiten verrichten, mit denen sie sich nicht recht identifizieren können und/oder wollen, weil diesen Tätigkeiten ein Moment des Unfaßlichen, des Fremden anhaftete (nicht umsonst sind bei aller bisweilen fast manieristischen Detailgenauigkeit gerade die Tätigkeiten seiner Figuren im Vagen gehalten). Dem steht durchaus nicht entgegen, daß rein quantitativ die Arbeit im Leben vieler seiner Figuren absolut dominiert und deshalb, immer offengelassene, bewußt nicht mit Aussteigeridyllen aufgelöste Fragestellung bei Sämann, Partnerschaften als absolut gefährdet erscheinen.

Die Titelfigur der Erzählung „Berta Warnstedt“ spricht von einer neuen Krankheit in diesem Zusammenhang. Unter den Bedingungen nichtentfremdeter Arbeit gewinnt diese Problematik mit Sicherheit an Bedeutung: Verzichten fällt da am schwersten, wo volle Identifikation möglich geworden ist. Die Erzählung, aus der auch der Bandtitel entnommen ist, „Mongolenkind“, scheint mir eine der stärksten zu sein, die Sämann bisher geschrieben hat, das „Mädchen aus dem Hochlandwind“, eine junge Mongolin, fungiert sehr deutlich als Alternativfigur zu den „üblichen“ Männern und Frauen bei Sämann. Die Alternative ist keineswegs idyllisch, sondern – bedrohlich. Schließlich möchte ich auch meinen Lieblingstext in diesem Buch noch nennen: „Von Elsa“, er verrät über Sämann wohl mehr als alle anderen Texte, mir jedenfalls. Ausgerechnet die leblose Plastik „Die Passantin“ als Schlüsselfigur zu Sämannschem Erzählen: eine große Idee.
 Zuerst veröffentlicht in SONNTAG 2/1988, Seite 4, Überschrift: Das Mädchen aus dem Hochlandwind; nach dem Typoskript

Wenn mitten auf einem belebten Bürgersteig eine Plastik aufgestellt wird, in wohlbedachter Absicht nicht erhöht, dann ist das sicher schon ungewöhnlich. Wenn dann gar ebendiese Plastik eine „Passantin“ darstellt, schon aus geringer Entfernung gar nicht mehr unterscheidbar von den wirklichen Passanten, so daß – man höre – Kollisionen sich einstellen, dann können wir fast sicher sein: hier handelt es sich um eine Erfindung. Im neuen, dem vierten Buche von Wolfgang Sämann, ist mir das die nachhaltigste Erfindung gewesen. Der Text, in dem sie vorkommt, heißt „Von Elsa“, ist der kürzeste unter insgesamt neun Texten, drei von ihnen gab es schon vorab zu lesen, in „Sinn und Form“, in „Temperamente“.

Natürlich taucht im Text die Frage zum Kunstwerk „Passantin“ ausdrücklich auf: was habe denn eine solche mit unserem Leben zu tun? Nun ja: den einen erinnert sie an seine geschiedene Frau Elsa. Mich bringt sie auf den Gedanken, daß Sämann hier möglicherweise ein ganz vertracktes Symbol für seine Kunstauffassung gefunden hat: vom Leben nicht unterscheidbar – eine gewisse Perspektive vorausgesetzt. Kollisionen sind dann gar erwünscht, unvermeidbarer Schmerz heilsam? Schon in seinem ersten eigenen Buch „Der Anfang einer Reise“ (1977) gab es Dialoge, auch auf den dritten Blick noch erschreckend banal, sinnlos für den Außenstehenden, dessen Part der Leser übernehmen mußte.

Sämanns früh entdeckter Kunstgriff: auch seine bevorzugten Icherzähler sind solche Außenstehenden, Beobachter, aber – bewußt gesetzte Dialektik – zugleich als Beobachter Teilhaber: sie behaupten, daß Beteiligtsein Außenstehen keineswegs ausschließt und das wiederum antwortet auf eine ganze literaturpolitische Debatte. Die Lebenshähe Sämannscher Texte, auch dann, wenn sie in die Zukunft greifen, wenn sie Historisches vorführen, vor allem aber die in der Gegenwart angesiedelten, macht sie problematisch. Die bislang nicht eben rasante Einwirkung Sämanns auf das Leseland DDR ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, daß Verunsicherung keine bevorzugte Leseerwartung darstellt und Verunsicherung geht aus von vielen seiner Geschichten.

Wenn er auch jetzt einer Alternativfigur, das „Mongolenkind“ ist das „Mädchen aus dem Hochlandwind“, zu Titelehren verhilft, damit einen Akzent setzt, dann ist ja nicht anschließend alles klar. Im Gegenteil: „Dieser Wind hatte für mich etwas Bedrohliches.“, steht da. Nur keine Endeutigkeiten. Sämann bleibt Sämann. Das ist nicht wenig.
 Zuerst veröffentlicht in JUNGE WELT, Nr. 18, Seite 10, 22. Januar 1988, unter der
 Überschrift „Nur keine Eindeutigkeiten“, nach dem Typoskript

Es gibt Autoren, die gleich mit ihrem ersten Buch den Nerv eines breiten Leserkreises treffen und fortan gewissermaßen unter Erwartungsdruck stehen. Wolfgang Sämanns Debüt hat sich eher im Stillen vollzogen: seine umfangreiche Erzählung „Glaswände“ stand in der Anthologie „Voranmeldung“, die 1968 erschien. Jetzt hat der 1940 geborene Autor sein viertes Buch vorgelegt, wie die vorigen auch ist es ein Band mit Erzählungen, diesmal neun an der Zahl. Die längste Erzählung des Buches heißt „Die Frau in Grün“ und beginnt mit einem Mann, der das Leben eines Bahnhofs beobachtet, er ist auf der Suche nach einer Geschichte, die er auf ganz neue Weise erzählen will, episodisch. Diesen Antrieb, auf neue Weise zu erzählen, teilt er mit seinem Schöpfer Sämann, auch der möchte möglichst alle Spuren des Herkömmlichen tilgen in seinen Texten. Seinen Lesern macht er es dabei nicht selten schwer.

Auch das neue Buch enthält Texte, die viel aussparen und diese Enthaltung zugleich durch bisweilen minutiöse Beschreibungen überdecken. Die Erzählung „Lohengrins Ende“ die schon in „Sinn und Form“ zu lesen war, fordert den Leser dadurch heraus, daß sie fast bis zum Schluß offen läßt, ob ein weiblicher oder ein männlicher Erzähler spricht. Geschickt eingebaute Indizien deuten mal in die eine, mal in die andere Richtung. So bleibt zwar im Vagen, ob „Lohengrin“ sich in Luft auflöste oder in einem Zigeunerlager in ein anderes Leben gewandert ist, vorgefaßte Meinungen darüber, was eine Frau oder ein Mann in dieser oder jener Situation denken und tun, werden auf alle Fälle fragwürdig gemacht. Wolfgang Sämann hat bis 1986 mit dem Schritt ins Freiberufliche gewartet, seine vergleichsweise geringe Produktivität ist sicher von daher zu erklären. Ein klares Profil hat sich dennoch herausgebildet, vielleicht auch deswegen.

Viel besagt es nicht, wenn man feststellt, daß ihn das Zusammenleben der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft interessiert, welchen Schriftsteller interessiert das nicht – und dennoch liegt genau da eine bevorzugte Thematik des Erzählers. Arbeit kommt bei Wolfgang Sämann reichlich vor, seine Helden sind sogar oft Männer und Frauen, die weit über das Normale hinaus arbeiten, zugleich aber sind sie meist unzufrieden, ihr Tun befremdet sie und - besonders wichtig – sie wissen sich ihr privates Leben mit dem Partner nicht wirklich befriedigend einzurichten. „Das Mädchen aus dem Hochlandwind“, das dem Band den Titel gab, ist da eine bewußt als Alternative angelegte Figur („Mongolenkind“). Doch liefert auch sie keine Botschaft, die schwarz auf weiß nach Haus zu tragen ist. Sämann will einen sehr aufmerksamen Leser, der ihm entgegen denkt. Den verdient er.
 Bisher unveröffentlicht, Typoskript vom 21. Oktober 1987 für FREIES WORT


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